9punkt - Die Debattenrundschau

Silbern beschichtetes Spezialpapier

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2018. "Wie konnte das geschehen", fragt die taz vor dem Erdogan-Besuch: Wie konnte ein einst gefeierter Reformer zum Autokraten werden? Der Recherchedienst bellingcat enthüllt die wahre Identität eines der Skripal-Attentäter. Der BAMF-Skandal war ein Presseskandal, aber über diesen Skandal spricht die Presse nicht, schreibt Lorenz Matzat bei Medium. In der Welt erzählt der Kulturwissenschaftler Manfred Osten, wie China den Westen bis 2050 überholen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.09.2018 finden Sie hier

Ideen

Im SZ-Interview mit Max Tholl wirft der Politologe Mark Lilla der deutschen Linken einen Mangel an Identifikation mit ihrem Land und der internationalen Linken zu viel Interesse für Minderheiten vor: "Menschen sehnen sich nach einem Nationalgefühl, sie wollen stolz sein auf ihr Land. Ohne dieses Gefühl der Zugehörigkeit gibt es keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt. Minoritäten in unserer Gesellschaft, die mehr Rechte für sich beanspruchen, müssen die Mehrheitsgesellschaft dazu bringen, sich mit ihnen zu identifizieren. Dazu braucht es eine gemeinsame Identifikationsgrundlage, damit aus Randgruppen Mitbürger werden. Die amerikanische Geschichte ist geprägt von Kämpfen nach gleichberechtigter Staatsbürgerschaft, weil diese der Weg zur Emanzipation ist. Die Linke muss das endlich begreifen, ansonsten ist sie impotent. Aber die Linke liebt es, machtlos zu sein. Linker Widerstand muss scheitern, um das eigene Dasein zu rechtfertigen."

In der Jungle World kommentiert Jörn Schulz eine Studie, die herausgefunden hat, dass die "die extreme Rechte von einer Finanzkrise profitiert, nicht aber von einer Rezession oder wirtschaftlichen Einbrüchen". Für ihn liegt darum die Vermutung nahe, "dass eine Finanzkrise ein Trigger für latenten Antisemitismus ist... Den dubiosen Geschäften der 'globalistischen Elite' stellte die Tea Party die eigene, von schweißtreibender Arbeit und ehrlichem Mittelstand geprägte Bodenständigkeit entgegen: Wall Street versus Main Street. Im rechtslibertären Milieu der USA misstraut man sogar dem Papiergeld und fordert eine Golddeckung der Währung. Ein solcher ökonomischer Primitivismus ist nicht zwangsläufig antisemitisch, aber offen für den Einfluss von Verschwörungsideologien."

Kollektive Entschuldigungen, wie sie verschiedene amerikanische Städte, die im Sklavenhandel eine besondere Rolle spielten, gegenüber den schwarzen Nachkommen vorbringen, sind "unwillentlich rassistisch", denn sie beruhen auf einer Vorstellung von "Sippenhaftung", schreibt der Philosoph Jason Hill, selbst Nachkomme von Sklaven und Immigranten aus der Karibik, in der NZZ: "Sie fordert, dass man die moralische Verantwortlichkeit für Verbrechen übernimmt, die man selbst nicht begangen hat, und dass man die Sünden der Vorväter tragen muss. Aber wie können wir wissen, ob die Vorfahren eines oder einer Weißen Sklavenhalter waren, und nicht vielmehr - vielleicht - Gegner der Sklaverei, oder ganz einfach bescheidene Arbeiter? Wenn Kollektivschuld, so wie ich sie dargestellt habe, eine kaschierte Form kodifizierter kollektiver Schuld der Vorfahren ist, dann gründet diese Art Kollektivschuld - und damit auch ihre Umkehrfunktion, der kollektive Anspruch auf Entschuldigung - auf der krudesten Form von Rassismus: auf biologischem Kollektivismus."

Colin Marshall wundert sich in einem etwas zu ausufernden Essay für Quillette darüber, wie prompt Ian Buruma bei der New York Review of Books gehen musste - Buruma hatte bekanntlich einen Essay des kanadischen Entertainers Jain Ghomeshi publiziert, in dem dieser sich mit den #MeToo-Vorwürfen gegen seine Person auseinandersetzt. Stimmen die Gerüchte, dass die mächtigen Universitätsbuchverlage mit Anzeigenentzug drohten? "Dass die Review einen solchen Druck trotz des Mangels an Beweisen für einen bevorstehenden Boykott der Uni-Verlage verspürte, offenbart eine verblüffende Schwäche der Zeitschrift, die in den letzten Jahren für ihre vergleichsweise robuste finanzielle Gesundheit, besonders im Vergleich mit Amerikas kränkelnden General-Interest-Magazinen bekannt war." Nachzutragen ist, dass eine Gruppe prominenter Autoren, darunter Joyce Carol Oates und Ian McEwan in einem offenen Brief gegen Burumas Weggang protestiert haben, wie der Guardian vorgestern meldete.
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Gesellschaft

