9punkt - Die Debattenrundschau

Noch deutlich niedrigschwelliger

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2018. Eine Gruppe muslimischer Frauen wendet sich in einem Manifest in La Libre Belgique an die EU und fordert, dass das Kopftuch in allen europäischen Ländern auch von Beamtinnen getragen werden darf. Marianne wehrt sich gegen diese Idee und verteidigt die Idee staatlicher Neutralität. Auch gegen George Soros. Monika Maron porträtiert in der Welt Sahra Wagenknecht, deren Bewegung "Aufstehen" zwar bisher kein Programm, aber viel Sympathie erzeugt, wie die SZ konstatiert. Die größte Stärke am Kapitalismus ist die Kapitalismuskritik, schreibt Pascal Bruckner in der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.08.2018 finden Sie hier

Europa

George Soros und sein Open Society Institute sind Opfer antisemitischer Angriffe in Ungarn und anderswo - aus diesem Grund will das Institut Budapest verlassen (unsere Resümees). Das Institut finanzierte aber auch eine Studie, die etwa die französische Auffassung von religiöser Neutralität, die BeamtInnen das Tragen religiöser Bekenntnissymbole verbietet, als Diskriminierung von Musliminnen darstellt. Ein größeres Kollektiv vorwiegend muslimischer Frauen aus ganz Europa veröffentlicht nun ein Manifest, das eine EU-weite Aufhebung solcher Verbote fordert. Betrieben wird die Initiative von der französischen Journalistin Rokhaya Diallo (die neulich auch in der SZ den Rassismus in Frankreich anprangerte, unser Resümee). Das Papier ist etwa in LaLibre.be (Website der Zeitung La Libre Belgique) veröffentlicht: "Die EU-Mitgliedstaaten müssen die spezifischen Auswirkungen der Vorschriften über das Tragen religiöser Symbole in öffentlichen und privaten Einrichtungen auf muslimische Frauen bewerten. Sie müssen auch sicherstellen, dass ihre Praktiken und Politiken integrative Arbeitsplätze, Bildung und öffentliche Räume fördern, auch durch Ablehnung neuer Vorschläge zum Verbot religiöser Symbole oder Kleidung in der Beschäftigung und/oder im öffentlichen Sektor."

Erbittert wehrt sich Pierre Juston im französischen Nachrichtenmagazin Marianne gegen diese Initiative, die teilweise von Soros' Institut finanziert sei. Diallo beziehe sich dabei auf ihre Arbeit mit amerikanischen Menschenrechtsgruppen und Regierungsorganisationen. Juston dazu: "Angesichts dieses Lebenswegs, den Frau Diallo stolz auf ihrer Website darstellt, ist es völlig logisch, dass sie zu einer Galionsfigur des Kampfes gegen das französische Modell wurde. Sie ist ein Teil der amerikanischen Soft Power, die sich auch in unserem Land verbreiten will. George Soros, der sicherlich im Innersten vom differentialistischen angelsächsischen Modell überzeugt ist, sieht fataler Weise im universalistischen und republikanischen französischen Modell eine Maschine der Diskriminierung."

Eindringlich warnt der Politologe James Kirchick in politico.eu sozialdemokratische Parteien in Europa, sich Jeremy Corbyn als Vorbild auszuwählen. Der sei nicht nur mehr oder weniger für den Brexit gewesen und habe Probleme mit Antisemitismus in seiner Partei. Auch seine Verehrung sozialdemokratischer Errungenschaften unter dem Premier Clement Attlee nach dem Krieg sei geheuchelt: "Während Attlee Pro-Amerikaner war, ist Corbyn Anti-Amerikaner. Während Attlee anti-sowjetisch war und unnachgiebig einen demokratischen Sozialismus forderte, war Corbyn sein Leben lang Moskaus nützlicher Idiot. Während Attlee die Nato und das britische Atomwaffenarsenal aufbauen half, wendet sich Corbyn gegen beide. Und während Attlee die Gründung des jüdischen Staats unterstützte, hat Corbyn seine gesamte Karriere damit verbracht, Leute zu promoten, zu feiern und zu unterstützen, die die Zerstörung Israels wollen."

