9punkt - Die Debattenrundschau

Vierstufiger Irritationsindex

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2018. Der Bericht von Benedicte Savoy und Felwine Sarr zur Restitution afrikanischer Kunstwerke, der zugleich eine Handreichung für Emmanuel Macron sein soll, wird die Debatte auf ein neues Niveau heben, ist die SZ sicher. Für die NZZ stellt er eine "brillante Rücksichtslosigkeit" dar, auch weil wesentlich mehr Werke zurückgegeben werden sollen als bisher gefordert. In der Zeit  gibt die "Initiative säkularer Islam" ihre Gründung bekannt. In seinem Blog erzählt der österreichische Anchorman Armin Wolf, wie Politiker Medienregie übernehmen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2018 finden Sie hier

Kulturpolitik

Während Laureline Dupont in Le Point gestern äußerst kritisch auf den von der Kunsthistorikerin Benedicte Savoy und dem Ökonom Felwine Sarr verfassten Bericht zur Restitution afrikanischer Kunstwerke blickte (unser Resümee), übernimmt Jörg Häntzschel im Aufmacher des SZ-Feuilletons begeistert deren Vorstoß, zumal Savoy und Sarr auf sämtliche Vorbehalte eine Antwort haben, wie er versichert: "Wenn die afrikanischen Staaten mit den ersten feierlichen Rückgaben auch Inventarlisten und Archivmaterial der Museen erhalten, wenn sie erstmals erfahren, was die Franzosen fortgeschleppt haben, dann werden weitere Restitutionsforderungen folgen. Savoy und Sarr erwarten und hoffen das. Sie rechnen in Afrika mit einem neuen Interesse an der eigenen Geschichte und Kultur, ohne die eine Gesellschaft verloren sei. Und sie erwarten, dass die Afrikaner neue Museen bauen und dann weitere Objekte entgegennehmen werden. Wäre es wirklich so schlimm, so Savoy und Sarr, wenn in Europa Kopien an die Stelle der restituierten Originale treten oder 3-D-Projektionen?"

Der Bericht stelle "eine brillante Rücksichtslosigkeit dar - wohl auch im Wissen, dass, wer kann, immer ein bisschen mehr fordern soll, als er am Ende bekommt", schreibt auch Peer Teuwsen in der NZZ und weist noch einmal auf ein Interview hin, das Savoy erst kürzlich der NZZ gab und wo die Forderungen Savoys bei weitem nicht so dramatisch klangen: "Niemand will die westlichen Museen leeren, man will einzelne wichtige, symbolisch aufgeladene Objekte. Niemand spricht von Tausenden Objekten. Das sind Schlagzeilen für schlechte Zeitungen."

Afrikanischen Kulturschaffenden geht die Debatte indes nicht weit genug, weiß Sonja Zekri ebenfalls in der SZ: "Ernsthaft geführt müsste die Debatte die westlichen Vorstellungen von Museen, Exponaten und kulturellem Erbe ohnehin über den Haufen werfen. Nana Ofariatta-Ayim hat unlängst zwei Massai-Älteste nach Oxford gebracht, die schockiert vor einem rituellen Halsschmuck standen. Keine Familie hätte spirituell so wertvolle Objekte freiwillig abgegeben, sagt sie. Da wird die vermeintliche Nobilitierung durch das Museum zur Entweihung." Im Dlf diskutieren Karin Fischer und Lorenz Rollhäuser über das Papier.
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Politik

Amnesty International und Human Rights Watch werfen Mohammed bin Salman vor, er lasse saudische Frauenrechtlerinnen und ihre Angehörigen im Gefängnis foltern und seelisch misshandeln, meldet Martin Gehlen auf Zeit Online: "Die vor sechs Monaten festgenommenen Aktivistinnen, die in der Haftanstalt Dhahban nahe der Hafenstadt Dschidda eingesperrt sind, seien mit Stromstößen traktiert und mit Kabeln geprügelt worden. Ihre maskierten Peiniger hätten sie zwangsweise umarmt oder geküsst sowie wochenlang in Isolierhaft gehalten - auch für Saudi-Arabien eine bisher beispiellose Quälerei von regimekritischen Frauen."