Unsere Zukunft liegt im Osten, glaubt der Zukunftsforscher Daniel Dettling in der Welt - denn gerade die Region, die nur unter dem Stichwort "strukturschwach" betrachtet werde, reagiere auf jenen Trend, der von Soziologen als "Entmischung" bezeichnet werde und das Abwandern der jungen, gut Ausgebildeten bezeichne: "Ein gutes Beispiel ist Chemnitz. Die Stadt am Erzgebirge hat seit 1990 rund ein Drittel an Einwohnern verloren. Vor allem junge Frauen sind abgewandert. Chemnitz setzt, wie viele andere Regionen und Städte im Osten auch, auf Zuwanderung. Seit 2009 wächst die Stadt wieder leicht um Studenten, Asylbewerber und Bürger aus anderen EU-Staaten. Wie andere erfolgreiche wachsende Städte verfolgt Chemnitz einen Mix aus Talenten, Toleranz und technologischen Innovationen. Städte, die attraktiv für junge Familien, Senioren und Migranten sind, wachsen besonders stark und haben eine höhere Lebensqualität. Eine Politik, die auf Demografie und Diversity, auf die Vielfalt aller Generationen setzt, zahlt sich am Ende auch ökonomisch aus. Wenn die Gesellschaft dabei demokratisch bleibt."

Japan will kein Einwanderungsland sein - und doch hat der Bevölkerungsanteil der Ausländer seit 2013 um 40 Prozent zugenommen, schreibt der Japanologe Florian Coulmas in der NZZ. Die Verhältnisse erinnern ihn an Deutschland vor einer bzw. zwei Generationen: "Niedrige Geburtenrate, großer Wohlstand, Mangel an Fachkräften, Pflegekräften und solchen, die die Dreckarbeit machen. Alterung und Bevölkerungsrückgang schreiten mit großer Geschwindigkeit voran, so dass der Sog von innen inzwischen größer ist als der Druck von außen. Das Lohngefälle zwischen Japan und den Nachbarländern ist geringer geworden, der Arbeitskräftemangel im Land aber nicht, und das wird sich vorläufig nicht ändern."

Hubertus Knabe hat viel zum Renommee der Gedenkstätte Hohenschönhausen beigetragen, schreibt Alexander Fröhlich im Tagesspiegel: "Und doch war Knabe zuweilen aus der Zeit gefallen. Ein Stück weit hat er sich zuletzt auch verrannt. Zwischen den wichtigen Erzählungen der Opfer von den Taten der Stasi, von der Quälerei, den Eingriffen ins Private, der Zerstörung von Familie hat er den Blick für die Zwischentöne verloren, für das Grau der Erfahrungen in der DDR zwischen Schwarz und Weiß. Zuweilen hat er auch die Unterschiede verwischt zwischen den Diktaturen. Wer links war, war ihm per se als Anhänger einer diktatorischen Ideologie verdächtig. Seine Entschiedenheit, das Absolute seiner Haltung brachte ihm viele Kritiker ein."
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Politik

Bis 2049 will China Weltmacht sein, schreibt der Kulturwissenschaftler Manfred Osten in der Welt und hält das mit Blick auf die seit Deng Xiaoping geförderten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Natur- und Technikwissenschaften) nicht für unwahrscheinlich: "Es sind jene Fächer, mit denen es dem Westen gelang, China 200 Jahre lang wissenschaftlich, wirtschaftlich und militärisch zu demütigen. Und es sind diese Fächer, die gezielt gefördert werden. Seit 1999 durch Forschungsinvestitionen mit einer jährlichen Steigerungsrate von 20 Prozent. Und wenn sich China heute als Sieger der Globalisierung erweist, so nicht nur durch die Faktoren Kapital und Arbeit, auf die sich das neue Reich der Mitte seit Maos Tod erfolgreich stützen konnte. Es war und ist vor allem der Siegeszug des Know-how, mit dem es China gelungen ist, bei gleichzeitiger Öffnung der Wirtschaft in nur wenigen Jahrzehnten Hunderte Millionen Menschen aus der Armut zu holen und das neue Reich der Mitte zur größten Handelsnation der Welt und bald auch zur größten Wirtschaftsnation aufsteigen zu lassen." Außerdem weist er auf  das Ergebnis eines Berichts des amerikanischen Unternehmens Mandiant hin: "Eine außerhalb von Shanghai stationierte Abteilung der chinesischen Armee - die Einheit 61398 - befasst sich offenbar ausschließlich mit der Koordination von 'Angriffen auf westliche Unternehmen'."
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Medien

Lorenz Matzat fasst bei Medium noch einmal den Skandal um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zusammen, der in Wirklichkeit ein Skandal der Desinformation durch so seriöse Medien wie Radio Bremen, NDR und Süddeutsche Zeitung war. Die Vorwürfe gegen das Amt sind entkräftet - und wurden übrigens von vornherein von Journalisten mehr oder weniger erdacht. Aber "aus dem Rechercheverbund selbst ist keine selbstkritische Bestandsaufnahme bekannt. In der Folgeberichterstattung, etwa bei tagesschau.de oder in der SZ, wird nie erwähnt, dass man selbst anfangs fragwürdig berichtet hat. Im Gegenteil, ganz bescheiden hieß es nur noch: 'Darüber hatten unter anderem SZ und NDR berichtet …'.(...) In der Branche selbst, zumindest legt dies ein Blick in Archive der Meta-Journalismusmedien nahe, ist es auch kein Thema." Matzat kritisiert am Ende die Weigerung der meisten deutschen Medien, eigene Fehler von sich aus benennen und zu thematisieren.

