29.06.2018. In der FR macht Seyla Benhabib auf die Generationenkluft in der Flüchtlingsdebatte aufmerksam. Die New York Times bringt ein großes Dossier über die Frauen, die die #MeToo-Affäre ins Rollen brachten und heute über ihre Erfahrung sprechen. In Zeit online zieht Sabine Andresen, die Kindesmissbrauch in den Kirchen untersucht hat, bittere Bilanz. Ebenfalls in Zeit online erklären zwei polnische Politologen, wie sie Nationalismus und Offenheit verbinden wollen.
Europa, 29.06.2018
Die Polen wollen keinen Multikulturalismus - und dennoch sind sie Europas größte "EU-Enthusiasten",
schreiben die konservativen polnischen Politologen
Marcin Kedzierski und
Michal Kuz auf
Zeit Online und ärgern sich über die Arroganz und den
Chauvinismus des Westens, der die
polnische Vision der EU nicht teilen will: "Für uns sind drei Werte zentral für ein geeintes, gleichberechtigtes Europa: Offenheit, Vielfalt und transatlantische Partnerschaft. Der Unterschied zum Westen ist derjenige, dass Polen diese drei Grundsteine auf dem Fundament eines noch viel wichtigeren Wertes ruhen sieht: auf dem Prinzip der
Nationalstaatlichkeit. Den liberalen Politikern innerhalb der EU sollte unser
Nationalstolz allerdings keine Angst machen. Die Deutschen müssen verstehen, dass Polen um seine Unabhängigkeit Hunderte Jahre gekämpft hat. Es wäre also töricht, nach gerade mal drei Jahrzehnten von Polen zu verlangen, seine Nationalstaatlichkeit aufzugeben und seine Rechte an ein föderales Europa zu übertragen, das aus 500 Millionen Menschen und 27 Provinzen besteht."
Es ist höchste Zeit, das
europäische Projekt zu vollenden - mit einem Markt, einer Währung und einer Demokratie, meint im
Dlf-Kultur-
Interview mit Dieter Kassel die Politologin
Ulrike Guérot: "Wir brauchen
ein ganz anderes Europa, ganz andere Grundlagen, andere parlamentarische Demokratie. Dann geht es auch nicht mehr um Mitgliedsstaaten oder um bilaterale Formate oder um Deutschland und Frankreich."
Die
Flüchtlingsdebatte ist eine symbolische,
meint im
FR-Gespräch mit Susanne Lenz die Politologin
Seyla Benhabib - nicht einmal
ein Prozent Flüchtlinge gebe es in Europa. Die dennoch grassierende
Angst vor Identitätsverlust erklärt sie als "Konsequenz der Schaffung der Europäischen Union. Nationale
Identitäten verflüssigen sich. Für die jüngere Generation ist das kein Problem. Das hat man beim Brexit gesehen. Die Diskrepanz zwischen dem Abstimmungsverhalten der Generationen war riesig. Die ältere Generation will ihre Souveränität nicht verlieren, vor allem nicht
an die Deutschen. Die älteren Briten haben dafür gekämpft, eine souveräne Nation zu bleiben. Jungen Londonern dagegen ist das so was von egal."
"Von den weltweit
66 Millionen Heimatvertriebenen haben 86 Prozent im Süden des Globus statt im wohlhabenden Norden Zuflucht gefunden: Dennoch jammert südlich des Äquators kaum einer über die 'Last'",
schreibt Johannes Dieterich in der
FR und fügt hinzu,
Afrikas Regierungschefs seien "gar nicht so unglücklich darüber, dass Teile ihrer Bevölkerung das Weite suchen. Das reduziert den Druck auf den Arbeitsmarkt, dämpft die Unzufriedenheit und bringt willkommene Devisen ein - Staaten wie Eritrea oder Somalia würden ohne die Remissionen gar nicht überleben können. In dieser Wertschätzung der Migration sind Afrikas Staatschefs aber ziemlich allein: Wenn die Bevölkerung wählen könnte, ob sie sich lieber zu Hause oder - unter Einsatz ihres Lebens - auswärts verdingen sollte, würde sie zweifellos die Heimat vorziehen."
Außerdem: In der
SZ analysiert Stefan Braun Mythen und Fehler in der
Flüchtlingskrise.
Politik, 29.06.2018
Amir Hassan Cheheltan schildert in der FAZ die Zustände im Iran nach Amerikas Ausstieg aus dem Atomabkommen: "Während die wirtschaftliche Not wächst, schränkt die Regierung unvermindert bürgerliche Freiheiten ein. Umweltaktivisten sitzen nach wie vor in Haft, die Mitglieder des Schriftstellerverbands sind von den Feiern zu dessen fünfzigjährigem Bestehen ausgeschlossen, und indem das soziale Netzwerk Telegram gefiltert wird, verwehrt man den Nutzern auch den Zugang zu Facebook und Twitter."
Religion, 29.06.2018
Helge Brunswig hat für
hpd.de Sachkunde- und Religionslehrpläne von Grundschulen
studiert und das
Wort "
Schöpfung" dreißigmal und das
Wort "
Evolution" zweimal gefunden: "In Bayern, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Niedersachsen wird der biblische Schöpfungsmythos Grundschülern
alternativlos vermittelt. Dass das Land Bayern lieber einen Schwerpunkt 'Heimat' im Sachkundelehrplan setzt, als grundsätzliche Fragen zur Humanevolution zu klären, verwundert nicht wirklich. Ein bayerischer Schüler kann zwar am Ende der 4. Klasse heimische Obst- und Gemüsesorten nennen, '[nimmt] schuldhaftes Verhalten wahr' und weiß, dass im 'christlichen Glauben (...)
