9punkt - Die Debattenrundschau

Starke Entfremdung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.07.2018. Mesut Özils Rücktritt aus der Fußballnationalmannschaft schafft das Szenario für die nächste unversöhnliche Debatte: In seiner Erklärung sieht er sich als Opfer des Rassismus - viele Kommentatoren stimmen ihm zu. Kritiker machen auf Özils Wahlkampfeinsatz für Tayyip Erdogan aufmerksam. taz und FAZ kommentieren Steve Bannons drohendes Engagement in Europa. Die NZZ erklärt, warum aus der erträumten "Konservativen Revolution" nach Botho Strauß' "Anschwellendem Bocksgesang" nichts wurde.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.07.2018 finden Sie hier

Gesellschaft

Rassismus in der Fußball-Nationalmannschaft? Nationalspieler Mesut Özil tritt aus der Nationalmannschaft zurück und erhebt (deutsch bei 11freunde.de) scharfe Vorwürfe gegen den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel: "In den Augen von Grindel und seinen Unterstützern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und Immigrant, wenn wir verlieren. Und obwohl ich hier Steuern zahle, Schulen finanziell unterstütze und mit Deutschland 2014 die WM gewonnen habe, bin ich in der Gesellschaft nicht akzeptiert. Ich werde behandelt als jemand, der anders ist." Die ganze Affäre geht zurück auf die Affäre ein Foto, auf dem Özil stolz auf einem Wahlkampffoto mit dem türkischen Präsidenten Erdogan posierte. Auch hierzu gibt es von ihm eine - allerdings bemerkenswert unbedarfte und sehr späte - Erklärung: "Das Bild, das wir gemacht haben, hatte keinerlei politische Absichten. Wie ich bereits sagte, hat mich meine Mutter dazu gebracht, niemals meine Herkunft, mein Erbe und meine familiären Traditionen zu vergessen. Für mich ging es bei einem Foto mit Präsident Erdogan nicht um Politik oder um Wahlen, sondern darum, das höchste Amt des Landes meiner Familie zu respektieren."

Daniel Raecke stimmt Özils Rassismus-Vorwurf bei Spiegel online trotzdem zu: "Bei der Kritik an Özil und Gündogan schwang aber von Beginn an mit, dass den beiden Sportlern das 'Deutschsein' abgesprochen wurde. Was für eine Anmaßung."

Seyran Ates zitiert auf Twitter ein Statement des deutsch-kurdischen Politikers Ali Ertan Toprak "#Özil findet Rassismus doof, würde aber mit einem Nationalislamisten #Erdogan jederzeit wieder posieren. Seine Unterstützer finden Kritik an ihm rassistisch, aber finden es nicht so schlimm, dass er Erdogan huldigt."

Erwartbar klar, aber auch ziemlich ausführlich ist der Kommentar der Bild-Zeitung: "Özil sieht sich eindeutig als Opfer einer rassistischen und Islam-feindlichen Hetzkampagne durch die DFB-Spitze. Ein Vorwurf, der schwerer kaum sein könnte. Aber: Auch hier macht Özil es sich viel zu leicht. Für sein Erdogan-Foto wurde er aus allen politischen Lagern kritisiert. Er blendet völlig aus, dass Wahlkampfwerbung für einen Diktator eigentlich nicht vereinbar ist mit den Werten des DFB und des Landes, für das er spielt(e)."

In der FR fragt Jan Christian Müller: "Wie steht der Bundestrainer dazu, dass sein jahrelanger Lieblingsspieler offenbar mithilfe der Löw-Beratungsagentur eine ganz eigene moralische Messlatte anlegt, den DFB-Generalsponsor berechtigterweise scharf kritisiert, dabei aber die von der Regierung Erdogan zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen, die tausendfachen Verhaftungen missliebiger Journalisten und Beamter auch nach mehrmaligem Nachdenken schlichtweg ignoriert."

Christian Spiller findet Özils Werbeauftritt für Erdogan bei Zeit online dagegen nicht so schlimm: "Eigentlich ist das alles zweitrangig. Eigentlich ist nur dieser Satz wichtig: '… ich werde nicht mehr länger für Deutschland auf internationalem Niveau spielen, solange ich das Gefühl habe, rassistisch angefeindet und nicht respektiert zu werden.'"

FAZ-Redakteur Patrick Bahners, der auf Twitter heute präsenter ist als in der FAZ, stimmt Özil zu: "Ein Staatsoberhaupt verdient Respekt auch unabhängig von seiner Politik."

Die Migrationsforscherin Naika Foroutan sagt im Gespräch mit Andrea Dernbach vom Tagesspiegel: "Die letzten Jahre habe ich als eine starke Entfremdung erlebt. Die Debatte um Özil ist nur ein Glied in dieser Kette: Ein Bild mit einem Autokraten während die WM bei einem Autokraten stattfindet, zu nutzen, um Özil das Deutschsein zu entziehen... ich habe derzeit nicht den Eindruck, dass diese Entfremdung aufzuhalten ist. Deutschsein ist wieder sehr viel stärker mit Herkunft verbunden, mit nationalem Bekenntnis, mit Weißsein."

