9punkt - Die Debattenrundschau

Wegen des massiven Lärms

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.08.2018. In der New York Times erzählt Masih Alinedschad, wie der Iran Druck auf ihre Familie macht, um ihre Kampagne gegen den Kopftuchzwang zu unterdrücken. Was heißt es für die Frauen, wenn jeder plötzlich selbst entscheiden kann, ob er eine Frau ist, fragt die Philosophin Kathleen Stock im Economist. Buzzfeed veröffentlicht einen EU-Bericht, der klar zeigt, dass die Politik über die Zustände in Libyen, mit dem man in der Flüchtlingspolitik kooperieren will, informiert ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.08.2018 finden Sie hier

Politik

"Meine Schwester hat mich im Staatsfernsehen enterbt", schreibt Masih Alinedschad, Erfinderin der Kampagne "My Stealthy Freedom" in der New York Times. Iranische Frauen hatten sich in der Kampagne ohne Kopftuch gezeigt, teilweise tanzend auf der Straße. Alinejad lebt seit 2009 im amerikanischen Exil. Lezte Woche ist ihre Schwester in der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes aufgetreten, um sich von ihr zu distanzieren: "Ayatollah Ali Khamenei, der das letzte Wort über fast alles im Iran hat, auch über das, was im Fernsehen gesendet wird, hat die zivile Ungehorsamskampagne gegen den Zwang zum Hidschab als 'unbedeutend' abgetan. Aber diese abscheuliche Sendung zeigt, dass er offenbar seine Meinung über die Bedeutung unserer Kampagne geändert hat. Die Tatsache, dass das Staatsfernsehen sich auf meine Haare konzentriert und die wahre Geschichte ignoriert - die Tatsache, dass es den Iranern an lebensnotwendigen Dingen wie Wasser und Strom mangelt - macht es noch schlimmer."
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Europa

Buzzfeed veröffentlicht einen einen bislang geheimen Bericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes EEAS, der laut Marcus Engert nachweist, dass die "Bundesregierung und alle EU-Staaten nachweislich über massive Menschenrechtsverstöße in Libyen informiert" sind: "Der Bericht spricht von Folter, Vergewaltigung, Zwangsprostitution, menschlichem Organhandel und bewaffneten Milizen. Auch attestiert er Libyen, die Mindestanforderungen internationaler Vereinbarungen wie der EU-Flüchtlingskonvention nicht einzuhalten."

Die Einwanderung von Osteuropäern nach Westeuropa ist viel gravierender als die Einwanderung von Flüchtlingen, meint Ivo Mijnssen in der NZZ. "Die Politiker in Ost und West sollten besser miteinander darüber reden; es geht darum, die Vorteile der europäischen Mobilität in Zukunft zu erhalten, ohne dass der Wohlstand im Westen auf Kosten eines menschenleeren Ostens geht. Und lässt sich ein vereintes Europa aufrechterhalten, wenn die Wanderung von armen in reiche Länder die sozialen Gräben vergrößert statt zuschüttet?"
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Geschichte

Der sozialdemokratische neue Ministerpräsident Spaniens, Pedro Sanchez, will die Überreste des spanischen Diktators Franco aus dem "Tal der Gefallenen", einem pompösen Bauwerk zum Gedenken an Francos Sieg nahe Madrid, entfernen lassen, schreibt Diego Torres in politico.eu. Das Monument des Klerikalfaschismus mit seinem 150 Meter hohen Kreuz soll so von einem Schrein zu einem Ort des Gedenkens werden: "Der 1959 eingeweihte Ort wurde vom Franco-Regime als Ort der Versöhnung dargestellt - obwohl er eindeutig die siegreiche Seite des Krieges und seinen Führer verherrlichen sollte. Etwa 12.500 der dort begrabenen Menschen sind nicht identifiziert. Nach seinem Tod wurde der Diktator in der Mitte der Hauptkrypta der Basilika begraben. Vor ihm liegt José Antonio Primo de Rivera, der Gründer von Falange, der wichtigsten faschistischen Partei in Spanien, die während des Krieges von den Republikanern hingerichtet wurde. Jedes Jahr am 20. November, dem Tag, an dem Franco starb, versammeln sich Hunderte von Unterstützern, um ihm Tribut zu zollen." Allerdings, so Torres, gibt es in Spanien kaum mehr Sympathien für das Franco-Regime, ein Großteil der Bevölkerung unterstütze den Plan.
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Stichwörter: Spanien, Franco, Sanchez, Pedro

Gesellschaft

Ilija Trojanow greift in der taz die Deatte um Mesut Özil und um Integration auf: Einerseits kritisiert er, dass äußere Differenzen wahrgenommen werden, andererseits schreibt er: "Die größte Illusion der Integrationsdebatte ist nämlich, dass Assimilierung ein Allheilmittel sei. Es ist bequem, mit dem anklagenden Finger auf den reaktionären Muslim zu zeigen, der sich und seine Familie völlig abkapselt. Die Realität ist aber, dass selbst jene, die bei der kulturellen Selbstverwandlung außergewöhnlich erfolgreich waren, immer wieder verbale Ausgrenzung erfahren und diese als symbolische Abschiebung empfinden."
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Religion

