9punkt - Die Debattenrundschau

Sie kann einpacken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2018. Ian Burumas Entlassung oder Weggang bei der New York Review of Books ist ein Schlag für die intellektuelle Freiheit, schreibt Laura Kipnis in der New York Times. In der NZZ  fordern die Juristen Thomas Geiser und Ursula Uttinger ein "Recht auf Vergessen" auch gegenüber staatlichen Datensammlern. Und mit der Kanzlerin geht's zuende, spätestens jetzt, vielleicht auch irgendwann, mindestens aber seit 2000, warnt Stefan Niggemeier in den Uerbermedien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.09.2018 finden Sie hier

Ideen

Ian Burumas Entlassung oder Weggang bei der New York Review of Books ist ein Schlag für die intellektuelle Auseinandersetzung, schreibt Laura Kipnis, Autorin der Zeitschrift und eines Buchs über sexuellen Missbrauch an Universitäten, in der New York Times. Sie fürchtet, dass bestimmte Themen immer mehr mit Tabus umstellt werden und dass RedakteurInnen sich nicht mehr trauen, publizistische Risiken einzugehen. Buruma musste gehen, weil er den kanadischen Entertainer Jian Ghomeshi schreiben ließ, der beschuldigt wird, Frauen sexuell missbraucht zu haben (vor Gericht aber freigesprochen wurde). Kipnis dazu: "Es ist unmöglich zu sagen, ob ein anderer Artikel einer Person, die des Missbrauchs bezichtigt wird, die gleichen Reaktionen auslösen würde wie Ghomeshis Essay, oder ob die Reaktionen spezifisch waren für bestimmte Fehlstellen in dem Artikel. Bekenntnisartikel sind ein schwieriges Genre. Aber selbst wenn sein Plädoyer unehrlich oder selbstmitleidig ist, bin ich interessiert zu hören, was der Beschuldigte in eigener Sache zu sagen hat, auch bei jenen, die ich für schuldig und verachtenswert halte und die nicht die richtige Lektion aus ihren Verbrechen gelernt haben."

Die Rettung bedrohter Tier- und Pflanzenarten winkt in der Stadt, meint der Biologe Josef Reichholf in einem langen Interview mit dem Tagesspiegel:  "Weil die Bevölkerung dort toleranter ist, was Tiere und wild wachsende Pflanzen betrifft. Wo die Menschen es sich leisten können, streben sie außerdem nach Lebensqualität. Es gibt Trends wie Urban Gardening und Dachbegrünungen, in London soll man bald überall innerhalb von zehn Minuten die nächste Grünfläche erreichen können. Erst gestern habe ich bei einem Spaziergang ein Kartoffelbeet am Ku'damm entdeckt. Draußen auf dem Land ruft es schon einen Aufstand der Bauern hervor, wenn man die kleinste Fläche von der agrarischen Nutzung frei bekommen möchte."

Außerdem: In der NZZ denkt Hans Ulrich Gumbrecht über die Vorliebe Hitlers für Disneyfilme nach.
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Überwachung

In der SZ stellt Adrian Lobe ein Buch des amerikanischen Künstlers und Journalisten James Bridle vor, "The New Dark Age", dass die zunehmende Überwachung nur für eins gut ist: Unseren Kontrollverlust festzuhalten und damit unsere Paranoia zu verstärken. Beispiel Völkermord: Laut dem ehemaligen Google-Chef Eric Schmidt hätte es den Völkermord an den Tutsis nicht gegeben, hätte damals schon jeder ein Smartphone gehabt. "Schon die Pläne, so Schmidt, wären 'geleakt' worden. Man müsse also nur genügend Minicomputer mit integrierter Kamera in der Bevölkerung verteilen, um Transparenz zu schaffen und Gewaltexzesse zu verhindern. Das ist eine naive Annahme. In Syrien wurde der Schrecken wie selten zuvor in einem kriegerischen Konflikt dokumentiert. Und trotzdem ging das Morden zum Entsetzen der Weltöffentlichkeit weiter. Die Produktion von Bildern und Livestreams stellt für Diktatoren längst keine Bedrohung mehr dar, im Gegenteil, sie erweist sich als systemstabilisierend, weil Bilder mit Gegenbildern beantwortet werden und jede Evidenz in Frage gestellt ist." (In der FAZ hat Harald Staun das Buch besprochen.)