Monika Maron hat in der Welt am Sonntag ein von großer Sympathie getragenes Porträt über Sahra Wagenknecht veröffentlicht, die gerade die  Bewegung "Aufstehen" nach dem Vorbild der "France Insoumise" des Linskpopulisten Jean-Luc Mélenchon gründen will: "Die SPD habe ihr schon damals nicht gefallen. Und die Grünen ... Sie zögert. Na ja, sie sei zwar politisch links, im privaten Leben aber doch eher konservativ. Es klingt ein bisschen wie eine Entschuldigung, aber Sahra Wagenknecht zwischen Anton Hofreiter und Claudia Roth erscheint auch mir noch unpassender als zwischen Katja Kipping und Bernd Riexinger.  Mehr als fünfundzwanzig Jahre hat sie mit der Partei gerungen, erst von links und nun, wie ein Teil ihrer Genossen behauptet, von rechts."

Überall in Europa ist das klassische Modell der Partei erodiert, und statt dessen formieren sich "Bewegungen", die einem Bürgerwillen scheinbar spontan Ausdruck geben wollen, analysiert Gustav Seibt in der SZ. Manche haben immerhin noch eine politische Idee. "Das Angebot von Wagenknechts #Aufstehen ist noch deutlich niedrigschwelliger: Eine Registrierung auf der Website genügt (Stand nach vier Tagen: fast 40 000 Anmeldungen). Es reicht, sich von den sympathischen, im besten Sinne durchschnittlichen Gesichtern und ihren Forderungen auf der Internetseite angesprochen zu fühlen. Bisher gibt es weder ein ausformuliertes Programm noch viel Prominenz." Nach ihrem jetzigen Modell ist Wagenknechts "Aufstehen" zwar nicht darauf angelegt, sich zur Wahl zu stellen, so Seibt, aber bei merklichem Rückenwind könnte sich das ändern und die Spaltungen im Parteienspektrum weiter vorantreiben.
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Ideen

Wenn das Böse heute einen Namen hat, dann trägt es den Namen Kapitalismus, spottet Pascal Bruckner in der NZZ. Alle hassen ihn, von links bis rechts. Dabei nähert er sich von der Kritik, "seine Dynamik zieht er aus den Attacken, denen er dauernd ausgesetzt ist - denn so ist er gezwungen, sich zu reformieren". Und das sei nach wie vor nötig, deshalb müssten ihn auch Kapitalismusbefürworter kritisieren: "Sonst droht er zum Staatskapitalismus zu werden, also zu jener Ideologie der Plünderung, die die russischen Oligarchen oder die südamerikanischen Kartelle kennzeichnet. Um lebensfähig zu sein, muss sich der Kapitalismus mit demokratischen Regimen und starken Rechtsstaaten verbinden, die gnadenlos den Finger auf seine Schwächen legen und seine Skandale ans Licht holen."
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Gesellschaft

Im Interview mit der FR klagt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, die gerade vom Lehrstuhl für Islamwissenschaften in Hamburg zu dem in Köln gewechselt ist, über fortlaufende Diskriminierung im Alltag: "'Sie sprechen aber gut Deutsch!' Was meinen Sie, wie oft ich diesen Satz immer noch höre. Mir liegt dann immer ein 'Danke, Sie auch!' auf der Zunge. Als unsere Tochter in der katholischen Grundschule einen Lesewettbewerb gewann, wurde das anmoderiert mit den Worten: 'Wir sind besonders stolz darauf, dass ein Kind aus einer Migrantenfamilie Platz eins belegt hat'. Hallo? Ich weiß: Das war ja nett gemeint. Das sollte ein wahnsinnig freundliches Kompliment sein. Aber diese 'Migrantenfamilie' lebt in der dritten Generation in Deutschland." (Das tat Özils Familie auch, trotzdem konnte der Junge offenbar kein Deutsch, als er in die Schule kam. Es ist halt kompliziert, auch für Lehrer.)

Soll man wirklich schon das sexistische Hinterherpfeifen unter Strafe stellen, wie es etwa Frankreich geplant ist? Karin Janker winkt in der SZ ab, solche Gesetze sind selbst sexistisch, findet sie: "Sie reproduzieren implizit ein altes Stereotyp, wonach der angestammte Platz der Frau das Private und Häusliche ist. Der öffentliche Raum erscheint weiterhin als Sphäre des Mannes, in der Frauen ohne patriarchalen Schutz, nun von Seiten des Staates, scheinbar nicht bestehen können. Um den öffentlichen Raum angenehmer und sicherer zu machen, braucht es ganz im Gegenteil mehr Frauen, die ihn gestalten. Dann würden mehr weibliche Erfahrungen und Perspektiven in Entscheidungen einfließen. Plant zum Beispiel eine Ingenieurin eine Fußgängerunterführung, so bedenkt sie eher, ob sie hier nachts entlanggehen wollen würde."
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