9punkt - Die Debattenrundschau

Gäbe es ein Strafrecht für Behörden

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.07.2018. Nach dem Prozess gegen Beate Zschäpe stellen sich die selben beschämenden Fragen wie davor: Wie kann es sein, dass die Polizei (wie übrigens auch die Medien) nicht rechtsextreme TäterInnen in Betracht zog? Fatma Aydemir stellt sie in der taz. Heribert Prantl fordert in der SZ eine Auflösung des Verfassungsschutzes. Der "Social Credit Score" à la chinoise ist nicht ein chinesisches Problem, sondern ein digitales, meint Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.07.2018 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt: Reaktionen auf das Urteil gegen Beate Zschäpe

Gestern wurde Beate Zschäpe vom Oberlandesgericht München wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Feuilletons debattieren nicht über NSU und das Urteil. Wir suchen, wie so oft, anderswo nach interessanten Reflexionen.

Acht der Opfer des NSU trugen türkische Namen, eines einen griechischen, eines einen deutschen. Fatma Aydemir stellt in der taz einen Tag nach dem Urteil gegen Beate Zschäpe die Fragen, die bis heute Scham auslösen: "Wie kann es sein, dass bei solch einer Namensliste die Behörden all die Jahre nicht auf die Idee kamen, im rechten Milieu zu ermitteln? Wieso gingen die Ermittlungen streng in Richtung des eigenen Umfelds und ins Drogenmilieu? Rassismus ist ein Problem, das sich immerzu reproduziert, indem es unsichtbar gemacht wird." Konrad Litschko und Andreas Speit berichten in der taz vom Tag der Urteilsverkündung.

Durch die mangelnde Kooperation Zschäpes bleibt - wie bei vielen RAF-Morden - über den Hergang der Taten eine Menge unklar. Stefan Aust geht im Gespräch mit Cicero davon aus, dass die drei NSU-Protagonisten nicht allein agiert haben: "Man darf nicht von drei Tätern reden. Wie gesagt, Frau Zschäpe ist an keinem Tatort gewesen. Und die Beweise dafür, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos an den Tatorten waren, sind auch nicht besonders stark. Mir hat mal einer der Ermittler gesagt, wenn die beiden Uwes noch am Leben wären, wäre es gar nicht so einfach, ihnen nachzuweisen, dass sie in jedem Fall am Tatort gewesen sein sollen. Es gibt zum Beispiel keine DNA-Spuren - bis auf den Fall des Mordes an der Polizistin Michèle Kiesewetter."

"Ein Gericht ist ein Gericht, keine Wahrheitskommission für Zeitgeschichte", schreibt hingegen Heribert Prantl in der SZ und ist einverstanden mit dem Urteil. Konsequenzen hätte er sich allerdings für den Verfassungsschutz gewünscht: "Gäbe es ein Strafrecht für Behörden - dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe: seine Auflösung. Das wäre ein Paukenschlag: 'Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. 1. Der Verfassungsschutz wird aufgelöst. 2. Es wird seine Neuorganisation bis zum 31. 12. 2019 angeordnet.' Aber so etwas anzuordnen, lag nicht in der Kompetenz des Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts. Es wäre dies die Pflicht der Bundes- und der Landesregierungen. Diese haben, im Gegensatz zum Gericht, ihre Aufgaben nicht erfüllt. Das Geheimdienst- und Staatsschutzwesen braucht eine Fundamentalreform."

Und auf Zeit Online meint Mely Kiyak: "Wie immer in diesem Land, wenn es um Terror geht, wird die Wahrheit nie ans Licht kommen. Wie immer in diesem Land, wenn es um Terror geht, ist die Öffentlichkeit darauf angewiesen, dass die Täter sich im Laufe der Jahrzehnte vertrauensvoll an die Reporter des Spiegels oder des Sterns wenden und ihre Versionen von Wahrheit präsentieren werden. Verlage werden hohe Vorschüsse an Autoren zahlen, denen es gelingen wird, Vertrauen zu den Terroristen aufzubauen, und irgendwann werden echte Täter aus der ersten und Wichtigtuer aus der dritten Reihe wie selbstverständlich in den TV-Sendungen sitzen und sprechen."

