9punkt - Die Debattenrundschau

Körperlich unzweifelhaft bereits da

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2018. Während sich die Welt mit der Fußball-WM amüsiert, stirbt der zu Unrecht verurteilte Filmregisseur Oleg Senzow den Hungertod, empört sich Serhij Zhadan in der NZZ. Die FAZ führt den Streit um den Integrationswillen der türkischen Gastarbeiter weiter. Die FAS verteidigt in ihrer Eigenschaft als "Kreative" die EU-Urheberrechtsreform, Zeit Online warnt, dass sie durchaus noch realisiert werden kann. In Libération lobt Alain Minc den Bonapartismus des Emmanuel Macron.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.07.2018 finden Sie hier

Ideen

In einem sibirischen Lager stirbt der zu Unrecht verurteilte Filmregisseur Oleg Senzow den Hungertod. Und die Welt? Guckt Fußball, als ginge sie das nichts an, als sei Krieg halt so. Aber das stimmt nicht, schreibt der ukrainische Dichter Serhij Zhadan in der NZZ: Oleg Senzow "ist es, der den Menschen plötzlich wieder in Erinnerung ruft, dass der Krieg weder Stabskarten noch Einflusssphären, sondern dass der Krieg immer die Menschen sind. Sie kommen um, kämpfen, legen Zeugnis ab, klagen an. Gerade jetzt in diesem Moment, in diesem Augenblick, wenn jeder von uns mit seinen - zweifellos wichtigen - Dingen beschäftigt ist, geht die Chronik des Sterbens, die Chronik des verzweifelten Widerstands weiter, eine Chronik, die in die Geschichte eingehen wird. Ob sich jemand mit dieser Geschichte identifiziert oder sich davon distanziert, ist die Entscheidung jedes Einzelnen."
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Europa

Rechtsanwalt Heinrich Schmitz findet bei den Kolumnisten einfache Worte, um zu erklären, was mit "Fiktion der Nichteinreise" juristisch genau gemeint ist: "So wie kleine Kinder denken, es würde niemand sie sehen und als wäre niemand anders mehr da, wenn sie die Hände vor die Augen halten, so möchte man das auch mit dem Einreisewilligen tun. Er soll - obwohl er körperlich unzweifelhaft bereits da ist - fiktiv verschwinden, bis man ihn dann offiziell in das Land reinlässt oder auch nicht."

Claus Leggewie reist für die FR durch Polen und findet ein Land so zerstritten zwischen kosmopolitischen Städtern und ethnozentrischen Traditionalisten, wie heute die meisten westlichen Länder: "Den Ort Miastko, den Maciej Gdula untersucht hat, wird man auf der polnischen Landkarte vergeblich suchen. Den Namen gab der Warschauer Soziologe einer anonymen Kleinstadt, in der er Angehörige der Unter- und Mittelklasse nach den Gründen für ihre PiS-Unterstützung fragte und, außer im Blick auf (muslimische) Flüchtlinge, wenig ideologischen Furor fand. Den Ausschlag für den 'neuen Autoritarismus' habe nicht ein nach rechts verrutschter Klassenkampf im Transformationsprozess abgehängter Schichten gegeben, auch keine besondere Hörigkeit gegenüber Klerus und Radio Marija, sondern die schlichte Sehnsucht nach Anerkennung durch eine volksnähere Regierung."

Der Publizist und Historiker Alain Minc stimmt dem Vorwurf des Libération-Interviewers Laurent Joffrin, dass Emmanuel Macron sich wie ein Bonapartist aufführe, zu, aber mit einem aber: "Ja. Aber so machen wir Reformen in Frankreich. Napoleon III. hatte auf diese Weise den freien Handel, De Gaulle den gemeinsamen Markt, Mitterrand die EU-Erweiterung und den Euro durchgesetzt."
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Medien

Der Medienforscher Leonhard Dobusch, Mitglied im Fernsehrat des ZDF (worüber er bei Netzpolitik eine Kolumne schreibt) erklärt im Interview mit Philipp Bovermann bei sueddeutsche.de, warum er eine Art öffentlich-rechtliches Youtube will, in das einerseits alle Mediatheken eingehen, aber auch Nutzer Inhalte hochladen können - die anders, als er es Youtube vorwirft, nicht nach Sensationswert gelistet würden: "Wie würde dagegen ein öffentlich-rechtlicher Algorithmus die Inhalte sortieren, um eine demokratische, auf dem Prinzip der Vielfalt beruhende Öffentlichkeit zu gestalten? Dieser Frage könnte sich eine 'Internet-Intendanz' widmen." 500 Millionen Euro soll das kosten, so Dobusch, wobei "drei Viertel dieser Mittel ausgeschüttet werden an gemeinnützige Medieninnovation und an Produzenten von öffentlich-rechtlichen Inhalten aus dem Netz. Zum Beispiel, um hochwertige Blogs zu fördern oder Podcasts, die das Angebot des Deutschlandfunks im Netz ergänzen würden."

