9punkt - Die Debattenrundschau

Aus dem Diskurs raus

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2018. Helle Empörung löste gestern ein Zeit-Artikel Mariam Laus aus, die die hohe Moral der privaten Flüchtlingsretter in Zweifel zieht - Titanic-Chefredakteur Tim Wolff antwortete mit einem Pro und Contra-Tweet "Zeit-Mitarbeiter erschießen". Nick Cohen attackiert in der NYR Daily die BBC, die sich vor lauter Ausgewogenheit nicht traue, die Wahrheit über das Brexit-Desaster zu sagen. In der NZZ erzählt der Historiker Pawel Machcewicz, wie in Polen Geschichte gleichgeschaltet wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.07.2018 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt Debatte über private Flüchtlingsretter

Für helle Empörung sorgte gestern auf Twitter und Facebook ein (inzwischen online gestelltes) "Pro und Contra" der Zeit zur Frage, ob private NGOs Flüchtlinge retten sollen - die Aufregung wurde natürlich vor allem von Mariam Laus "Contra" erzeugt, in dem sie den Rettern vorwirft, "längst Teil des Geschäftsmodells der Schlepper" zu sein. Ziemlich scharf kritisiert sie das Selbstbild der Retter: "Manche Seenotretter vergleichen sich uneMariam Laus Kritik an Retterorganisationen in der Zeit (unser Resümee und Links) sorgt in den sozialen Netzen nach wie vor für erbitterte Debatten. Bernd Pickert will in der taz einfach nicht glauben, dass eine Öffnung der Grenzen und eine Einrichtunge sicherer Fluchtrouten in Europa für Konflkte gesorgt hätte: "Wer so argumentiert, hat es aufgegeben, Menschen überzeugen und Mehrheiten schaffen zu wollen. Es ist ja schließlich kein Naturgesetz, dass immer mehr Menschen in den westlichen Industrieländern Migration als größtes Problem ihrer Zeit empfinden. Es ist ein von völkischen Demagogen erzeugter Effekt, den manche etablierte Politiker ausnutzen, um vom eigenen sozialpolitischen Versagen abzulenken."rschrocken mit den Fluchthelfern der DDR oder gar mit jenen, die im Zweiten Weltkrieg Juden gerettet haben... Leider wirken die Aktivisten aber auch an der Vergiftung des politischen Klimas in Europa mit. In ihren Augen gibt es nur Retter und Abschotter; sie kennen kein moralisches Zwischenreich."

In einigen Medien gab es Reaktionen, etwa im Deutschlandfunk, hier die Zusammenfassung auf dlf24: "Der Journalistik-Professor Klaus-Dieter Altmeppen sagte im Deutschlandfunk Kultur, es sei ganz einfach eine Frage von Humanität und Menschenwürde, Leben zu retten. Da gebe es kein Contra. Wenn es das Anliegen der Zeit gewesen sei, mit dieser bewusst provokativen Fragestellung auf die Not der Menschen aufmerksam zu machen, dann sei dies misslungen, argumentiert Altmeppen."

Die Zeit veröffentlichte gestern Abend eine Erklärung mit halber Entschuldigung: "Durch die Hauptzeile 'Oder soll man es lassen?', die von vielen als einziges gelesen wurde, konnte der Eindruck entstehen, als würde in der Zeit-Redaktion diskutiert, ob man überhaupt Menschen aus dem Mittelmeer retten sollte. Denn erst durch die Unterzeile wird dann klar, dass sich unser Pro & Contra auf die private Rettung von Flüchtlingen bezieht. "In der taz bringt Christian Jakob eine Erwiderung auf Lau. Für eine Debatte in der Debatte sorgte ein Tweet des Titanic-Chefredakteurs Tim Wolff: "Zeit-Mitarbeiter erschießen", verbunden mit der Abstimmmöglichkeit "Pro" und "Contra". Auch unser aller Über-Ich Heribert Prantl kritisiert die Zeit in der SZ.

