9punkt - Die Debattenrundschau

Die Hysterie gestreift

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.06.2018. Mit dem EU-Flüchtlingsgipfel haben die Populisten gesiegt, meint die FR: Alle tun so, als wären unsere Probleme gelöst, wenn es nur die Fremden nicht gäbe. Die Reaktionen auf den Gipfel sind aber zwiespältig. Und in der New York Times verteidigt Wolf Biermann die Kanzlerin. Je moderner die Gesellschaften, desto weniger ist die Präsenz des Todes auszuhalten, schreibt Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ. Politiker von CDU, CSU, SPD und FDP rufen ihre EU-Kolleginnen in einem offenen Brief  auf, gegen die EU-Urheberrechtsreform zu stimmen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.06.2018 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt: Reaktionen auf den europäischen Flüchtlingsgipfel

Nur in einem sind sich die europäischen Länder nach dem Flüchtlingsgipfel einig: Man will sich stärker gegen Flüchtlinge abschotten, mit Grenzüberwachung und Abschiebelagern, die wenig beschönigend "Auffangzentren" heißen sollen. "Europa orbanisiert sich", schreibt Markus Becker in Spiegel online. Der Rest ist unklar: "Im Gipfel-Kommuniqué sind keine Anreize für die Aufnahme von Migranten und Asylbewerbern vorgesehen - und erst recht keine Strafen. Welcher EU-Staat unter diesen Bedingungen bereit sein soll, bei sich Auffangzentren aufzubauen, bleibt rätselhaft. Eine entsprechende Frage ließ Kanzlerin Merkel nach dem Gipfel unbeantwortet."

"Das Tempo, in dem sich das gesellschaftliche Klima verändert, ist atemberaubend", kommentiert Bettina Gaus in der taz: "Keine deutsche Bundestagspartei wehrt sich nämlich prinzipiell gegen die Aufweichung humanitärer Grundsätze. Glückwunsch an die AfD. Der es gelungen ist, mit schlappen 12,6 Prozent bei der letzten Bundestagswahl den Eindruck zu erwecken, sie vertrete 'das Volk'. Also, mich vertritt sie nicht." Die Beschlüsse im einzelnen erläutert in der taz Christian Rath.

Gerald Knaus und John Dalhuisen von politico.eu sehen die EU dagegen nach dem Gipfel auf dem Weg zu einer humaneren Flüchtlingspolitik. Auch dass man Ungarn und Polen in Ruhe lässt, finden sie richtig: "Die Konzentration auf die freiwillige Zusammenarbeit zwischen willigen Staaten statt auf verbindliche neue Regeln ist nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern der richtige Weg."

Angela Merkel habe 2015 einen Fehler gemacht, schreibt Wolf Biermann in einem Essay für die New York Times, aber den "richtigen" Fehler in einem tragischen Dilemma. Heute stehe sie für eine Politik "humaner Rationalität": "Die Attacken gegen Merkel nach der Öffnung der Grenze 2015 haben die Hysterie gestreift. Populisten fischen in diesen trüben Gewässern. Zugleich ist es wichtig daran zu erinnern, dass die Parteien, die Merkels Flüchtlingspolitik unterstützen, von einer großen Mehrheit der Deutschen gewählt wurden."

Für Stephan Hebel in der FR haben dagegen ganz klar die Populisten gesiegt: "Deren Kampfparole, alles wäre gut, wenn nur die Fremden wegbleiben, steht weitgehend unwidersprochen im Zentrum der Debatte. Mit welcher Politik man gegen Fluchtursachen wirkungsvoll vorgehen könnte, die der Westen zum großen Teil selbst geschaffen hat? Ein Randthema."
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Ideen

Je zivilisierter unsere Gesellschaften, desto verstörender das "Andere", schreibt Hans Ulrich Gumbrecht in der NZZ über den Umgang moderner Gesellschaften mit Bettlern und Gestrandeten und letztlich der unangenehmen Perspektive des eigenen Todes: Es "fehlen uns - mehr denn je vielleicht - soziale Formen, um in der realen Präsenz dessen leben zu können, was uns heute als bedrohliches Anderssein beunruhigt: in der realen Präsenz von Armut, von Krankheiten ohne verfügbare Therapie - und in der realen Präsenz des Todes als physischen Ereignisses."

Viel zu wenig wahrgenommen wird in Europa das globale Ausgreifen Chinas, warnt Mark Siemons in der FAZ und fordert eine viel intensivere Auseinandersetzung auch mit den Ideen des Landes von sich selbst und der Welt: "Auch unabhängig von der gegenwärtigen kommunistischen Führung vollzieht sich die chinesische Art von Globalisierung .. in einem Erwartungshorizont, der sich von dem der westlichen Staaten deutlich unterscheidet. Wenn man universelle, zuerst in Europa geprägte Prinzipien - konkret: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit - auch in der Zukunft sichern will, muss man diesen Horizont ernst nehmen."

