9punkt - Die Debattenrundschau

Gegensatzpaare

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.10.2018. Brandgefährlich findet auf Zeit online der Schriftsteller Zaza Burchuladze die mächtige Kirche in Georgien. In der taz wünscht sich der Sozialwissenschaftler Werner Schiffauer mehr Zusammenarbeit von Juden und Muslimen, schließlich lebten beide hier in einem "Drittland". Die taz findet durchaus Analogien in Alexander Gaulands Antiglobalisierungskommentar in der FAZ zu einer Hitler-Rede. Die NZZ winkt dagegen ab: So reden Linke doch schon lange. In der Zeit zieht Eva Illouz positive Bilanz von #MeToo. Politico schlägt vor, Facebook zu verstaatlichen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.10.2018 finden Sie hier

Europa

Was die Deutschen gerade so toll an Georgien finden, kann der Schriftsteller Zaza Burchuladze nicht verstehen, erklärt er auf Zeit online. Die Kirche verpestet für ihn in Georgien alles: verprügele Homosexuelle, verstoße gegen Gesetze und segne sogar Autos. "Bei der Segnung der Wohnung verliest der Priester das Gebet, schreitet dabei von Zimmer zu Zimmer und besprüht die Wände und Decke mit Weihwasser. Zum Schluss klebt er an die Eingangstür (von innen und außen) einen speziellen Sticker. Damit sich in die Wohnung nicht zufällig ein Teufel verirrt. Auch die Autos werden mit Weihwasser bespritzt und am Gepäckträger mit Extrasticker versehen. Es ist selbstverständlich, dass die schwarzen Land Cruiser der Geistlichen die Verkehrsregeln weniger beachten, nicht bei Rot stehenbleiben, Unfallsituationen schaffen und wie die apokalyptischen Reiter durch die Straßen der Stadt rasen."

Das Jüdischen Museum Berlin veranstaltet eine internationale Konferenz zum Thema "Living with Islamophobia", das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin erstellt (zusammen mit der israelfeindlichen Islamic Human Rights Commission) ein "Counter-Islamophobia Kit" - für den Sozialwissenschaftler Werner Schiffauer geht das in Ordnung, wie er in der taz erklärt, er sieht in der Zusammenarbeit von Juden und Muslimen sogar eine "spezifische Chance" für beide Gruppen: "Diese liegt darin, dass beide in einem Drittland leben, in diesem Fall Deutschland, und hier ein neues Kapitel aufschlagen können. Angehörige von Minderheitenreligionen teilen viele Probleme - dies erlaubt es, Querverbindungen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Das beginnt bei der Wahrnehmung der strukturellen und inhaltlichen Parallelen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus und reicht bis zur Wahrnehmung gemeinsamer Anliegen, etwa des Respekts vor religiösen Geboten wie dem Schächten oder Beschneiden."

Klaus Hillenbrand hat für die taz Alexander Gaulands FAZ-Kommentar mit der Hitler-Rede von 1933 verglichen, deren thematische Ähnlichkeit gestern Wolfgang Benz im Tagesspiegel thematisiert hatte (unser Resümee): "Nein, es ist kein Plagiat, was Gauland hier aufgeschrieben hat. Aber die Analogien sind auffällig. Beide Autoren konstruieren Gesellschaften so um, wie es ihren politischen Ambitionen entspricht. Weder bei Hitler noch bei Gauland existieren Gesellschaftsklassen oder Schichten. Die Welt ist nicht zwischen oben und unten gespalten, nicht zwischen Besitzenden und Besitzlosen. Vielmehr wird eine Gruppe von Landfremden eingeführt, derer es sich zu erwehren gilt. ... So entsteht ein Gegensatzpaar zwischen dem beschützenswerten und verratenen Heimatlichen einerseits und den herumreisenden Volksfremden auf der anderen Seite."

In der NZZ findet Hansjörg Müller den Vorwurf gegen Gauland heuchlerisch: "Parallelen zwischen Hitlers Worten und denen Gaulands kann man durchaus sehen. Doch dann müsste man fairerweise auch darauf hinweisen, dass die meisten Globalisierungskritiker, ob rechts oder links, gelegentlich ein wenig wie Hitler tönen. Das macht sie noch lange nicht zu Nazis oder Antisemiten: Womöglich hat sich Gauland ja auch von dem 2015 verstorbenen Soziologen Ulrich Beck inspirieren lassen, der 2009 der Zeit sagte, zu den Verlierern zählten 'die Beschäftigten in Branchen, die regional verhaftet sind und die durch die Globalisierung in die Defensive geraten', während Globalisierungsgewinner 'gezielt Ländergrenzen überschreiten und mit großen Vorteilen rechnen' könnten." Auch der Autor Michael Seemann (hier), der frühere Deutschlandkorrespondent der Financial Times, David Goodhart (hier), und Jakob Augstein (hier) hätten sich sinngemäß ähnlich geäußert.

