9punkt - Die Debattenrundschau

Erhabene Zwecklosigkeit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2018. Viele in der Türkei denken modern und nicht tribalistisch oder religiös - der Westen sollte sie nicht alleinlassen, sagt Elif Shafak im Guardian. Die EU sollte Ungarn und Polen die Demokratieverstöße nicht durchgehen lassen, warnt der Jurist Nils Meyer-Ohlendorf in der SZOswald Spenglers "Untergang des Abendlands" ist von bedrückender Aktualität, schreibt Andreas Kilb in der FAZ. In der NZZ sucht die DDR Erlösung. Und die republik.ch macht ein Feuilleton auf. So ein richtiges, mit Kritiken.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.09.2018 finden Sie hier

Europa

Bei aller berechtigten Kritik an der Türkei: Es gibt dort nicht nur Erdogan-Fans, versichert die Autorin Elif Shafak im Guardian. Viele Türken glauben an Demokratie und Menschenrechte, der "Westen" sollte sie unterstützen. In der Atmosphäre, die sie beschreibt, ist das allerdings nicht einfach: "Es findet ein massiver kultureller Wandel statt, der sich in kleinen alltäglichen Details manifestiert. Wir werden in einen künstlichen Tribalismus gedrängt und man sagt uns, dass wir ethnisch, religiös und historisch völlig verschieden vom Westen seien. Wir würden nie dazugehören. Kultur ist zum neuen Schlachtfeld geworden. Der Säkularismus verblasst, die Anzahl der religiösen Schulen steigt; die Evolution wurde aus dem neuen Lehrplan gestrichen; die Bildung wurde nach religiösen und nationalistischen Gesichtspunkten umgestaltet. Erdogan ist eindeutig: er will eine 'fromme Generation großziehen'."

In der SZ warnt der Jurist Nils Meyer-Ohlendorf davor, EU-Staaten wie Ungarn und Polen stumm die Missachtung demokratischer Regeln durchgehen zu lassen. Denn: "Demokratieprobleme in anderen EU-Mitgliedstaaten sind nicht deren innere Angelegenheit", sie sind ein Problem aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wie das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil festgehalten habe: "Denn die EU erlässt Gesetze, die Vorrang vor nationalem Recht haben und oft unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten. Aus diesem Grund müssen Entscheidungen der EU demokratisch legitimiert sein. Die demokratische Legitimität von EU-Entscheidungen beruht in erster Linie auf dem demokratisch gewählten Europäischen Parlament und dem Rat, der sich aus demokratisch gewählten Regierungen zusammensetzt. EU-Entscheidungen würden also illegitim, wenn undemokratische Regierungen Teil des Gesetzgebungsprozesses werden."

Dass die Linke gut jammern kann, wissen wir. Aber von der Rechten kann sie noch was lernen! In der NZZ stellt der Dramaturg und Autor Klaus-Rüdiger Mai ohne weitere Erklärung einen linken "westdeutschen Neobiedermeier", der sich die Auflösung des Nationalstaats und nichts lieber wünsche, als von einer "Handvoll Eurokraten im fernen Brüssel geschurigelt" zu werden, gegen den bodenständigen, aufrechten, patriotischen Ostdeutschen, der nach der von ihm erkämpften Wiedervereinigung "mit Erschrecken" feststellen muss: "dass das neue Deutschland der alten DDR immer ähnlicher wird, wenn die Eliten auf obrigkeitsstaatliche Mittel und Strukturen setzen, weil sie der Probleme nicht mehr Herr werden. Der Klassenfeind, der Rechte, der Populist, der Reaktionär ist vor allem die Gestalt des eigenen Versagens. Fiel in der DDR die Kartoffelernte schlecht aus, war der Klassenfeind, die Bonner Ultras und Reaktionäre, die heimlich Kartoffelkäfer ausgesetzt hatten, schuld. Die Erfahrung der Diktatur, der fehlenden Meinungsfreiheit, der fehlenden Demokratie, der Allgewalt der Propaganda, der Verteufelung und Diskriminierung des politisch Andersdenkenden wird in einer Situation aktiviert, in der die Gegenwart Züge der Vergangenheit annimmt. Die unerlöste Geschichte Ostdeutschlands wird zum Wiedergänger und drängt auf ihre Erlösung."

