9punkt - Die Debattenrundschau

Suchbewegung ohne Ziel

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.10.2018. Buchmesse 2! Hier geht's mehr um den Markt. So schlecht steht es gar nicht um die Branche, versichert Buchmessenchef Juergen Boos in der FR. Die Umsätze seien stabil, außerhalb Deutschlands wachse der Markt. Die kleinen Verlage sollen trotzdem Subventionen bekommen, fordert die taz. Rüdiger Wischenbart schildert im Perlentaucher das Dilemma der Verlage. Außerdem: Es gibt eine neue Normalität des Antisemitismus in Europa, beobachtet Richard C. Schneider in den Blättern. Und Google plus macht dicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.10.2018 finden Sie hier

Kulturmarkt

Zu Beginn der Frankfurter Buchmesse beruhigt Buchmessenchef Juergen Boos in der FR die Verlage: Zwar sei die Zahl der BuchkäuferInnen zurückgegangen, die Umsätze sind es aber nicht, was vor allem den Preissteigerungen zu verdanken ist. "Der Buchhandel ist eine der stabilsten Branchen in der Welt", so Boos. "Bei uns in Deutschland ist eine Sättigung des Buchmarktes eingetreten. Aber wir sehen zugleich Wachstum auf den Buchmärkten in Nordamerika, Südostasien. Wir haben zum ersten Mal wieder einen Gemeinschaftsstand aus Kuba. Es kommen Verlage aus 107 Ländern nach Frankfurt. Und Fachbesucher aus 140 bis 150 Ländern. Das ergibt insgesamt ein differenzierteres Bild." Und auch der Handel mit Rechten wächst: "Wir verzeichnen bei den teilnehmenden Agenten ein Wachstum um 5,6 Prozent."

Der Staat soll kleinen Buchverlagen helfen, fordert Klaus Hillenbrand in der taz: "Kleine Verlage haben die Bundesregierung um Hilfe gebeten. Die will einen Verlagspreis ausloben. Das ist freundlich, aber es wird absehbar nicht reichen. In einer Zeit, in der die Leser sich um ihre künftigen Bücher sorgen müssen, wäre es angemessen, dass sie auch ihren Verlegern zur Seite stehen - und Subventionen für ihre kleinen, von der Pleite bedrohten Verlage fordern."

Jens Uthoff schildert in einer dazugehörigen Reportage die schwierige Lage der Kleinverlage: "Mit dem Münchener A1 Verlag, dem Stroemfeld Verlag und dem Tübinger Klöpfer & Meyer Verlag sind in letzter Zeit wichtige Kleinverlage eingestellt worden, insolvent geworden oder akut von Insolvenz bedroht." Uthoff weist auch auf mögliche Modelle einer Förderung hin: "In den deutschsprachigen Nachbarländern gibt es bereits Verlagsförderung. In Österreich können kleine Verlage für ihre Frühjahrs- und Herbstprogramme sowie für Marketingkosten Fördergelder von jeweils 10.000 bis 60.000 Euro beantragen." Dirk Knipphals regt im taz-Dossier außerdem an, Lesegruppen zu gründen.

Lothar Müller beobachtet in der SZ, das die Messe zugleich ihre Führungsrolle im Lizenzhandel verliert und sich mehr und mehr wie Leipzig als "Feier" des Buchs präsentiert: "Das Buch wird als Leitmedium inszeniert, weil es diese Position zu verlieren droht. Wer in die Branche hineinhört, stößt auf ein Stimmengewirr, in dem sich Beunruhigung und Beschwichtigung mischen."

Das Dilemma der Verlage angesichts der Digitalisierung, von Amazon und der Smartphones schildert Rüdiger Wischenbart im Perlentaucher: "Für die 'Alten' ist es an solchen Bruchstellen stets dramatisch schwierig, den Spagat zu üben, nämlich mit dem Strategie-Denk- und Management-Kopf energisch das Neue hereinzuholen, und doch gleichzeitig das 'Bestehende' weiterzuführen. Die Gehälter der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Erlöse für die Eigentümer werden immer noch aus dem 'Altgeschäft' finanziert."