Zeit-Chefredaktuer Bernd Ulrich ging nicht unzerzupft aus der Debatte hervor:


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Theresa May hat in dieser Woche endlich ihren Brexit-Plan vorgelegt, "und er ist schon eine tote Ente", schreibt Polly Toynbee im Guardian: "Sie hat ihr letztes Angebot ins Parlament eingebracht, aber es gefällt immer noch niemandem: Für die Fanatiker ist es viel zu weich, für das Wohl des Landes immer noch zu bedrohlich, als dass es ausreichend Unterstützung von den Parlamentarieren bekommen könnte. Bei aller versuchten Schadensbegrezung stehen wir immer noch als Befehlsempfänger und Beitragszahler ohne europäische Abgeordnete und Sitz in EU-Räten da, so dass mit brutaler Klarheit offenliegt, was wir gegenüber dem, was wir jetzt haben, verlieren."

In NYR Daily, dem Blog der New York Review of Books, wirft Nick Cohen der BBC Feigheit vor dem Brexit vor. Besonders kreidet er der Anstalt an, dass sie Recherchen der Zeitungen zum russischen Einfluss auf die harten Brexiteers kaum widergespiegelt hat. Sie verhalte sich ähnlich wie einst T.S. Eliot als Verlagschef, als er George Orwells "Farm der Tiere" aus Rücksicht auf den Verbündeten Stalin nicht herausgeben wollte. Vor allem aber fühle sich die Anstalt zu einer Ausgewogenheit verpflichtet, die sie daran hindert, Wahrheiten auszusprechen. "Sie folgt den höchsten journalistischen Standards, hat aber auch das Gefühl, die nationale Stimmung widerspiegeln zu sollen. Die Nation hat gesprochen und aus Respekt vor dem 'Urteil des Volkes' tut die BBC genau das, was jeder Feind freier Information von Reportern will. Wie Eliot ist sie bange, 'ob dies der richtige Standpunkt ist, von dem aus man die Situation zum gegenwärtigen Zeitpunkt kritisieren sollte'."

Im NZZ-Gespräch mit Judith Leister zieht der Historiker Pawel Machcewicz, der vor einem Jahr von der PiS-Regierung als Direktor des "Museums des Zweiten Weltkriegs" in Danzig entlassen wurde, eine bittere Bilanz mit Blick auf die neue Museumsleitung durch Karol Nawrocki, dem er vorwirft, das Museum zu einem "kleinkarierten nationalistischen Zentrum" zu machen: "Zum Beispiel war die Zahl der Partisanen in Jugoslawien und der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs deutlich höher als in Polen. Das fand man wohl zu wenig 'heroisch' und hat die Zahlen entfernt. Ähnlich wurde bei den Kriegsopferzahlen verfahren; auch sie wurden entfernt. In absoluten Zahlen hatten nämlich die Sowjetunion und Deutschland die meisten Opfer. Künftig will man die Opferzahlen prozentual darstellen. Durch die Änderung hat dann Polen die höchsten Opferzahlen, nämlich 20 Prozent der Zivilbevölkerung."

In seiner FR-Kolumne schreibt Klaus Staeck mit Blick auf den in Russland inhaftierten, hungerstreikenden Oleg Senzow: "Es ist ein Skandal, dass die Fußball-WM zu Ende geht, ohne dass die einflussreichen Fifa-Granden mit ihren guten Beziehungen in die russische Regierungsspitze eine Sekunde darüber nachgedacht haben, dass sie mit diesem für Milliarden Zuschauer übertragenen Sportereignis auch politische Verantwortung übernehmen, wie das Land, das seine politischen Gefangenen wie zur Zarenzeit verbannt und entwürdigt, der Welt eine Lüge der Harmonie und der Fußballeuphorie präsentiert."

In der Zeit ärgert sich Thomas Assheuer darüber, dass Migranten heute auch in der Linken als Sündenböcke herhalten müssen: "Mal mit hoher Absicht, mal reflexhaft wälzen Gesellschaften in Krisenzeiten Zorn und Wut auf Dritte ab, und auch Sahra Wagenknecht, die die gespaltene Linke in einer Sammlungsbewegung groß und stark machen will, weiß, wie man die Hebel bedient. Kaum ein Aufruf, der nicht mit feindseligen Untertönen versehen würde - ganz so, als wären Flüchtlinge das symbolische Gründungsopfer auf dem Altar der versöhnten Linken." "'Asylanten' sind keine Kartoffel- oder Mehlsäcke, über deren sachgemäße Lagerung man streitet", schreibt in der SZ der ehemalige CDU-Politiker Norbert Blüm voller Ekel angesichts zynischer Begriffe wie "Asyltourismus". Er empfiehlt seinen einstigen Parteifreunden aus der Union in die "Augen halb verhungerter Kinder" zu blicken."
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Internet

