9punkt - Die Debattenrundschau

Verhängnisvolles Zusammendenken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.11.2018. In der FAZ erzählt Alexander Gallus, was die Novemberrevolution in den Köpfen der Rechtsextremisten anrichtete. Robert Menasse und Ullrike Guérot riefen von mehreren Berliner Balkonen die Europäische Repubilk aus. Der Text ist in der Berliner Zeitung zu lesen, das Publikum war schütter. Golem.de erläutert, was Katarina Barley am Leistungsschutzrecht kritisiert, und warum sich die Zeitungen bei der der Eprivacy-Verordnung mit Google und Co. auf einmal so gut verstehen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.11.2018 finden Sie hier

Politik

Am Wochenende wurden in Paris groß die Feiern zum hundertsten Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs begangen. Dabei haben es die europäischen Politiker geschafft, Donald Trump auf Distanz zu halten, schreibt David M. Herszenhorn in politico.eu. Und nebenbei gab es ein Sticheleien, die ihm nicht gefallen haben dürften: "Frankreichs bekannteste Tageszeitung, Le Monde, startete eine dreiteilige Serie über den den diplomatischen Schaden, den Trump angerichtet hat. Der erste Teil beschreibt, wie eine Delegation baltischer Staaten - Litauen, Lettland und Estland - entgeistert von einem Besuch im Weißen Haus heimkehrte, weil Trump Bemerkungen über ihre Verantwortung in Jugoslawienkrieg machte und die Balten offenbar für eine Delegation aus dem Balkan hielt."

Asia Bibi, die in Pakistan von der Todesstrafe bedroht war, weil sie als Christin Wasser aus einem für Muslime reservierten Brunnen getrunken hatte, muss sich nach ihrem Freispruch durch das oberste pakistanische Gericht nach wie vor in Pakistan verstecken, berichtet der Telegraph. Sie hatte Asyl in Großbritannien gewünscht, aber "Britannien hat der pakistanischen Christin nach acht Jahren Todeszelle wegen angeblicher Blasphemie kein Asyl angeboten, weil man 'Unruhen' im Vereinten Königreich und Attacken auf Botschaften befürchtet, behaupten ihre Unterstützer... Eine Gruppe von Unterstützern, die mit der Familie von Asia Bibi Kontakt hat, erzählt, das die britische Regierung versuche, Bibi zu helfen, aber kein Asylangebot mehr mache."

In den amerikanischen Midterm-Wahlen gab es trotz allem große Erfolge für die Demokraten, insistiert Richard Ford in einer Art Brief an seine europäischen Leser in der FAZ: "Es ist schwer, all diese Dinge aus fünftausend Kilometern Entfernung genau zu sehen. Aber wenn Sie enttäuscht von uns sind, sollten Sie darüber nachdenken, wie wir in die Situation gekommen sind, in der wir uns befinden, vor zwei Jahren und heute. Gemischt. Unklar. Entstellt. Ja. Aber nicht mausetot. Noch nicht. Das ist eine uramerikanische Eigenschaft, trotz der selbstverliebten europäischen Missverständnisse und der Enttäuschung und der Krokodilstränen."
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Europa

In Berlin und anderswo in Europa wurde am Samstag von Balkonen die Europäische Republik mit einem von Robert Menasse und Ulrike Guerot verfassten Text ausgerufen. In Berlin lasen Corinna Kirchhof und andere Schauspieler vom Balkon des BE: "Wir erklären alle, die sich in diesem Augenblick in Europa befinden, zu Bürgerinnen und Bürgern der europäischen Republik. Wir nehmen unsere Verantwortung für das universale Erbe der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an, und geloben, sie endlich zu verwirklichen. ... An die Stelle der Souveränität der Staaten tritt hiermit die Souveränität der Bürgerinnen und Bürger. Wir begründen die Europäische Republik auf dem Grundsatz der allgemeinen politischen Gleichheit jenseits von Nationalität und Herkunft. Die konstitutionellen Träger der europäischen Republik sind die Städte und Regionen." Der ganze Text findet sich in der Berliner Zeitung.