Ein "Recht auf Vergessen" sollte es auch gegenüber den staatlichen Datensammlern geben, fordern die Juristen Thomas Geiser und Ursula Uttinger in der NZZ. "Zur öffentlichen Aufgabe gehört allerdings auch die Dokumentierung der Zeitgeschichte. Und damit ist man wieder beim sehr interpretierbaren Begriff der Relevanz. Maßgeblich muss aber in erster Linie das in der Verfassung verankerte Recht auf informationelle Selbstbestimmung sein. Folglich muss die betroffene Person selber bestimmen können, ob sie betreffende Daten, die von einer Amtsstelle nicht mehr gebraucht werden, als historische Daten ins Staatsarchiv wandern dürfen oder nicht."

Nicht nur Google (unsere Resümees), auch Apple passt sich zusehends an chinesische Zensurvorgaben an - das neue Iphone wird in China, anderes als in allen anderen Märkten, nicht mit einer sogenannten eSim-Card vertriebren, berichtet Lea Deuber in der SZ. "China ist der drittwichtigste Markt nach den USA und Europa. Will der Konzern seinen Zugang zu Chinas digitalem Ökosystem behalten, muss er nach dessen Regeln spielen. Während er in den USA dem FBI die Hilfe bei der Entschlüsselung eines iPhones verweigert, gibt er sich in China weniger kämpferisch. Erst Anfang dieses Jahres hat er auf Druck der chinesischen Regierung dutzende Anwendungen aus seinem chinesischen App Store gelöscht, mit denen Nutzer die Internetzensur im Land umgehen können."

Die türkische Polizei verfolgt Gesinnungsgegner per Telefon-App auch in Deutschland, berichtet Anna-Lena Ripperger in der FAZ. Die App "ermöglicht es laut 'Report Mainz', kritische Kommentare türkischstämmiger Personen in sozialen Netzwerken direkt bei den türkischen Behörden anzuzeigen."
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Medien

Stefan Niggemeier ist sich in den Uebermedien sicher: "Nun geht es mit der Kanzlerin zuende. Also, diesmal wirklich. Sie kann einpacken. Von dem Autoritätsverlust, dass die Unionsfraktion im Bundestag nicht ihren Wunschkandidaten zum Vorsitzenden gewählt hat, wird sie sich nicht mehr erholen. Gut möglich, dass es diesmal stimmt. Irgendwann muss es ja auch mal stimmen." Und listet die Abgesänge auf Merkel seit dem Jahr 2000 auf.

Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hat zwar sein Innenministerium kritisiert, das nur ausgewählte Medien mit Information versorgen will (unser Resümee), schreibt Ralf Leonhard in der taz. Aber "Kurzs Regierung hat von Anfang an auf lückenlose 'message control' geachtet: Sie versucht, die Themen der Berichterstattung vorzugeben. Der gewünschte Spin wird bei der Präsentation von neuen Projekten gleich mitgeliefert. Selbst Fotos steuern die Ministerien so weit wie möglich. Kurz lässt auf Auslandsreisen nur offizielle Fotografen an sich heran." Im Interview mit Zeit online ist Florian Klenk, Chefredakteur des Falters, immer noch schockiert: "Ich habe das für einen Fake gehalten und auch die Polizisten, denen ich vertraue, haben mir gesagt: 'Das ist unmöglich. So etwas wäre undenkbar.' Als dann Der Standard und Der Kurier erste Auszüge aus dieser E-Mail veröffentlicht hatten, war ich wirklich baff, dass so eine Art von Kommunikationspolitik nicht nur möglich ist, sondern auch schriftlich festgehalten wird."

In der NZZ macht der Medienunternehmer Roger Schawinski einen orginellen Vorschlag für die Neuverteilung von Rundfunkgebühren in der Schweiz: 60 Prozent der Gebühren sollen weiter fest an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gehen, den Rest soll das Publikum verteilen. Zu diesem Zweck müsse eine Liste mit Qualitätsmedien erstellt werden, aus der sich das Publikum alle drei Jahre vier Kandidaten aussuchen soll, an die die restlichen vierzig Prozent verteilt werden sollen: "Dieses Konzept vereinigt drei moderne und zentrale Prinzipien: Da ist erstens das Bilden von Communities. Medien, die Communities bilden, schaffen starke Affinitäten. Anhänger dieser Communities können sich nun erstmals durch das Ankreuzen ihrer Lieblingssender manifestieren. Von diesem Ansatz profitieren nicht nur massentaugliche Angebote, wie kritische Stimmen behaupten, sondern auch Nischenprodukte, weil dort die Nähe zwischen Medium und Publikum besonders eng ist."
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Gesellschaft

Weil der Vize-Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen, Helmuth Frauendorfer, Frauen sexuell belästigt haben soll, muss jetzt auch Direktor Hubertus Knabe gehen, berichtet Markus Decker in der FR. "Aus dem Umfeld des Stiftungsrates verlautet, die kurzfristige Beurlaubung Frauendorfers durch Knabe und die ebenso kurzfristige Benennung einer Anti-Diskriminierungsbeauftragten habe zum Schluss nicht mehr überzeugt. Schließlich galten die Belästigungen durch Frauendorfer seit Jahren auch Knabe als bekannt." Im Tagesspiegel berichtet Alexander Fröhlich ausführlicher.

