9punkt - Die Debattenrundschau

Der Lärm hat kaum mehr ästhetische Bedeutung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.11.2018. Herta Müller schaut in einer Rede, die im Tagesspiegel abgedruckt ist, nach Osteuropa und erblickt ein Zerrbild von 1989. Der Neubeginn von 1918 war von Anfang an vergiftet, ruft Heinrich August Winkler in der FAZ in Erinnerung. Die ukrainische Aktivistin Kateryna Gandsjuk ist ermordet worden, meldet Radio Free EuropeLe Monde blickt nach Kiel. Und die NZZ  fragt bang: "Wird in Zukunft Stille herrschen?"
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.11.2018 finden Sie hier

Geschichte

Die Blicke der Le-Monde-Korrespondentin Lætitia Béraud richten sich nach Kiel. Die Deutschen feiern nämlich nicht den Jahrestag der Niederlage im Ersten Weltkrieg, "die noch heute als Ursprungskatastrophe angesehen wird, die zur Nazi-Barbarei führte": "Jenseits des Rheins feiert man lieber die Novemberrevolution, bei der sich die Seeleute weigerten, in die Schlacht zu ziehen, bald gefolgt von einer breiten Protestbewegung, die das Reich in einer Woche zu Fall brachte. Quer durchs Land finden Ausstellungen, Theaterstücke und Konferenzen statt. In Kiel, der Hafenstadt, aus der der Umsturz hervorging, sieht man sich heute als Wiege der deutschen Demokatie."

Der Neubeginn war allerdings von vornherein vergiftet, ruft Heinrich August Winkler auf der Gegenwartsseite der FAZ in Erinnerung:  "Am Anfang stand eine Dolchstoßlegende.Im September 1918 war der faktische Chef der Obersten Heeresleitung, Generalquartiermeister Erich Ludendorff, zu der Einsicht gelangt, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Die Verantwortung hierfür sollte aber nicht die militärische Führung übernehmen, sondern die 'Mehrheitsparteien' des Reichstags, die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei, die sich im Juli 1917 in einer Resolution für einen Verständigungsfrieden ohne erzwungene Gebietsabtretungen ausgesprochen hatten. Am 29. September überzeugte Ludendorff Kaiser Wilhelm II. von diesem Kalkül."

Um 1968 im Westen wurde in diesem Jahr ein ziemliches Bohei gemacht. Verglichen damit war die Erinnerung an den Prager Frühling eher mau, konstatiert die Autorin Alena Wagnerová, die in der NZZ ihren Teil zu einem ausgewogeneren Rückblick beiträgt und nebenbei die revolutionäre deutsche Linke von damals an ihre unrühmlich Rolle erinnert: "Wie oft habe ich damals von den Linken an der Universität des Saarlandes gehört, der Prager Frühling sei eine Konterrevolution und der Einmarsch der Sowjets eine Notwendigkeit, um den Sozialismus zu retten. Und vor diesem Tribunal war man ohnmächtig."
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Politik

Der Amerikanist Johannes Völz beschreibt in der FAZ die Ästhetik des Populismus als eine der Polarisierung: "Trost mag man immerhin darin finden, dass die Polarisierung einen Triumph des totalitären Faschismus unwahrscheinlich macht. Denn anders als der Faschismus bleibt der Rechtspopulismus Donald Trumps, wenn auch nur widerwillig, einem Pluralismus verschrieben. Das liberale Amerika mögen Trump und seine Anhänger zwar rhetorisch zu delegitimieren versuchen. Doch erkennen sie es nolens volens an, indem sie es als Mainstream beschreiben."
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Ideen

Noch stöhnen alle über den Lärm von Autos, Baustellen, Musik. Aber "wenn Beschleunigung und Tempo keinen besonderen Sound mehr haben", wie gefährlich leben wir dann, fragt sich Ueli Bernays in der NZZ angesichts von Elektroautos und -rädern. Werden wir den Lärm, der doch auch Ausdruck einer großen Vitalität war, nicht vermissen? "Wird in Zukunft Stille herrschen? In der Kultur der Gegenwart dominiert sie schon heute. Der Lärm hat kaum mehr ästhetische Bedeutung, er ist bloß noch eine Funktion der Lautstärkeregler. In frühen Spielarten von Techno wie etwa Gabber oder Drum'n'Bass wurden Trommel- und Zwerchfelle noch strapaziert. Seither aber scheint Pop-Musik durch sphärische Mäßigung geprägt zu sein. Das zeigt sich in Stilen wie House, Lounge, Trip-Hop; im Hip-Hop aber hat die Dominanz der Sprache den Lärm der Beats seit je in Grenzen gehalten."
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Europa

"Wenn man heute nach Osteuropa schaut, sieht man in einen Zerrspiegel der Zeit vor 1989", sagte Herta Müller, als Nachfolgerin Peter Esterhazys die neue Schirmherrin des Brücke-Berlin-Preises, der herausragende Werke der zeitgenössischen Literaturen Mittel- und Osteuropas und ihre Übersetzung ins Deutsche würdigt, bei der Preisverleihung an den georgischen Autor Zaza Burchuladze und seine Übersetzerin Natia Mikeladse Bachsoliani in Berlin (der Tagesspiegel publiziert die Rede). "In Osteuropa gibt es immer noch Demokratie, aber nicht immer mehr - wie man 1989 gehofft hat. Immer mehr gibt es nur vom Nationalismus, vom religiösen Eifer, von der Gleichschaltung der Medien und von der Einschüchterung der Künstler. Ich habe 1989 gedacht, viele Westeuropäer werden mit der Zeit nach Osteuropa ziehen. Aber es kam umgekehrt. Viele Osteuropäer müssen heute wieder aus Angst in den Westen fliehen, ins Exil. Das wird sich so bald nicht ändern."