Die Zuhörerschaft war allerdings denkbar klein, berichtet Petra Kohse in der Berliner Zeitung. "Das ist die Rache der sozialen Medien: dass die Leute zu Aktionen, die darüber angekündigt werden, nicht hingehen müssen, weil die besseren Bilder hinterher ja sowieso gepostet werden. ... Tatsächlich trafen am Samstag am späteren Nachmittag die Tweets und Bilder im Halbminutentakt auf der Website europeanbalconyproject.eu ein, auch in Wien, Barcelona, Brüssel, Zagreb oder Paris ist von insgesamt mehr als 150 europäischen Kulturinstitutionen und Bürgergruppen öffentlich zu Gehör gebracht worden, was die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und der Schriftsteller Robert Menasse für diese Kunstaktion und das damit verbundene politische Projekt formuliert haben".
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Geschichte

Welt-Autor Thomas Schmid lobt Frank Walter Steinmeiers Rede zum 9. November, in der er sich vor allem dem hundertsten Jahrestag der November-Revolution widmete: "Überraschend war, dass er nicht - wie es sonst üblich ist - den 9. November 1918 als Chiffre für eine gescheiterte Republik nahm. Er brach mit jener im Grunde bequemen Tradition linken Denkens, der zufolge 1933 eine direkte Konsequenz aus der deutschen Geschichte ist. Er sprach nicht vom Ende der Weimarer Republik her. Er sprach darüber, dass ihre Gründung allen Wirren zum Trotz ein deutsches Wunder darstellt!"

Sehr interessant erläutert der Historiker Alexander Gallus auf der Gegenwartsseite der FAZ, wie die Novemberrevolution von Anfang an ins Gezerre der Geschichtspolitik geriet, Hitler sprach von den "Novemberverbrechern" und legte seinen Putschversuch 1923 absichtlich auf den 9. November. Aber in der Rechten machte man sich die Idee der Revolution auch zueigen: "Eine Reihe von Vertretern des neuen nationalistischen Denkens wollte nicht länger die Monarchie restaurieren oder bloße Reaktion sein... Bald kam die Rede von der 'konservativen Revolution' auf, wünschte sich ein Oswald Spengler einen 'deutschen' oder 'preußischen Sozialismus'. Das verhängnisvolle Zusammendenken von 'Nationalismus' und 'Sozialismus' als Akt revolutionärer Erneuerung bei gleichzeitiger Zerstörung all dessen, was man der Novemberrevolution zuschrieb, kündigte sich lange an."
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Überwachung

Google würde gerne - wie alle - in China Fuß fassen (unsere Resümees). Bisher hat es darauf verzichtet, um nicht der Überwachungspolitik der Chinesen dienen zu müssen. Aber langsam wird auch Google mürbe, berichten Christoph Giesen, Peking und Hakan Tanriverdi auf SZ online. "Die große Hürde ist das Cybersicherheitsgesetz, das im vergangenen Sommer in Kraft getreten ist. Telekommunikationsunternehmen, Energie- und Wasserversorger, Transportfirmen oder Finanzkonzerne dürfen seitdem nur noch IT-Produkte kaufen, die eine staatliche Sicherheitsüberprüfung bestanden haben. Außerdem sind Firmen in China verpflichtet, ihre Daten den Behörden auf Anfrage zur Verfügung zu stellen. Unternehmen, die Daten ohne Genehmigung außerhalb Chinas speichern, können ihre Geschäftslizenz verlieren. Google hat so eine noch nicht einmal. Derweil haben etliche Autohersteller Kooperationen mit dem chinesischen Konkurrenten Baidu geschlossen, einem Technikgiganten - so wie es Google im Westen auch macht."
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Urheberrecht

Viele prominente Youtuber protestieren vehement gegen den Plan der EU, Uploadfilter einzurichten, um urheberrechtlich bedenkliches Material von vornherein auszusieben. Zwar werden diese Youtube-Kanäle nicht gleich verschwinden, meint Leonhard Dobusch in Netzpolitik. Aber "paradoxerweise dürften Upload-Filter die Marktposition von Giganten wie Google, Facebook und Amazon noch weiter stärken, weil nur diese in der Lage sind, diese technisch und rechtlich umzusetzen. Die Verhandlungsposition der Kreativen würde dadurch weiter geschwächt. Denn mit dieser Regelung haben die Plattformen immer die Wahl zu sagen, entweder zu ihren Konditionen oder es wird eben gefiltert."