Nach dem Tod ihrer 15-jährigen Tochter haben die Eltern als ihre Erben das Recht, ihr Facebook-Konto einzusehen, hat der BGH in einem richtungweisenden Urteil entschieden. Das Mädchen war von einer U-Bahn erfasst worden, die Eltern wollten herausfinden, ob es ein Unfall oder Suizid war, aber Facebook hatte das Konto des Mädchen in den unzugänglichen "Gedenkmodus" versetzt.  Marlen Hobrack begrüßt das Urteil in der taz: "Wer online verletzt wird, fühlt sich ganz real getroffen, und so ist es auch ganz nachvollziehbar, dass die ganz real verletzten Eltern eines real verstorbenen Mädchens den digitalen Nachlass der Tochter einsehen möchten. Nicht nur als Hinweisgeber auf mögliche Ursachen für ihren vorzeitigen Tod. Sondern auch als Teil der persönlichen Zeugnisse einer Tochter, die einen Teil ihres Lebens auch online lebte."

Wir produzieren Daten ohne Entlohnung und zahlen noch selbst für die Produktionsmittel, schreibt in der NZZ der Philosoph Maurizio Ferraris und fordert eine Netzsteuer von den Digitalgiganten: "In der Tat steht Europa für eine demografische Größe von rund 500 Millionen Menschen, weltweit die dritte nach China und Indien. Es besitzt also die vertragliche Durchsetzungskraft, die es ihm erlauben würde, den Big Four - Amazon, Apple, Facebook und Google - auf Augenhöhe zu begegnen, um die Einführung einer dokumedialen Steuer durchzusetzen. Die Einnahmen könnten dann nicht etwa in Form von Arbeitslosenunterstützung, sondern als Mobilisierungsgehalt verteilt werden. Dadurch würde unserer täglichen Mobilisierung endlich der Status einer echten Arbeit zuerkannt werden - einer Arbeit, die es vermag, unseren Handlungen Würde zu verleihen."
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Geschichte

In der NZZ erinnert Marc Neumann an ein weitgehend unbekanntes Kapitel in der Geschichte der Lynchjustiz - außergerichtliche Hinrichtungen von Mexikanern, denen zwischen 1848 und 1928 in den südwestlichen Staaten von Texas bis Kalifornien mindestens 597 Mexikaner zum Opfer fielen: "Die Phasen, in denen besonders viele Mexikaner ermordet wurden, fielen in Perioden sozialen und politischen Aufruhrs. Wie Webb und Carrigan postulieren, wurden Mexikaner nicht nur wegen im 19. Jahrhundert kursierender rassistischer Vorurteile gelyncht, die sie als arbeitsscheue, ungebildete, triebhafte und ungepflegte spanisch-indianische Mischlinge abstempelten. Die Übergriffe der Lynchmobs häuften sich etwa in den Wirren nach dem Amerikanisch-Mexikanischen Krieg in den 1850er Jahren oder während der durch ein Freihandelsabkommen angefachten Guerilla-Konflikte in den 1870ern, als sich mexikanische Bürgerwehren und Texas Rangers im Grenzgebiet Scharmützel lieferten."

Für die Berliner Zeitung hat Susanne Lenz einen Sommerspaziergang über den Neuköllner Garnisonsfriedhof gemacht und kopfschüttelnd festgestellt, dass der kleine, an die Opfer der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia erinnernde Gedenkstein direkt neben dem großen Herero-Stein platziert ist, der an jene Deutschen erinnert, die im Feldzug von 1904 bis 1907 den "Heldentod" starben. Sie erinnert: "Bei der Enthüllung wurde eine Erklärung verteilt, die die Verwendung des Begriffs Kolonialkrieg beklagte, wenn es doch Völkermord heißen müsste. Ein Genozid, dem bis zu 80.000 Herero zum Opfer fielen und 10.000 Nama. Das Auswärtige Amt war dagegen gewesen. Man kann sich denken warum. Völkermord, das ist nicht einfach ein Begriff. Wird etwas als Völkermord definiert, kann das rechtliche Konsequenzen haben. Völkermord verjährt nicht. In Namibia warten sie auf Entschädigungszahlungen."
Archiv: Geschichte