Natur als Schöpfung Gottes verstanden [wird]'. Woher der Mensch und das Leben wirklich stammen, lernt er jedoch frühestens erst ab der 8. Klasse."
Im
Zeit-Online-
Interview mit Evelyn Finger zieht die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs in Kirchen, Sabine Andresen, mit Blick auf die Ergebnisse eine
bittere Bilanz: "Bis heute gibt es den Reflex, dass Funktionsträger in der Kirche ihre Institution und ihren Arbeitskontext schützen, statt die Betroffenen zu unterstützen. Es gibt in den Kirchen immer noch ein
Überlegenheitsgefühl, das das Eingestehen von Fehlern verhindert. Im Rückblick auf die Fünfziger- und Sechzigerjahre zeigt sich außerdem, dass die
Gewalt in der Heimerziehung auch darauf beruhte, dass man bestimmte Kinder als
zweitklassig ansah. Kinder von Alleinerziehenden, Kinder von Arbeitslosen, Kinder von Alkoholikern wurden nicht würdevoll behandelt." In Frankreich macht inzwischen ein
Video die Runde, das zeigt, wie ein Priester ein während der Taufe
schreiendes Kind ohrfeigt,
mehr dazu bei
huffpo.fr.
Medien, 29.06.2018
Die
Namen der beiden Halbbrüder, die den Schauspieler
Walter Sedlmayr ermordet hatten, dürfen weiterhin genannt werden, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Die beiden hatten ein "Recht auf Vergessen" erklagen wollen,
berichtet Christian Rath in der
taz. Das Straßburger Gericht habe wie die deutschen Vorinstanzen entschieden: "Die
Pressefreiheit wäre gefährdet, wenn Medien ihre Archive immer wieder daraufhin kontrollieren müssten, ob
einst zulässige Namensnennungen inzwischen Persönlichkeitsrechte verletzen. Dies könnte dazu führen, dass Medien ganz auf Online-Archive verzichten oder dass sie sich in der Berichterstattung gleich so beschränken, dass eine spätere Anonymisierung nicht erforderlich ist." Interessant ist übrigens, dass keines der heute berichtenden Medien die Namen nennt.
Geschichte, 29.06.2018
Die
Rolle Großbritanniens während der
Blockade Berlins durch die Sowjets im Sommer 1948 ist in der Forschung bislang unterschätzt worden,
meint der Historiker
Victor Mauer in der
NZZ und erinnert daran, dass die britische Regierung im Gegensatz zu ihren Partnern den
Staatsaufbau in Deutschland zu keinem Zeitpunkt in Frage stellte. Aber "London plante mit Ressourcen, über die es gar nicht oder nur teilweise verfügte. Monatelang war nicht klar, ob die US-Regierung nicht doch noch ausscheren würde. Nicht zuletzt deshalb gab es vor allem unter den Militärs erhebliche Bedenken gegen den eingeschlagenen Kurs. Schließlich ging es außer um die Frage von Krieg und Frieden auch um die Frage der
Fähigkeit zur Kriegsführung."
Gesellschaft, 29.06.2018
Die
New York Times publiziert ein
wunderschön gestaltetes Dossier über all jene Frauen, im letzten Herbst die #
MeToo-Bewegung starteten und ihre heutigen Gedanken.
Drew Dixon, die ihre Vergewaltigung durch den Rap-Produzenten
Russell Simmons öffentlich machte, schreibt: "Es ist schwer für eine schwarze Frau, einen mächtigen schwarzen Mann anzuklagen, denn wir haben keinen Überfluss an Helden. Wir kämpfen immer noch diesen Kampf gegen den Mythos des gewalttätigen schwarzen Manns. Man will nicht auch noch dazu beitragen. Für eine schwarze Frau ist es also kompliziert - soll man es
zum Wohle des Teams ertragen? Das habe ich 22 Jahre lang getan."
Die Erfahrung der
Ex-DDR-Bürger ähnele irgendwie der Erfahrung von Migranten hatte die Migrationsforscherin
Naika Foroutan in der
taz gesagt (unser
Resümee) und damit in der Zeitung eine kleine Debatte ausgelöst. Nelli Tügel, in Leipzig geborene Tochter eines Türken und einer Ostdeutschen, kann nur halb zustimmen und
macht einen Einwand: "Wer als Migrant im Osten gelandet ist, weiß ebenso gut, dass Foroutans Analogie Grenzen hat. Die sind spätestens erreicht, wenn es
um Rassismus geht. Dass ihnen im Westen mit Skepsis begegnet wurde, erfuhren fast alle, die aus der DDR kamen. Doch mit der
Todesangst der Pogromzeit mussten dann eben doch nur einige leben. Im Lichtenhagener Sonnenblumenhaus waren es als Vertragsarbeiter in die DDR
eingewanderte Vietnamesen, denen die Brandsätze galten und es waren einige derer, die nun zur neuen 'Migrantengruppe' erhoben werden, die sie warfen."
Weitere Artikel: Unsere
Wahrnehmung von Armut und Obdachlosigkeit ist heute geprägt von "franziskanischen Impulsen, sozialdemokratischen Lösungsrezepten" und Selbstbetrug,
schreibt Hans Ulrich Gumbrecht in der
NZZ - und erklärt, dass Armut historisch auch als "
existentielle Option" verstanden wurde.