9punkt - Die Debattenrundschau

Sie, und nicht der Prinz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.10.2018. Die Zeitungen staunen über die Zweistimmigkeit der gemeinsamen Rede Aleida und Jan Assmanns zum Friedenspreis. Der Guardian bringt die längst fällige Hommage auf das Bürgerjournalismusprojekt Bellingcat, das über die Skripal-Attentäter mehr herausfand als die Geheimdienste.  Guardian und SZ stellen sich der düsteren Perspektive eines möglichen Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasilien. Und ein Glück, das die CSU so stark verloren hat, meint Bernd Ulrich in der Zeit.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.10.2018 finden Sie hier

Politik

Nicholas Kristof zieht in der New York Times die bislang katastrophale Bilanz des saudi-arabischen Prinzen Mohammed bin Salman (gern MBS genannt), der nur kurz von einigen Medien (auch der Times) als Reformer gefeiert wurde und nun sowohl  mit der brutalen Politik in Jemen, als auch mit der Verfolgung von politischen Aktivisten fortfährt - von dem möglichen Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi ganz zu schweigen: "Fairerweise muss man zugestehen, dass er Frauen das Fahren erlaubte. Aber er verhaftete auch die Frauenrechtlerinnen, die sich für das Recht zu fahren eingesetzt hatten. Saudi-Arabien organisierte sogar die Inhaftierung einer Frauenrechtlerin, Loujain al-Hathloul, im Ausland und ihre Rückkehr in Handschellen. Sie wurde im Juli 29 Jahre alt in einer saudischen Gefängniszelle, und ihre Ehe ist beendet. Sie, und nicht der Prinz, der sie einsperrt, ist die heldenhafte Reformerin."

Die brasilianische Autorin Katherine Funke ist in der SZ verängstigt und entsetzt von der - durchaus begründeten - Vorstellung, der rechte Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro könnte die Wahlen in Brasilien gewinnen. "Vor der Wahl hat Carlos Bolsonaro, einer der Söhne des 'Hauptmanns', auf Instagram ein Foto gepostet. Es zeigt einen homosexuellen Aktivisten, der in Anspielung auf gängige Foltermethoden mit Striemen auf dem nackten Oberkörper, den Mund weit aufgerissen, eine Plastiktüte über dem Kopf trägt. In Rio veröffentlichte der Kandidat Rodrigo Amorim, den Bolsonaro unterstützt, ein Foto, auf dem er ein Straßenschild mit dem Namen von Marielle Franco zerstört. Die schwarze Stadträtin, eine Schwulen- und Lesben-Aktivistin, wurde vor einigen Monaten ermordet. Amorim wurde trotzdem in den Landtag von Rio de Janeiro gewählt. Ich befürchte, dass einige Anhänger Bolsonaros sich die Rückkehr zur Folter wünschen." Dass Funke als Alternative nur die Kommunisten sieht, macht einen allerdings auch nicht froh.

Bei den brasilianischen Frauen ist Jair Bolsonaro trotz seiner sexistischen Sprüche sehr beliebt - gerade weil er gegen Feministinnen hetzt, schreibt Anna Jean Kaiser im Guardian. So hat sein Wahlkampfteam erfolgreich die #EleNão-(er nicht)-Kampagne von Frauen gegen Bolsonaro umgedreht: "Auf WhatsApp und Facebook - wo die Mehrheit der Bolsonaro-Kampagne ausgetragen wurde - zirkulieren Memes, die Bilder von Pro- und Anti-Bolsonaro-Frauen gegenüberstellen. In einem steht eine weibliche Bolsonaro-Anhängerin umgeben von brasilianischen Fahnen, Augen geschlossen und Faust in der Luft, mit einem schlafenden Kind über der Schulter; die Frau aus dem #EleNão-Protest schreit, oben ohne und mit Bodypainting beschmiert. (Die überwiegende Mehrheit der Protestteilnehmer war vollständig bekleidet.) ... Laut Umfragen vor der fragmentierten ersten Runde von 13 Kandidaten war Bolsonaro mit 27 Prozent der Stimmen der beliebteste Kandidat bei Frauen. Die jüngste Umfrage zur Stichwahl besagt, dass er etwa 42 Prozent der weiblichen Wählerschaft gewonnen hat."
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Internet

Carole Cadwalladr bringt im Guardian die längst fällige Hommage auf das Bürgerjournalismus-Projekt Bellingcat, das es - anders als die britischen Geheimdienste - fertigbrachte, die Identitäten der beiden russischen Skripal-Attentäter zu benennen (unsere Resümees). Ursprünglich gegründet wurde Bellingcat von dem ehemaligen Blogger Eliot Higgins in seiner Wohnung. "Die Klärung der Identität dieser Männer ist eine wirklich bemerkenswerte Geschichte. Sie zeigt, wie die Crowd und einige Open-Source-Techniken Heldentaten vollbringen können, die uns daran erinnern, wie wir uns das Netz früher dachten, als technisch-utopischen Raum eines Traums, der in den letzten zwei Jahren so gravierend beschädigt wurde. Die Pionierleistungen von Bellingcat sind eine inspirierende Erinnerung daran, was noch möglich ist."
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Ideen

Roman Bucheli resümiert in der NZZ die feierliche Rede von Aleida und Jan Assmann für den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Er ist  außerordentlich beeindruckt von der nüchternen Sachlichkeit, mit der beide auf die "politischen Brandstifter" antworteten: "Die Grundlage gemeinsamer Interessen könne immer nur ein 'kulturelles Gedächtnis' sein, das Ergebnis lebendiger und permanenter Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart sei: 'Deshalb entsteht Identität nicht durch Leugnen, Ignorieren oder Vergessen, sondern braucht ein Erinnern, das Zurechnungsfähigkeit und Verantwortung ermöglicht.' Sie traten damit entschieden einer Geschichtsvergessenheit entgegen, die nicht nur in Deutschland einen bornierten Nationalismus befördert. Ihr Engagement für die Res publica, für das Gemeinsame der Menschen, stellten sie unter ein Motto von Karl Jaspers, einem ihrer illustren Vorgänger als Preisträger: 'Wahr ist, was uns verbindet!'"