Michael Sontheimer erinnert an die Gründung der taz vor vierzig Jahren. (Eigentlich erschien sie dann ab 1979.) Die ersten Initiaitiven hatte es in Frankfurt gegeben. "Christian Ströbele, der spätere Geschäftsführer Kalle Ruch und andere Berliner erklärten, nur mit den in Westberlin verfügbaren Subventionen und Steuerabschreibmöglichkeiten ließe sich das Blatt längerfristig finanzieren. In West-Berlin wäre das rund 30.000 Mark billiger im Monat als in Frankfurt. Aber sprechen das Frontstadtklima und die Insellage in der surrealen Mauerstadt nicht gegen Berlin als Standort? Umgekehrt: Sind die Frankfurter nicht zu abgehoben und ignorant gegenüber den sozialen Bewegungen und basisdemokratischer Organisation? Schließlich gingen 43 Arme hoch für Berlin, 30 für Frankfurt. Es gab Wut und Tränen bei Unterlegenen." Die heutige taz wird von Veteranen der Gründungs-taz bestritten.

Unter anderem moderieren im Jubi-Dossier Max Thomas Mehr und Hannes Winter ein Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit und Martin Schulz. Und die taz arbeitete damals mit modernster Technik, erinnert sich der damalige Techniker Dieter Metk: "Ganz neu waren .. Telefaxgeräte. Verbunden über analoge Telefonleitungen wurde auf der sendenden Seite das Manuskript auf eine Trommel gespannt, auf der empfangenden Seite ein silbern beschichtetes Spezialpapier. Wenn beide Seiten die richtigen Tasten gedrückt hatten, gingen Piepstöne über die Leitung."
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Europa

"Wie konnte das geschehen", fragt taz-Türkei-Korrespondent Jürgen Gottschlich, der sich aus Anlass des Erdogan-Staatsbesuchs in Berlin an seine erste Begegnung mit Erdogan erinnert: "In einem Porträt Ende 2004 schrieb ich: 'In den zwei Jahren der Regierung Erdogan sind mehr Reformen realisiert worden als in den 20 Jahren davor. Meinungsfreiheit und Null-Toleranz gegen Folter wurden proklamiert und gesetzlich verankert, kulturelle Rechte für die kurdische Minderheit garantiert und die Todesstrafe endgültig abgeschafft.' Heute, 14 Jahre später, kann von Meinungsfreiheit keine Rede mehr sein, seit dem Putschversuch im Jahr 2016 wird in Polizeihaft wieder gefoltert, die Kurden im Land gelten wieder pauschal als PKK-Sympathisanten und 'Terrorhelfer'. Erdogan fordert regelmäßig das Parlament dazu auf, die Todesstrafe wiedereinzuführen."

Der Recherchedienst Bellingcat lässt nicht locker. Durch Recherchen zum Mordversuch an Sergei Skripal und seiner Tochter konnte Bellingcat bereits nachweisen, dass die beiden mutmaßlichen Attentäter Agenten des Geheimdienstes GRU sind (unsere Resümees). Nun "konnte Bellingcat die tatsächliche Identität eines der beiden beiden Offiziere bestätigen. Der Verdächtige unter der Deckidentität 'Ruslan Boschirow" ist in Wirklichkeit Oberst Anatoli Tschepiga, ein hoch dekorierter GRU-Offizier, der mit Russlands höchstem Staatspreis - Held der russischen Föderation - ausgezeichnet wurde. Nach der Identifikation durch Bellingcat konnten viele Quellen, die die Person kennen, die Identität des Verdächtigen bestätigen."

Bedauerlich, dass man die EU nicht einfach verkleinern kann, meint Christoph B. Schiltz in der Welt mit Blick Orban, Salvini und Co.: "Das Grundproblem dieser EU ist, dass sie zu groß ist und zu viele heterogene Interesse in sich birgt. Und anders als jeder Sport- oder Kleingärtnerverein kann diese EU nicht diejenigen ausschließen, die fortwährend gegen ihre Werte verstoßen. Im Klartext bedeutet das: Wer andauernd Regeln bricht, darf weiterhin mitbestimmen und kann sogar notwendige Entscheidungen blockieren." Der Tagesspiegel stellt die deutsche Fassung eines Aufrufs online, in dem europäische Politiker und Politologen ein Jahr nach Macrons EU-Rede eine Neugründung der EU fordern.
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