Gisa Bodenstein ist für hpd.de bei den "Lebensschützern" mitgelaufen, die am Samstag gegen Abtreibung demonstrierten und immerhin 5.000 Menschen mobilisierten. Die Bewegung kann sich breiter Unterstützung erfreuen: "Auch Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sandte schriftlich 'im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (…) herzliche Grüße'. 'Der Marsch für das Leben ist für den Gesetzgeber und uns Politiker Erinnerung und Mahnung zugleich, den bestehenden Lebensschutz immer wieder zu hinterfragen und auf neue medizinische Entwicklungen lebensschützend und das Leben fördernd zu reagieren', heißt es in seinem Grußwort. Die Deutsche Bischofskonferenz ließ ebenfalls grüßen, mehrere Repräsentanten beider Kirchen nahmen auch persönlich am Marsch Teil. Genau wie einige Vertreter der AfD-Fraktion, die aber nicht offiziell begrüßt wurden."

Interessant zum gleichen Thema in der taz: Patricia Hecht erzählt, warum die AbtreibungsgegnerInnen in Hessen so stark sind.
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Internet

Uploadfilter und EU-Linksteuer rücken nach der Abstimmung de EU-Parlaments vor einigen Tagen in bedenkliche Nähe. Der beste Raum der Öffentlichkeit, den wir je geschaffen haben - das Internet -, könnte zum Opfer eines Urheberrechtgesetzes werden, mit dem Probleme gelöst werden sollen, die noch nicht mal vom Urheberrecht erzeugt wurden, schreibt die EU-Abgeordnete Julia Reda bei wired.co.uk: "Noch ist die Frage offen, ob die Artikel 11 und 13 ihre erhofften Ziele erreichen oder nicht sogar der Medienindustrie, die so sehr darauf drängte, auf die Füße fallen. Eines ist sicher: Sie werden die großen Internetplattformen noch stärken, denn für sie ist es einfacher, damit umzugehen, als für neue Marktteilnehmer. Wir können das freie und offene Netz nicht als ein bloßen Kollateralschaden sterben lassen."
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Religion

Simone Schmollack stellt in der taz die offizielle Studie zum sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche vor, die eigentlich von dem Kriminologen Christian Pfeiffer hätte durchgeführt werden sollen. Aber Pfeiffer hatte sich wegen "Zensur- und Kontrollwünschen der Kirche" zurückgezogen: "Die Kirche ihrerseits argumentierte mit Datenschutz und einem 'Generalverdacht' gegen alle Priester, würden die Akten breit geöffnet. Auch damals schon war von vernichteten und zurückgehaltenen Akten die Rede. Dass Pfeiffer die aktuelle DHG-Studie kritisiert, verwundert demzufolge nicht. Es habe nicht die 'große Befragung aller erreichbaren Betroffenen gegeben, die eigentlich stattfinden müsste', sagte der Kriminologe. Er nannte es 'organisierte Verantwortungslosigkeit', dass man nicht wisse 'wer die Verantwortlichen sind'."

Christiane Florin sagt in einem Kommentar über die Pressekonferenz der Bischöfe, in der die Studie vorgestellt wurde: "Die Strukturdebatten sind wichtig, könnten aber davon ablenken, was den Betroffenen wichtig ist: die Klärung persönlicher Verantwortung. Auf meine Frage, ob unter den mehr als 60 anwesenden Bischöfen einer oder zwei sagen: Ich habe so viel persönliche Schuld auf mich geladen, ich kann mein Amt nicht mehr wahrnehmen, gab es eine sehr kurze Antwort des ansonsten beredten Vorsitzenden. Er sagte 'Nein'."

Wer über die Weigerung der Bischöfe, persönliche Verantwortung zu benennen, empört ist, "kann Liebesentzug durch Geldentzug üben", rät Christian Geyer in der FAZ: "So jemand kann die Zahlung der Kirchensteuer einstellen, kann sich dabei auf sein Gewissen berufen, sofern es an ihm nagt, weil die Kirchensteuer nun ja für alle erkennbar mittelbar den sexuellen Missbrauch unterstützt."
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