Teresa Sickert von Dlf Kultur lässt sich von dem amerikanischen Journalismusprofessor Jay Rosen im Interview bestätigen, wie wichtig und brillant die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland sind: "Wenn jetzt in Deutschland, Österreich, Großbritannien oder Australien bestimmte Parteien ihre Pläne durchsetzen können, wird der öffentliche Rundfunk auch hier geschwächt werden. Dann kann man herausfinden, ob die deutsche Demokratie stark genug ist, diesen Attacken zu widerstehen."
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Gesellschaft

Ab und zu muss mal einer die Wahrheit über Radfahrer sagen, wie jetzt Lars Weisbrod bei Zeit online: "Der Radfahrer kann sich eben nicht freistrampeln von den sozioökonomischen Machtverhältnissen, in denen er fährt. Er schimpft auf den Paketdienstfahrer, der ihm den Fahrradstreifen zuparkt, obwohl er weiß um die unerreichbaren Ziel- und Zeitvorgaben der prekär beschäftigten Zusteller, denen es um jede Sekunde geht und um jeden Euro. Dem Radfahrer hingegen geht es um 'Lebensqualität pur', um Fitness und um das Umweltbewusstsein der Glücklichen, die sich eines leisten können." (Ein Debatte über Radfahrer gibts auch in der Berliner Zeitung: Peter Neumann wirft den Kritiker "Hass" auf Radfahrer und Sehnsucht nach der schönen alten Autowelt vor, Klaus Kronsbein wünschte sich schlicht, Radfahrer würden sich an die Verkehrsregeln halten, wie alle anderen auch.)

Die CDU-Politikerin Serap Güler hat neulich in der FAZ auf eine Äußerung Joachim Gaucks über mangelnde Deutschkenntnisse der ersten Generationd er Deutschtürken mit dem Hinweis auf mangelnde Integrationswilligeit der deutschen Seite geantwortet (unser Resümee). Ihr antwortet wiederum die Autorin und Schauspielerin Sema zu Sayn-Wittgenstein, Kind türkischer Gastarbeiter: "Viele der ersten Generation haben, als Gegenleistung für ihre harte Arbeit, ihre weiteren Verwandten in ihrem Heimatland versorgen können. Zusätzlich sicherten Investitionen, Immobilien, türkische Rentenanlagen und vieles mehr weiterhin die totale Anbindung an das Heimatland. Fast alle, die eine deutsche Staatsbürgerschaft bekamen, führten unter der Hand und ohne Einwilligung der deutschen Regierung ihren türkischen Pass weiter. Die türkischen Konsulate forcierten das, jeder, der, wie ich, nach Einbürgerung den türkischen Pass zurückgab, wurde als Landesverräter beschimpft."

Außerdem: Zum heutigen "Weltbevölkerungstag" gibt der Wirtschaftsteil der FAZ Thilo Sarrazin das Wort, der einen ungeheuren demografischen Migrationsdruck aus Afrika auf das arme und geschwächte Europa voraussagt.
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Internet

Die FAZ hat so gut wie gar nicht über den Streit um die EU-Urheberrechtsreform berichtet. Nachdem das Projekt im EU-Parlament vorerst durchgerasselt ist, tischt nun Christoph Schäfer im Wirtschaftsteil der FAS die fromme Legende auf, dass die Verwerterindustrien identisch seien mit den "Kreativen": "Es geht darum, dass die Urheber mehr Geld für ihre oft teuer erstellten Inhalte erhalten. Während große amerikanische Digitalkonzerne wie Google und Facebook zig Milliarden Dollar verdienen, geht es vielen Buchverlagen, Zeitungshäusern, Musikern und anderen Kreativen bedeutend schlechter. Es wäre gerecht, wenn sie durch die Reform einen größeren Teil der exorbitanten Gewinne der Internetriesen erhalten."

Auf Zeit online warnt Lisa Hegemann die Gegner der Reform: "Noch gibt es aber keinen Grund zum Feiern. Die EU-Urheberrechtsreform ist nur verschoben worden - sie kann immer noch in der Form kommen, in der sie entworfen wurde. Nun können die Fraktionen im EU-Parlament Änderungsvorschläge einbringen, mutmaßlich ab September wird über diese diskutiert werden. Sie könnten den bestehenden Entwurf abmildern, aber auch verschlimmbessern. Die Diskussion ist jetzt erst mal nur neu eröffnet. Bei aller Kritik an dem derzeitigen Entwurf darf man nicht vergessen, dass eine Reform des EU-Urheberrechts überfällig ist."
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