An diesem Punkt der Assmann-Rede ist Ulrich Gutmair in der taz allerdings skeptisch: "So wichtig die Erinnerung an die deutschen Verbrechen ist, so gewagt erscheinen die Idee ihres befreienden Charakters und die Vorstellung des Teilens. Ob 'wir' uns durch Erinnerung an die Verbrechen der Altvorderen 'befreien' können, ist nicht ausgemacht - zumal offen bleibt, wovon. Und es stellt sich die Frage, ob die Nachkommen der Täter mit den Nachkommen der Opfer diese Erinnerung teilen können, ohne dass ein Rest des eben nicht gemeinsam Teilbaren bliebe."

Patrick Bahners staunt in der FAZ über die Zweistimmigkeit der Rede, die Jan und Aleida Assmann abwechselnd sprachen: "Sie ließ die Wörter fugenlos aufeinander folgen, schlug eine Höhe an, die sie ohne Variation durchhielt, erzeugte Intensität durch Verdichtung. Auch er sprach mit Nachdruck, ließ indes die Sätze ausschwingen, betonte jedes zweite Wort, wie um die Herkunft feierlicher Prosa aus der durch Gebundenheit eingängigen Rede der Dichter zu betonen: ein großväterlicher Urtyp des Erzählers, auf äußerste Verständlichkeit bedacht."
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Europa

Günter Nooke (CDU), Afrika-Beauftragter der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat vor einer Woche nach acht Jahren im Amt gegenüber der BZ in Berlin seine Erfahrungen resümiert und spricht unter anderem von einem positiven Erbe der Kolonialzeit. Sarkastisch kommentiert Dominic Johnson n der taz, dass Nooke die Verbrechen der deutschen Kolonisatoren - vor allem den Völkermord in Namibia - nicht einmal anspricht: 'Wenn das positive Erbe der Kolonialherrschaft in Afrika darin besteht, 'den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen", ist die Vertreibung von Menschen aus ihrem Land in die Wüste und ihre kollektive Vernichtung natürlich kein Verbrechen, sondern ein Entwicklungsschub."

Zeit-Politikchef Bernd Ulrich ist mit dem einordnenden Essay zur Bayern-Wahl, die er als "eine der wichtigsten in der Geschichte der Bundesrepublik" bezeichnet, als einer der ersten da. Dass die Wähler die CSU abstraften, ist für ihn ein gutes Zeichen: "Diese Partei hatte zwischenzeitlich das hetzerische Vokabular der AfD übernommen und damit den humanitären Minimalkonsens dieses Landes verlassen, sie hat mit dem Kreuzerlass die christliche Religion zum Instrument im Wahlkampf herabgewürdigt und damit die Trennung von Staat und Kirche aufgeweicht... Hätten die bayerischen Wählerinnen und Wähler all das belohnt und ratifiziert, dann wäre der Weg zu einer anderen Republik frei." Eine andere Folgerung aus der Wahl zieht Peter Unfried in der taz: Die Grünen sind jetzt "die unpopulistischste Partei".
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Kulturpolitik

Niemand will die westlichen Museen leeren, sagt die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die gerade für Emmanuel Macron überprüft, wie koloniale Raubkunst restitutiert werden kann, im Interview mit der NZZ. Aber eine gerechtere Verteilung der Kunstschätze - und zwar unabhängig davon, ob sie formal rechtmäßig erworben wurden - muss es geben: "95 Prozent des Kulturerbes Afrikas befinden sich außerhalb von Afrika. Wenn also in Städten wie Bamako, Dakar oder Cotonou nichts zu sehen ist, ist es eine Frage der Fairness, dass etwas zurückgegeben wird. Die Jugend dort muss mit ihrem Kulturerbe in Kontakt treten dürfen. ... Nicht einmal im Internet sind die afrikanischen Sammlungen der europäischen Museen gut zugänglich. Und wenn afrikanische Kolleginnen und Kollegen Abbildungen von afrikanischen Kulturschätzen in unseren Museen für Publikationen benutzen wollen, müssen sie horrende Bildrechte bezahlen. Das ist doch nicht normal."
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Geschichte

Sehr kenntnisreich führt der Germanist Helmuth Kiesel in der FAZ in die "Frontstellungen" der Weimarer Zeit ein - jene Epoche vor dem Internet, als man noch keine sozialen Medien brauchte, um sich zu hassen - und kommt am Ende zu den Parallelen: "Die meisten der scharfen Antagonismen der Weimarer Zeit sind, wie ihre Ursachen, geschichtlich erledigt und haben keine aktuellen Fortsetzungen oder Analogien. Für vier gilt dies aber nicht: für den Rassismus, das mögliche Zusammenwirken der Extreme, die Klassenkampfidee und die politisch-kulturelle Spaltung in Metropole und Provinz."
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