Bundesjustizministerin Katarina Barley hat zwar neulich das geplante europäische Leistungsschutzrecht kritisiert, ohne es allerdings in Frage zu stellen, analysiert Friedhelm Greis bei golem.de. Ihre Befürchtung sei vor allem, dass die klickstarken Angebote mit reißerischen Titeln - also die Bild - den größten Anteil am Leistungsschutzrecht bekommen werden. Der wütende FAZ-Artikel zu Barleys Einlassung sei also gar nicht zutreffend, so Greis. Übrigens seien die Zeitungen bei anderen Punkten überhaupt nicht wütend: "Nicht infrage gestellt wird .., dass Google und Facebook überhaupt erst durch intensives Datensammeln auf Kosten der Nutzer in die Lage versetzt werden, solch hohe Gewinne durch personalisierte Werbung zu erzielen. Im Gegenteil. Die Verlage wollen selbst möglichst stark an diesen zweifelhaften Geschäftsmodellen partizipieren und durch eine Blockade der E-Privacy-Verordnung selbst intensiv ihre Nutzer tracken. Auch in diesem Punkt scheint Barley voll auf der Linie der Verlage zu sein."
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Ideen

Picasso im Netz? Oder Beethovens Neunte? Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider hält nichts von digitalen Surrogaten, die zu einer "Sklerose des Ästhetischen" führten. Für ihn zählt nur die direkte Begegnung mit der Kunst, erklärt er in der NZZ. Das gelte ganz besonders für die Literatur: "In einer ebenso polemischen wie bedenkenswerten Erklärung hat der Schriftsteller Karl Kraus vor hundert Jahren die Sklerose der Einbildungskraft für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich gemacht. Die Leute, so meinte er, waren durch den Niedergang der Sprachkultur nicht mehr in der Lage, die Wirkungen und Auswirkungen der Nachrichten, die sie lasen, imaginär zu verarbeiten. Ihre Vorstellungskraft war durch Sprachverhunzung abgestorben. Von dieser Lesart der Kriegsursache 1914 hat man begreiflicherweise in den vielen Historien des Ersten Weltkrieges, die in den letzten Jahren herauskamen, nichts gelesen."
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Kulturpolitik

Die israelische Kulturministerin Miri Regev arbeitet seit einiger Zeit daran, ein "Loyalitätsgesetz" durchs Parlament zu bringen, berichtet Alexandra Föderl-Schmid in der SZ. "Es sieht vor, dass Kultureinrichtungen, Projekte oder Künstler kein öffentliches Geld erhalten, wenn sie 'gegen die Prinzipien des Staates arbeiten'. Regev verteidigte das von ihr seit zwei Jahren betriebene Gesetzesvorhaben vor der Abstimmung, es 'basiert auf den Prinzipien von Loyalität und Dankbarkeit dem Staat gegenüber'. Die Kulturministerin hatte in den vergangenen Wochen wiederholt Projekte genannt, bei denen sie das Geld streichen würde."

Während dessen haben sich in Deutschland rund 300 Kulturinstitutionen, 140 davon in Berlin, einer "Erklärung der Vielen" gegen Rechts angeschlossen, berichtet Petra Kohse in der Berliner Zeitung. 'Müssen sich Kultureinrichtungen, die staatlich gefördert sind, parteipolitisch neutral verhalten?', fragte der Intendant des Friedrichstadtpalastes, Berndt Schmidt, beim Pressetermin im Max-Liebermann-Haus, und antwortete: 'Ich meine: Nein.' Dass Extremisten demokratisch gewählt seien, sei 'kein Persilschein' und kein Grund, deren extreme Maßnahmen erdulden zu müssen. 'Wer einen von uns angreift, hat ab heute 140 an der Backe.'"
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