"Nirgends sind bei Ratzinger rassistische Diskursspuren zu entdecken", beteuert der katholische Theologe Jan-Heiner Tück in der NZZ, der auf die Debatte um einen Text des Abgedankten über das Verhältnis von Christen und Juden in der Zeitschrift Communio (unser Resümee) Bezug nimmt: "Wie auch? Benedikt XVI. hat 2006 in seiner Rede in Auschwitz den Antisemitismus als eine perfide Form des Antitheismus verurteilt. Die Shoah sei der Versuch gewesen, mit den Juden die lebendigen Träger des Gottesgedächtnisses und der mosaischen Ethik auszulöschen. Die Judenvernichtung sei letztlich ein Attentat auf Gott."
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Kulturpolitik

Das Deutsche Filmorchester Babelsberg steht vor dem Aus, meldet Manuel Brug in der Welt. Der Grund ist geradezu absurd typisch für das heutige Deutschland: Aufhören muss das Orchester nämlich nicht wegen "finanzieller Schwierigkeiten. Sondern wegen des massiven Lärms durch Bauarbeiten nebenan auf dem Gelände des Studioparks Babelsberg, weshalb das Orchester seinen Aufnahmeraum nicht mehr nutzen kann. Diese Studioarbeit markiert aber nach wie vor die Haupteinnahmequelle des sich zur Hälfte seines Etats von 3,5 Millionen Euro selbst finanzierenden Orchesters. Und es sei nicht möglich, so [Intendant Klaus-Dieter] Bayer, während der etwa anderthalbjährigen Bauzeit auszuweichen."
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Internet

Facebook hat mitgeteilt, dass man einige dubiose Seiten geschlossen hat, die im Vorfeld der "Mid-Term"-Wahlen im November bei Reizthemen einfluss nehmen wollten, berichten Nicholas Fandos und Kevin Roose in der New York Times: "Das Unternehmen brachte die Konten nicht direkt mit Russland in Verbindung, aber Facebook-Sprecher sagten, dass einige der von den Seiten genutzten Tools und Techniken jenen der  Internet Research Agency ähnelten, also der mit dem Kreml verbundenen Agentur, die im Zentrum der Anklage wegen Wahlbeeinflussung im Jahr 20156 stand."
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Ideen

Kathleen Stock - sie lehrt an der University of Sussex Philosophie - denkt im Economist über das "Konzept Frau" nach. Ist wirklich jeder eine Frau, der behauptet, eine zu sein, wie es die Trans-Bewegung fordert? Gehört nicht auch eine gelebte physische Erfahrung dazu? Und was verlieren wir, wenn wir das aufgeben? Zu viel, fürchtet Stock: "Die Kategorie 'weiblich' ist auch wichtig, um die besonderen Herausforderungen der Mitglieder zu verstehen. Dazu gehören eine erhöhtes Risiko für Vergewaltigung, sexuelle Übergriffe, Voyeurismus und Exhibitionismus, sexuelle Belästigung, häusliche Gewalt, bestimmte Krebserkrankungen, Magersucht und Selbstverletzung und so weiter. Wenn selbsterklärte Trans-Frauen in die Statistik aufgenommen werden, wird das Verständnis erschwert. Die Selbstidentifikation eines Mannes mit der Kategorie 'weiblich' oder 'Frauen' bringt nicht automatisch eine erhöhte Gefährdung in diesen Bereichen mit sich ... In einer sexistischen Welt, die oft Frauen als solche benachteiligt, brauchen wir gute Daten. Wir brauchen natürlich auch gute Daten über Trans-Personen, aber die beiden Aufgaben sollten getrennt werden." (Der Artikel gehört zu einer ganzen Serie über "Transgender-Identitäten", die man alle hier findet.)

Im Gespräch mit der Zeit versucht Catrin Misselhorn, Wissenschaftstheoretikerin und Technikphilosophin an der Universität Stuttgart, etwas Klarheit in die Vorstellung von Künstlicher Intelligenz zu bringen. Die Vorstellung, Maschinen könnten in der näheren Zukunft einen eigenen freien Willen haben, hält sie für Nonsense: "Auch bei Emotionen, die ich als Prozess auffasse, kommen Elemente wie Wahrnehmungen, Meinungen und Wünsche kausal ins Spiel. Diesen Aspekt kann man auch in Maschinen nachbilden. Darüber hinaus besitzen Emotionen jedoch eine Empfindungsqualität, die Maschinen abgeht. Maschinen haben nur Quasimeinungen und Quasiwünsche. Diesen Begriff des 'Quasi' entnehme ich der Ästhetik. Der amerikanische Philosoph Kendall Walton hat folgende These aufgestellt: Unsere Empfindungen gegenüber fiktionalen Figuren sind Quasiemotionen. Wenn ich etwa bei der Lektüre von Anna Karenina fürchte, dass die Hauptfigur sich vor den Zug werfen könnte, ist das keine echte Angst, sondern eine Quasiangst."
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