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Gesellschaft

Dass das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin mehr daran arbeitet, "Islamophobie" als Entsprechung zu Antisemitismus zu definieren als über Antisemitismus zu forschen, war schon häufiger kritisiert worden. Jetzt meldet Frederik Schindler in taz online, dass das Zentrum  für die Erstellung eines "Counter-Islamophobia Kit" mit israelfeindlichen Organisationen zusammengearbeitet hat: Eine dieser Organisationen ist die Islamic Human Rights Commission (IHRC). "Die IHRC ist der Hauptorganisator des jährlichen Al-Quds-Tags in London, einer ursprünglich vom iranischen Regime initiierten Hassdemonstration gegen Israel. Dabei wird zur 'Befreiung von Jerusalem' aufgerufen."

Es gibt eine neue (oder eigentlich alte?) Normalität des Antisemitismus in Deutschland und Europa, und das auch in bürgerlichen Kreisen, beobachtet Richard C. Schneider, der ehemalige Israelkorrespondent der ARD, in den Blättern. Er kritisiert auch Benjamin Netanjahu, der taktische Bündnisse mit Rechtspopulisten wie Viktor Orban eingeht: "Netanjahus Weltbild ist ein zutiefst negatives. Er sieht Europa bereits als verloren an. Er ist überzeugt, dass die Muslime in Europa den Kontinent auf Dauer und für immer grundlegend verändern werden, dass der Westen verloren ist. Darum sind all diejenigen, die nichts mehr von Brüssel halten und gegen die Muslime agitieren, seine natürlichen Verbündeten. Mit diesen arbeitet er erfolgreich daran, die Nahostpolitik der EU zu unterlaufen. Brüssels eindeutige, häufig unausgewogene propalästinensische Haltung wird zunehmend von Ungarn, der Slowakei, Polen und anderen blockiert... Was aber bedeutet das für die Juden in Europa, in Osteuropa zumal?"
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Internet

Bei Google plus, das einst mit großen Ambitionen als Konkurrenz zu Facebook gegründet wurde und dann floppte, gab es im Jahr 2015 eine gravierende Sicherheitslücke, die der Konzern lieber nicht bekanntgab, berichtet unter anderem Josh Constine in Techcrunch. Google Plus wird nun mir nichts dir nichts geschlossen! Die Software soll Firmen für Intranets verkauft werden. Teuer wird es für Google nicht: "Da der Bug und die daraus resultierende Sicherheitslücke im Jahr 2015 begannen und im März entdeckt wurde, bevor die europäische DSGVO im Mai in Kraft trat, wird Google wahrscheinlich eine Geldbuße von 2 Prozent des weltweiten Jahresumsatzes erspart bleiben, die es sonst hätte zahlen müssen, weil es das Problem nicht innerhalb von 72 Stunden offengelegt hat."
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Europa

Am Samstag beklagte sich der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland in einem Gastkommentar für die FAZ über die neue globalisierte Klasse, die den Rest der Bevölkerung auspresse und in einer "abgehobenen Parallelgesellschaft" lebe. Wo lebt der Mann, fragt sich Olaf Gersemann in der Welt: "Natürlich gibt es heute eine Schicht hypermobiler Fachkräfte, deren Heimatverbundenheit, wie von Gauland unterstellt, limitiert ist. Aber wen Gauland meint mit der 'neuen Spezies der digitalen Informationsarbeiter', die 'vor allem' die Herrschaft übernommen habe, das bleibt im Dunkeln (Onlinejournalisten vielleicht? Programmierer? Webdesigner?). Und gerade das obere Management in deutschen Großunternehmen zeichnet im Zweifel eine fast nachdenklich stimmende Bodenständigkeit aus, dafür sorgt wohl auch die Verortung ihrer Chefsessel. Essen beherbergt mehr Dax- und MDax-Konzerne als Köln und Frankfurt zusammen. Und die allergrößten Konzerne sitzen in Städten wie Leverkusen, Ludwigshafen, Wolfsburg oder der 16.000-Seelen-Gemeinde Walldorf."