In der Zeit erklärt der Jurist John Dalhuisen, warum er seinen Job als Direktor der Abteilung für Europa und Zentralasien bei Amnesty International gekündigt hat: Die Menschenrechtsorganisation war ihm zu kompromisslos und befördert damit seiner Ansicht nach rechte Parteien. "Standfest muss man bei Kernrechten wie dem Folterverbot sein. Da darf es keine Abstriche geben, ein bisschen foltern geht nicht. Auch der Flüchtlingsschutz zählt für mich dazu. Doch dessen Kern, die Genfer Flüchtlingskonvention, umfasst allein das Verbot, Menschen in ein Land zurückzuschicken, in dem ihnen Krieg, Tod, unmenschliche Behandlung oder politische Verfolgung drohen. Das ist die rote Linie, die nicht verrückt werden darf. Daraus folgt aber nicht, dass alle Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa wollen, Aufnahme in der EU finden müssen. Menschlich und moralisch ist dieser Impuls verständlich, aber er ist realitätsfremd und menschenrechtlich nicht geboten." (Ähnlich hat sich Dalhuisen vor einiger Zeit auch in der FAS geäußert.)
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Internet

Im Interview mit der SZ kritisiert die in Amerika lehrende türkische Soziologin Zeynep Tufekci scharf die sozialen Medien und ihr Geschäftsmodell, das darauf basiert, den Nutzer so lange wie möglich auf den eigenen Seiten zu halten, um ihm Werbung anzudrehen. Wie aber hält man Nutzer auf der Seite? Mit immer extremerem Inhalt, so Tufekci: "Im Präsidentschaftswahlkampf 2016 habe ich auf Youtube nach Videos von Wahlkampfauftritten Donald Trumps gesucht. Das Netzwerk schlug mir dann automatisch Videos von white supremacists vor, sehr rassistisches Zeug, auch frauenfeindlich. Ich habe dasselbe mit Hillary Clinton und Bernie Sanders probiert. Was ich fand, war nicht viel besser. Ich sah schreckliche Verschwörungstheorien von links, zum Beispiel über den 11. September. Creepy! Die Maschine gab mir nicht mehr von dem, was ich schon angesehen hatte. Sie gab mir immer extremere Versionen davon."

Die Schriftstellerin Ingrid Brodnig erlebt das ähnlich bei der #MeToo-Debatte im Netz, wo die sexistischsten Kommentare oft am erfolgreichsten sind, sagt sie im Interview mit SpOn: "Wenn Sie erfolgreich werden wollen im Internet, ist ein guter Tipp leider: Schüren Sie Wut! Wut ist eine aktivierende Emotion und führt zu mehr Interaktionen. Wenn ein Beitrag viele Kommentare erntet, blendet das Facebooks Software umso mehr Menschen ein - schlimmstenfalls belohnt die Plattform Beiträge, die Wut säen. ... Wir sollten es nicht hinnehmen, dass die Logik der Plattformen womöglich auch jene digitale Debatte verstärkt, in der Rüpel mehr Aufmerksamkeit bekommen als gemäßigte Stimmen."

Bei Politico schlägt Gianmarco Raddi vor, Facebook gleich zu verstaatlichen: "Die Einrichtung neuer öffentlicher Social Media oder die Umwandlung von Facebook in eine unabhängige, unparteiische Einheit, ähnlich der BBC, würde die Vorteile sozialer Netzwerke erhalten und gleichzeitig unsere Daten vor kommerziellen und politischen Interessen schützen."

Und: Ebenfalls im Interview mit der SZ warnt der britische Soziologe Jonathan Lusthaus vor im Internet agierenden mafiaähnlichen Verbrechernetzwerken: "Wir sehen eine hochgradige Spezialisierung und Arbeitsteilung, es gibt Hierarchien und Führungsebenen."
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Gesellschaft

In der Zeit zieht die  Soziologin Eva Illouz eine insgesamt positive Bilanz der #metoo-Bewegung. Kritik übt sie aber auch, besonders an der Vermengung von harten und trivilen Problemen. Zu letzteren zählt sie die Kritik an Ian Buruma, der als Chefredakteur der NYRB einen Beitrag des iranisch-kanadischen Radiomoderator Jian Ghomeshi veröffentlicht hatte, den mehrere Frauen der sexuellen Gewalt beschuldigt hatten: "Beide Männer verloren ihre Arbeit. Dass beide trotz des gewaltigen Unterschieds der ihnen zur Last gelegten Taten dasselbe Schicksal erlitten, ist unangemessen. Diese Konsequenz wirft Fragen nach dem Urteilsvermögen der #MeToo-Anhängerinnen und ihrer Fähigkeit auf, Grundprinzipien unserer moralischen Welt zu bedenken, nämlich die Notwendigkeit, Strafen ins Verhältnis zu den jeweiligen Straftaten zu setzen. Diese Diskussion sollte zweifellos die nächste Phase der Bewegung bilden."

Auf für Paare hat #metoo etwas verändert, meint der Sexualtherapeut Ulrich Clement im Gespräch mit dem Zeit online: "Das Neue ist gar nicht unbedingt, dass Frauen Nein sagen, sondern dass sie es in dem Bewusstsein tun, damit auch recht zu haben. Sie sagen jetzt also Nein und denken dabei nicht mehr 'Ich bin die Spielverderberin' oder 'Ich bin frigide'. Das Nein muss nicht mehr mit einer Selbstabwertung einhergehen, sondern wird als authentisch erlebt und damit zu einer ebenso legitimen Seite der Sexualität wie das Ja."
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