Die ukrainische Aktivistin Kateryna Gandsjuk ist drei Monate nach einem Säure-Atttentat an den Folgen der Tat gestorben, meldet Christopher Miller auf der Website von Radio Free Europe: "Die Aktivistin, die bekannt war für ihre scharfe Kritik an Korruption in der Polizei, wurde am 31. Juli in der Nähe ihrer Wohnung von einem unbekannten Angreifer mit Schwefelsäure übergossen. Ihr Tod ist Teil einer ganzen Welle von Angriffen auf Bürgerrechtsaktivisten. Den Strafverfolgungsbehörden wird vorgeworfen, nicht ausreichend zu ermitteln oder selbst in einige der Attacken verwickelt zu sein."

Auf ein interessantes Paradox macht Mark Siemons in der FAS in einem Essay über die Widersprüche konservativer Positionen bei der CDZ aufmerksam: "Merkel ist ja eigentlich der Inbegriff der konservativen Methode, wie sie seit dem vielzitierten Ahnherrn Edmund Burke immer wieder beschrieben wurde: unideologisch, pragmatisch, Empirie-geleitet, vorsichtig, austarierend und aushandelnd, auf der Grundlage allein von Ideen, die allgemein für wahr gehalten werden. Das Paradoxe ist allerdings, dass sie mit ebendieser urkonservativen Vorgehensweise selber zur Antriebskraft von Veränderungen wurde, wie sie der Konservatismus für gewöhnlich aufzuhalten versucht."

In der Sowjetunion wurde die "Völkerfreundschaft" zwar theoretisch hochgehalten, doch diente sie in erster Linie dazu, die Bewohner der Satellitenstaaten ebendort, am Rand, zu halten. Mit einem Kirgisen in Kirgisistan pflegte man Völkerfreundschaft, mit einem Kirgisen in Moskau - nicht so, erklärt die Schriftstellerin Elena Chizhova in der NZZ. Daran habe sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil: "Gewiss, es geht um Fremdenfeindlichkeit und andere Phobien. Dazu gesellen sich imperiale Phantomschmerzen: Wir sind ihnen stets reinen Herzens begegnet, aber sie haben uns verraten, sich mit Staatsgrenzen abgeschottet, kaum dass sich die Gelegenheit dazu bot . . . Blickt man indes von der Kehrseite her, kann man sich des Gedankens kaum erwehren, dass der wahre Grund für die 'Gekränktheit' im paternalistischen Bewusstsein der Russen liegt, die sich noch immer als 'Kinder eines allmächtigen Staates' fühlen und eben deshalb jemanden brauchen, der in dieser Pseudo-Familienhierarchie noch tiefer steht als sie: die 'kleinen Brüder und Schwestern', die - bei aller Liebe - ihren Platz kennen und uns, die Großen, respektieren sollten."
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Medien

Im Guardian denkt Paul Chadwick über neueste Wendungen im Kampf zwischen religiöser Empfindlichkeit und freier Rede nach: Im erzkatholischen Irland hat man gerade per Volksabstimmung den Blasphemieparagrafen abgeschafft. In Pakistan wurde eine Christin vom Vorwurf der Gotteslästerung freigesprochen, ein Urteil, für das die Richter beträchtliche Risiken eingingen. In Europa dagegen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gerade ein Urteil österreichischer Gerichte bestätigt, die eine Frau wegen "Herabwürdigung religiöser Lehren" zu einer Geldstrafe verurteilt hatten. Die Frau hatte in einem Seminar indirekt den Propheten Mohammed als pädophil bezeichnet (mehr zu dem Urteil bei Juris). Chadwick findet dieses Urteil erstaunlich: "In der Vergangenheit war ein ausdrücklicher Grund für Blasphemiedelikte, Aufstachelungen zu begrenzen und den Frieden zu wahren. Ein Seminar mit 30 selbstgewählten Teilnehmern erscheint nicht als potentieller Mob. Kein Massenpublikum von Muslimen war dem ausgesetzt, was die Angeklagte sagte. An dem Seminar nahm verdeckt auch eine Journalistin teil. Ihr Arbeitgeber, ein vom Gericht als N bezeichnetes Wochenblatt, informierte den Staatsanwalt. Journalisten arbeiten manchmal auf mysteriöse Weise."

"Was also tun, in Zeiten, in den vor allem in strukturschwachen Regionen die Tageszeitungen verschwinden", fragt Lorenz Matzat bei Medium.com in einem breiteren Hintergrundartikel über den immer kümmerlicheren Lokaljournalismus in Deutschland. "Das Schwinden des klassischen Lokaljournalismus wäre insgesamt kein großes Drama, wäre in den letzten 15 Jahren im Internet eine Alternative erwachsen. .. Zwar finden sich Ansätze neuer Formen - etwa Bürgerjournalismus und Lokalblogger - doch keiner davon hat sich flächendeckend und nachhaltig etabliert noch die grundlegende Frage geklärt: Wie lässt sich das finanzieren?"

Interessante "Zahl des Tages", die turi2 aus einem Bericht von Werben & Verkaufen übernimmt: "Gigantische 25,4 Milliarden Euro verdient Google in einem Quartal mit Werbung und damit mehr als die gesamte deutsche Medienwirtschaft in einem Jahr, schreibt Werben & Verkaufen. Auch Facebook kommt in nur drei Monaten schon fast auf den prognostizierten Werbeumsatz der deutschen Medienwirtschaft heran, der 2018 bei 20,5 Mrd Euro liegen soll." Da allerdings neulich gemeldet wurde, dass Google im letzten Quartal einen Nettogewinn von 9,2 Millarden Dollar erwirtschaftet hat (hier in der FAZ), ist nicht ganz klar, was mit "Verdienen" gemeint ist.
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