Weitere Artikel: Wie sähe ein robuster Liberalismus im Umgang mit Abtreibung und Leihmutterschaft aus, überlegt Karen Horn in der NZZ und findet Vorschläge bei der französischen Philosophin Crystal Cordell Paris. In der Zeit fragt sich Jana Hensel, warum der Prozess gegen Beate Zschäpe in Ostdeutschland kaum ein Thema ist.
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Religion

Sieben Millionen Besucher erwartet eine Ausstellung über Padre Pio in Palermo, schreibt Thomas Steinfeld in der SZ. Der Priester wird als Heiliger verehrt, weil er vor hundert Jahren "die Stigmata empfing". Die Verehrung ist auch ein Symptom, so Steinfeld: "Aus der Verehrung Padre Pios spricht nicht nur ein Volksglaube, so wie er nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil überwunden zu sein schien, mit allem, was dazugehört, dem sakralen Charakter des Priesters, der zentralen Bedeutung der Beichte, dem Ornat und dem Ritus. Es bekennt sich darin auch die Peripherie zu sich selbst, und diese Peripherie ist voller Misstrauen gegen alles, was aus der Mitte und von oben kommt."
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Ideen

Vor etwas mehr als 25 Jahren veröffentlichte Botho Strauß seinen "Anschwellenden Bocksgesang", ein Manifest einer neuen "Konservativen Revolution", auf das bald der neuerechte Sammelband "Die selbstbewusste Nation" folgte, erinnert Marc Felix Serrao in der NZZ. Das mit der konservativen Revolution klappte zwar nicht. Der band aber half ein Klima zu schaffen, das heute vergiftet ist, so Serrao: "Wer sich als Konservativer oder Liberaler heute kritisch über bestimmte politische Zustände äußert, hat sofort Claqueure am Hals, die 'Merkel muss weg' brüllen oder der 'Lügenpresse' den Kampf erklären. Für diesen geistfeindlichen Jargon (der links auf eine andere Weise wuchert) hat der Sammelband mit seinem Gerede von Denk- und Sprechverboten eine erste Saat gelegt."

Dass die Rechten soviele linke Streitbegriffen gekapert haben - Establishment, Subversion, System, Gegenöffentlichkeit - ist ein echtes Problem für die Linke, meint Mark Siemons in der FAS. Denn diese Begriffe stehen für Aufbruch, Wandel, Bewegung. Die Linke klammert sich dagegen nur noch an den Status quo und die Institutionen: "Engagement würde kaum mehr einer mit irgendeinem Bruch von Regeln in Verbindung bringen, sondern vielmehr mit dem Einsatz für immer mehr und immer perfektere Regeln. Soziale Kontrolle ist Trumpf, bürgerliche Sitte wird nicht mehr bekämpft, sondern zum Maßstab von allem, auch der Künste erklärt, die einst als Gegenwelt zum Muff der Mehrheitsgesellschaft fungierten. ...  Wenn die Institutionen, die doch dazu da sind, den legitimen Wünschen jedes Einzelnen Schutz zu gewähren, selber als das letzte Ziel aller Wünsche erscheinen, droht die Luft zum Atmen auszugehen. Ist das vielleicht der Grund, weshalb das rechte Denken bisweilen den Eindruck erwecken kann, es sei im Aufwind, obwohl es so viele rechte Intellektuelle vermutlich gar nicht gibt?" Siemons empfiehlt der Linken als Gegenmittel die Lektüre von Judith Shklars "Liberalismus der Furcht".
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Geschichte

Paul Ostwald erinnert in der taz an den Journalisten Leo Lania, der in der Weimarer Zeit spektakuläre Undercover-Reportagen veröffentlichte, für die er sich unter die Nazis mischte - 1922 konnte er miterleben, wie die Nazis ihren Putschversuch vorbereiteten: "Lanias Gerichtsreportage, der 'Hitler-Ludendorff-Prozess', ist nun in der Zeitschrift Schreibheft (Ausgabe 87) endlich in vollständiger Verfassung wieder zugänglich. Es ist ein groteskes Bild der zynischen Verschwörer, die zwischen dem Geklimper ihrer Orden die eigene Politik vorhersagen. Diese frustrierten Exgeneräle eröffneten Lania auch den Zugang zum illegalen Waffenmarkt der Republik. Der Versailler Vertrag von 1919 hatte den Deutschen nicht nur die Kriegsschuld zugeschrieben, sondern auch eine Demilitarisierung vorgeschrieben. Der Schwarzmarkt brodelte - und die Spuren führten Lania vom paramilitärischen nationalsozialistischen Milieu bis in die höchsten Regierungskreise." außerdem verweist Ostwalt auf Michael Schwaigers Biografie über Lania und seinen wiederaufgelegten Roman "Land des Zwielichts". In der Zeit ist anfang des Jahres ein Porträt über Lania erschienen.
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Europa

Eva Oer resümiert für die taz die Nachrichten um Steve Bannon, der laut thedailybeast.com die Hälfte seiner Zeit in Europa verbringen will, um hier eine Stiftung namens "The Movement" aufzubauen und die rechtspopulistischen Parteien bei der Europawahl im Mai 2019 zu dreißig Prozent führen will: "Steve Bannon wird nun eine Menge Geld in den Aufbau seiner Plattform stecken, immerhin sieht er sie als Gegengewicht zum US-Investor und US-Milliardär George Soros, dieser unterstützt liberale Gruppen. Sollte es ihm wirklich gelingen, die Rechten Europas zum Erfolg zu bringen und zu einem Block mit einem Drittel der Abgeordneten im Europaparlament zu einen, könnte dieser den parlamentarischen Prozess ernsthaft stören." Mehr zu der Meldung bei Spiegel online.

"Viel spricht dafür, dass Steve Bannon seinen Zenit überschritten hat", schreibt der Amerika-Korrespondent der FAZ, Andreas Ross, aber bei seinen europäischen Kollegen scheint sein Vorstoß auf Interesse zu stoßen: "Enge Kontakte unterhält Bannon schon länger zu Le Pen und zur italienischen Lega sowie zu den Brexit-Befürwortern der britischen Unabhängigkeitspartei. Auch mit AfD-Vertretern gab es Gespräche. In Ungarn wurde Bannon kürzlich von Orban empfangen. Ihm gefällt es besonders gut, dass Bannon George Soros den Kampf ansagt."
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