Außerdem: Die AfD berät an diesem Wochenende, nach welcher historischen Gestalt sie ihre Parteistiftung, die mit Millionen Euro aus der Staatskasse rechnen darf, benennen will. In der FAZ nehmen der Historiker Andreas Wirsching Gustav Stresemann und die Erasmus-Forscherin Nicolette Mout Erasmus von Rotterdam vor möglichen Ansinnen der Partei in dieser Richtung in Schutz.
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Überwachung

Die Süddeutsche veröffentlicht ein großes Interview mit Edward Snowden, in dem er sich auch vorsichtig kritisch zu Russland äußert. Auf die Frage, ob dies ein Risiko für ihn sei, antwortet er: "Ja, keine Frage, es ist ein Risiko. Vielleicht kümmert es sie auch nicht. Denn ich spreche nicht russisch. Ich bin ein ehemaliger CIA-Agent, also ist es leicht für sie, meine Meinungen als die eines CIA-Agenten in Russland zu diskreditieren."
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Medien

In der taz schildert Anne Haeming die Schwierigkeiten der Medien beim Umgang mit der AfD. In der FAZ informiert Jürg Altwegg über die Neufassung des Auftrags öffentlich-rechtlicher Sender in der Schweiz nach dem glücklich überstandenen Referendum in der Frage.
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Geschichte

So einen wie Fritz Bauer, der dezidiert auf dem Rechtsstaat bestand, hätte die AfD vielleicht mehr gehasst als die von ihr so gern verlachten 68er, schreibt Jan Feddersen in der taz aus Anlass von Bauers fünfzigstem Todestag: "Denn diese, die Völkischen, wären mit einem wie Dutschke, der von nationaler Wiedervereinigung mehr träumte als von Liberalisierung der Verhältnisse, womöglich eher einverstanden gewesen. Einem wie Fritz Bauer, würden sie ihn kennen oder hätten ihn gekannt, wäre ihr Hass gewiss gewesen. Denn alles, wofür er stand, wofür er kämpfte, fand durchweg die Kritik jener, die unter den Nazis groß wurden oder schon während der Weimarer Republik zu den Nationalkonservativen, den Autoritären, den Zuchtmeistern von Sitte und Anstand zählten."

Heinrich Schmitz wirft bei den Kolumnisten nach der Lektüre von Gretchen Dutschkes Memoiren einen milderen Blick auf Dutschke: "Die 68er Bewegung mag in manche Sackgasse und auf manchen Irrwegen gelaufen sein, aber ohne sie wäre vieles ganz anders als es heute (noch) ist. "
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Internet

Ein ziemlich erstaunlicher Vorgang. Politiker der CDU, CSU, SPD und FDP, darunter die regierungsverantwortliche Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung bei der Bundeskanzlerin, rufen ihre EU-Kollegen in einem offenen Brief auf, nicht für die EU-Urheberrechtsreform zu stimmen - die zum Teil von Politikern der selben Parteien erarbeitet wurde: "Der Schutz des Urheberrechts und eine angemessene Beteiligung von Journalistinnen und Journalisten an Erträgen im Internet sind selbstverständlich auch für uns wichtige Anliegen. Doch die von der EU-Kommission erarbeiteten und im Rechtsausschuss verabschiedeten Instrumente werden diese Ziele nicht nur verfehlen, sondern zudem enorme Kollateralschäden mit sich bringen, vor denen wir nachdrücklich warnen. Mit der Einführung von Upload-Filtern wird ein Instrument etabliert, das in hohem Maße gefährdend für die freie Meinungsäußerung ist." Hendrik Wieduwilt aus der Wirtschaftsredaktion der FAZ spricht in einem Hintergrundartikel von "Eklat".

"Die Bibliotheken sind noch nicht im Netz angekommen", schreibt Arne Cypionka auf Netzpolitik und legt dann einerseits die Vorteile, andererseits die Tücken der "Onleihe" dar. Man darf zwar mit einem Ausweis öffentlicher Bibliotheken in Deutschland vieles lesen, hören und gucken, muss sich aber mit der digitalen Rechteverwaltung von Adobe herumschlagen und hat einen entscheidenden Nachteil, der die Vorteile der Digitalisierung gleich wieder annulliert: "Als Grund für den restriktiven Umgang mit den digitalen Büchern verweisen die Onleihe-Betreiber auf die rechtlichen Gegebenheiten. Im November 2016 bestätigte der Europäische Gerichtshof die Praxis, dass mit eBooks genau wie mit physischen Büchern umzugehen sei. Es gelte das Prinzip, dass jede Ausgabe nur einmal verliehen werden darf. Die Onleihe nimmt damit die größte Schwäche der herkömmlichen Bibliothek ins Netz mit. Wer gern aktuelle Bestseller liest, verbringt auch bei der Internet-Ausleihe gern Wochen auf der eBook-Warteliste."
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