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Fast unbemerkt konnte Putin während der WM seine Macht ausbauen und umstrittene Gesetze, etwa zur Verschärfung der Kontrolle ausländischer Medien oder zur Aufnahme und Speicherung von Telefonaten, Videos und Chatverläufen verabschieden, schreibt Ibrahim Naber in der Welt. Und auch während der WM war der Überwachungsstaat nie weg: "Allein im Eingangsbereich des Luschniki-Stadions sowie dem offiziellen Fangelände waren laut Angaben lokaler Behörden rund 280 Überwachungskameras angebracht, ausgestattet mit einem System zur Gesichtserkennung. Kaum einen Schritt konnte man unbemerkt gehen. (...) Es beschlich einen durchaus das Gefühl, dass sie wissen, was du tust."
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Ideen

In der FAZ bespricht Jürg Altwegg das jüngste Buch Bernard-Henri Lévys, "L'empire et les cinq rois": "Sein Essay ist eine flammende Aufzählung von lauter historischen Verbrechen, welche die schrumpfende zivilisierte Welt nicht verhindert - weil sie nicht mehr auf Lévy hört."
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Stichwörter: Levy, Bernard-Henri

Internet

Die Theorie der Filterblase ist nicht belegbar, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen ("Die große Gereiztheit") in der NZZ: "Man kann, frei nach Paul Watzlawick, nicht nicht registrieren, was geschieht, wer sich in den Kommentarspalten über wen aufregt, wer die eigene Position auf Twitter oder Facebook attackiert, die These mit der Antithese durch einen Link verbindet. Ich behaupte: Das Zeitalter der Vernetzung ist das Zeitalter des permanenten Filter-Clash, des Aufeinanderprallens von Parallelöffentlichkeiten und Selbstbestätigungsmilieus. Dies zeigt sich, wenn auf Twitter, dem Nachrichtenkanal für jedermann, in einem einzigen Gesprächsfaden die unterschiedlichsten Positionen sichtbar werden."
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Politik

Schon gestern deutete sich an, dass die Ausreise Liu Xias nicht als Zeichen der Liberalisierung Chinas gedeutet werden darf. Heute porträtiert Felix Lee in der taz den chinesischen Dissidenten Qin Yongmin, der gerade wieder zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt wurde: "Die Parallelen zu Liu Xiaobo und seiner Frau Liu Xia sind unverkennbar. Wie der Friedensnobelpreisträger gehört auch Qin zu den Gründern der chinesischen Demokratiebewegung. Seit 2015 ist er in Untersuchungshaft. Wie Liu, der vor einem Jahr in Haft an Leberkrebs verstarb, ist auch Qin gesundheitlich in schlechtem Zustand. Angehörige berichten, er sei bei einigen der Verhandlungen kaum bei Bewusstsein gewesen. Und wie im Fall von Liu Xia, wurde bei Qins Festnahme auch seine Frau Zhao Sile unter Hausarrest gestellt. Dieser hält bis heute an."

Spielt die "Sozialistische Internationale", die einst Vorsitzende wie Willy Brandt hatte, noch ein Rolle? Das Blog mena-watch meldet jedenfalls unter Bezug auf einen Artikel der Jerusalem Post: "Die israelische Arbeitspartei hat am Dienstag einen harschen Brief an die Sozialistische Internationale (SI) gerichtet, nachdem die Organisation sich der antiisraelischen Boykott-Bewegung BDS anschloss. Die Partei werde die Sozialistische Internationale umgehend verlassen. Die Sozialistische Internationale hatte eine Resolution verabschiedet, in der sie 'alle Regierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen aufruft, BDS-Maßnahmen gegen die israelische Besatzung, alle an der Besatzung beteiligten Institutionen, und die illegalen israelischen Siedlungen zu ergreifen."
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Gesellschaft

Spiegel-online-Kolumnist Sascha Lobo will an die Erzählung, dass sich Markt und Demokratie bedingen, nicht mehr glauben. China beweise mit seinem Modell der digitalen Überwachung gerade das Gegenteil: "Wir tun so, als sei der 'Social Credit Score' ein chinesisches Problem - in Wahrheit ist es ein digitales. Und damit auch unseres." Daraus leitet Lobo eine steile These ab: "Herkömmliche, soziale Marktwirtschaft mag tatsächlich besser in freien, demokratischen Staaten funktionieren - aber der kommende Digitalkapitalismus funktioniert besser in autoritären Staaten. Die ohnehin fragile, westliche Erzählung von Fortschritt und Markt als Befreiungsinstrumenten implodiert, und ärgerlicherweise geschieht das zeitgleich mit der erkennbaren Schwäche der liberalen Demokratie."

Das in Schweden seit Juli in Kraft getretene Gesetz, das die Freiwilligkeit von Geschlechtsverkehr sichern soll, politisiert nicht nur das Sexualleben, sondern festigt auch längst überholte Rollenbilder, meint Claudia Mäder in der NZZ: "In wohlmeinender und also umgekehrter Absicht, aber in erschreckender Deckung mit einem jahrtausendealten Muster wird die Frau in dieser Sexualregelung zu einem Wesen, von dem keine Äußerung erwartet wird; zu einer Person, die sich weder wehrt noch auch nur etwas sagt, wenn ihr etwas widerfährt, das sie stört. Das weibliche Schweigen wird gesetzlich geschützt - und die Äußerung der Frau direkt ans Begehren des Manns gebunden: Im sexuellen Bereich ist die Rolle der Frauen offenbar darauf beschränkt, dem männlichen Verlangen zuzustimmen - oder eben in passiver Stummheit vergewaltigt zu werden."
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