Rechtspopulisten, die den Rechtsstaat bekämpfen, haben im öffentlichen Dienst nichts zu suchen, meint Detlef Esslinger in der SZ. Das heißt nicht, dass AfD-Sympathisanten grundsätzlich nicht für den Staat arbeiten dürfen sollen, aber genau auf die Finger gucken sollte man ihnen schon: "Im Disziplinarrecht gibt es unter anderem die Strafen des Verweises, der Kürzung der Bezüge sowie der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis; das Arbeitsrecht kennt Abmahnung und verhaltensbedingte Kündigung. Es gibt also Instrumente, Agitatoren zu erziehen oder loszuwerden. Worauf es ankommt: dass der Dienstherr diese Instrumente nutzt. Deshalb ist es richtig, dass Berlin einem angestellten Lehrer gekündigt hat, der den Holocaust zur Lüge erklärt. Deshalb ist es richtig, dass Baden-Württemberg einen Staatsanwalt aus dem Dienst entfernen will, der jetzt für die AfD im Bundestag sitzt und mit der Beschimpfung ganzer Menschengruppen das Mäßigungsgebot verachtet."
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Ideen

Vor hundert Jahren ist Oswald Spenglers "Untergang des Abendlands" erschienen. Seine Aktualität bis heute liegt angesichts linken und rechten Identitätsdenkens vor allem in einem Begriff, dem der Kultur, schreibt Andreas Kilb in der FAZ: "Indem er all das, was Kunst und Wissenschaft an konkretem Inhalt, an Sinn produzieren, dem 'Formproblem' unterordnet, erledigt Spengler mit dem Gedanken des Fortschritts zugleich den der Humanität. Die Kulturen blühen 'in erhabener Zwecklosigkeit' nach- oder nebeneinander auf, und wenn sie sich begegnen, sind sie einander bestenfalls gleichgültig. Ihr Naturzustand aber ist der Kampf. Alles, was die Realgeschichte an Greueln bereithält, ist deshalb bei Spengler 'notwendig', jedes Gemetzel als Stufe kultureller Entwicklung gerechtfertigt."

Außerdem: Die SZ hat Gustav Seibts Besprechung von David Christians "Big History. Die Geschichte der Welt - vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit" online nachgereicht.
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Gesellschaft

Nach der Woche in Chemnitz resümiert Welt-Autor Thomas Schmid: "Es hätte ein Signal von Chemnitz ausgehen können: Die Mehrheit lässt sich von den Rändern nicht funktionalisieren, sie steht in schwierigen Situationen zusammen. Die Mehrheit hatte gewiss diesen Willen, aber sie nahm keine sichtbare Gestalt an."

Sabine am Orde  konstatiert in der taz, dass "die Rechten in Chemnitz zahlenmäßig denen überlegen (waren), die für Demokratie und eine offene Gesellschaft auf die Straße gegangen sind." Und "das Bündnis, das da hinter den AfD-Landeschefs aus Thüringen, Brandenburg und Sachsen marschierte, ist für Beobachter der Szene nicht neu. Doch so offensiv und selbstverständlich ist es bislang selten aufgetreten. Da demonstrierten AfD-Funktionäre Seite an Seite mit Pegida und Pro Chemnitz, dazu Identitäre, Mitglieder der sächsischen Kameradschaftsszene und rechtsextreme Hooligans. Ein Bündnis also bis ganz weit ins rechtsextreme Lager hinein."
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Medien

Medien nennen gern die Größe ihrer Leserschaft (eine Million!) um ihre Vitalität zu unterstreichen. Aber was zählt ist der Absatz, und der geht laut Peter Turi, der Peter Nolte, den Chef des Bundesverbandes Presse-Grosso zitiert, zurück: "Die Zahlen seien eine 'mittelschwere Katastrophe'. Um 10,1 Prozent sank der Presseabsatz im 1. Halbjahr 2018 laut Nolte, der Umsatz ging um 7,2 Prozent zurück. Auch die Fußball-WM und die Panini-Sammelbilder sorgten nicht für einen Lichtblick, sagt Nolte in einem Interview des Branchenblatts Der Neue Vertrieb vor der Jahrestagung der Pressegroßhändler in Baden-Baden."

Hm, hat Barbara Villiger-Heilig ihren Lehrerjob, den sie nach dem Weggang aus dem NZZ-Feuilleton angenommen hatte (unser Resümee), hingeschmissen? Jedenfalls gibt die ehemalige Theaterkritikerin der NZZ nun in dem beneidenswerten Schweizer Onlinemedium republik.ch die Gründung eines Feuilletons bekannt. Und zwar eines richtigen, mit Kritik: Denn "es ist unübersehbar. Die Kulturressorts zahlreicher Medien betreiben eine neumodische Variante von Feigenblatt-Strategie. Anstelle der Buchrezension bringt man ein Interview mit der Autorin. Den Filmessay ersetzt der Besuch beim Regisseur daheim im Kreise seiner Katzen. Statt eine Theaterpremiere zu besprechen, publiziert man das Porträt der - wahlweise - ältesten oder jüngsten Schauspielerin im Ensemble."

Außerdem: In Myanmar sind zwei Reuters-Journalisten wegen ihrer Recherchen zur Verfolgung der Rohingya zu bis zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden, berichtet unter anderem Le Monde.
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