Christian Jakob spricht in der taz mit dem bulgarischen Journalisten Atanas Tchobanov, dessen Kollegin Viktoria Marinova am Wochenende ermordet aufgefunden wurde. Sie hatte gerade eine der ganz wenigen investigativen Sendungen im bulgarischen Fernsehen gestartet, bei der es auch um mutmaßlichen Betrug mit EU-Fördermitteln in Bulgarien ging (mehr hier): "Wir wissen nicht, ob ihr Tod mit ihrer Arbeit zu tun hat. Fakt ist, dass sie meine Kollegen eingeladen hat. Sie müssen wissen, dass es in Bulgarien sehr schwierig ist, im Fernsehen ein Forum für solche Themen zu bekommen. Die Medien in Bulgarien werden streng kontrolliert. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir auf Platz 111 der Weltrangliste der Pressefreiheit stehen."

Gestern lief in der ARD eine Dokumentation über die Morde an der maltesischen Journalistin Daphne Caruana Galizia und ihrem slowakischen Kollgen Jan Kuciak, die aber offenbar (noch?) nicht in der Mediathek zu sehen ist - hier die Ankündigung der Sendung.

In Britannien versuchen die Brexiters vermehrt, die proeuropäische Tradition des Landes auszulöschen, notiert Rafael Behr in einem Kommentar für den Guardian. "Das geschieht so heimtückisch, dass es schwer sein kann, sich zu orientieren. Vor nicht allzu langer Zeit waren Vergleiche zwischen der EU und der Sowjetunion der Stoff für verschwitzte Schmierfinken in Ukip-Webforen. Jetzt erscheinen sie in den Reden eines Außenministers, der für den Verbleib in der EU gestimmt hatte. Das ist kein gewöhnliches Umschwenken pro-Brexit. Es ist symptomatisch für ein Projekt, so zu tun, als hätte Großbritannien nie pro-EU-Konservative oder eine proeuropäische politische Tradition gehabt. Es ist die systematische Löschung von remain aus der nationalen Geschichte.
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Ideen

Gar nicht so schmale Überschneidungen zwischen manchen sehr linken und sehr rechten Diskursen findet Marko Martin in einem Essay bei den Salonkolumnisten: "Was dem einen sein binnen-homogen gedachtes 'Multikulti' und ein mikroskopisch immer weiter ausdifferenzierter Minderheiten-Status, ist dem anderen sein ebenso homogener 'Ethnopluralismus' - und beide sind einig in der Ablehnung eines Menschenrechts-Universalismus, der als starrer westlicher Dominanz-Mechanismus denunziert wird."

Im Gespräch mit Tania Martini in der taz will Chantal Mouffe, Fürsprecherin eines linken Populismus, rechtspopulistische nicht als rechtsextreme Parteien sehen: "Auch die FPÖ ist keine Neonazi-Partei. Natürlich sind einige rechtsextrem, aber die Art, diese Parteien zu stigmatisieren, ist eine Strategie, um sich selbst als gute Demokraten zu präsentieren und den Rechtspopulismus als moralische Krankheit abzutun. Die anderen für Rassisten, Sexisten und Homophobe zu halten ist eine einfache Strategie für die sogenannten guten Demokraten, um keine Selbstkritik üben zu müssen."

Zielstrebigkeit und Fleiß - alles schön und gut, aber in der wissenschaftlichen Forschung sollte man auch die Eingebung, den glücklichen Zufall (Serendipität) nicht unterschätzen, fordert der Autor Felix Philipp Ingold in der NZZ. "Serendipität hat wesentlich mit Exploration und Experiment zu tun. Es ist eine Suchbewegung ohne vorgegebenes Ziel oder Objekt, ein forschendes Nomadisieren in möglichen Welten (auch der des Traums) ohne fassbaren Fluchtpunkt und Horizont. 'Man probiert', berichtet Hans-Jörg Rheinberger aus seiner Laborerfahrung, 'man lässt sich auch ablenken, ist offen dafür, dass einem etwas zufällt.' Aus blindem Zufall kann solcherart ein produktiver Einfall werden."
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