Den alten Rechts-Links-Antagonismus gibt es nicht mehr, schreibt im Tagesspiegel der Zukunftsforscher Daniel Dettling mit Blick auf das Ende der Volksparteien und fordert breite und integrative Parteien, die sich als Bewegungen verstehen: "Die Zeit der gesellschaftlichen Großkonflikte ist vorbei. Der Dualismus von Arbeit versus Kapital, Kirche versus Staat, Mann versus Frau ist aufgehoben und abgelöst worden durch neue Konflikte und Spaltungen: zwischen Wissens- und Industriearbeiter, Land- und Stadtbevölkerung, Einheimische und Zugewanderte, erfolgreiche Frauen und statusängstliche Männer. Wenn die großen Konflikte die Gesellschaft nicht mehr spalten, macht die klassische Unterscheidung von links und rechts, konservativ und progressiv immer weniger Sinn. Stattdessen geht es um eine Politik von Maß und Mitte, welche die unterschiedlichen Milieus und Meinungen nicht weiter spaltet, sondern sie zu versöhnen versucht. "
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Europa

Fünf Jahre nach der Majdan-Revolution und einige Tage nach dem Tod der Journalistin Kateryna Gandsjuk, die den Folgen eines Säureattentats erlegen ist, spricht der ukrainische Aktivist Serhij Leschtschenko mit Sebastian Christ von der deutschen Huffingtonpost über die Lage  im Land, das unter dem Präsidenten Petro Poroschenko in Korruption versinkt: "Die EU dachte lange, dass er die beste Option für die Ukraine sei. Aber das hat eine Situation geschaffen, in der Poroschenko glaubte, einen Freischein zu haben für die Zerstörung von Anti-Korruptions-Institutionen, für das Verächtlichmachen der Zivilgesellschaft oder die Zersetzung des investigativen Journalismus. "

In der SZ warnt der britische Germanist Jeremy Adler mit Blick auf Russland vor den Gefahren, die ein harter Brexit für den europäischen Frieden bedeuten könnte: "Es ist höchst unverantwortlich, sich durch den Brexit russischen Provokationen auszusetzen, und das ausgerechnet zu einer Zeit, da auf die Vereinigten Staaten kein absoluter Verlass mehr ist. Der selbstverschuldeten Schwächung Britanniens entspricht eine Steigerung der Macht Moskaus im gesamten Interessensgebiet der russischen Föderation, von der Ukraine bis nach Syrien.Das Ausmaß der geopolitischen Destabilisierung ist noch nicht zu ermessen. Das britische Parlament befürchtet Probleme bei Polizei, Sicherheit, Verteidigung und Kooperation mit der EU. Alle wichtigen militärischen Fragen bleiben offen. Auch die britische Rüstungsindustrie könnte leiden."

Steve Bannons europäische Kampagne, für die er die gesammelten populistischen Parteien in Europa mobilisieren will, um in den Europawahlen zu triumphieren, könnte sang- und klaglos in sich zusammenbrechen. Allein Bannons private Finanzierung der Kampagne und die Verteilung geldwerter Vorteile an Schwesterparteien würde wohl den meisten europäischen Wahlgesetzen widersprechen, berichten Paul Lewis und Jennifer Rankin im Guardian: "Bannons Projekt war bereits in Aufruhr, nachdem Parteien, die er in Schweden, Dänemark, Finnland, Österreich, Polen, der Tschechischen Republik und Deutschland umworben hatte, klarmachten, dass sie sich seinem Projekt nicht anschließen würden. Nun muss er seine potenziellen Mitstreiter noch davon überzeugen, dass sie keine Sanktionen riskieren, weil sie Hilfe von einer in Brüssel basierten und von einem Amerikaner finanzierten Gruppe erhalten."
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Medien

(Vie Netzpolitik) Der prominente Anchor Man Armin Wolf veröffentlicht auf seinem Blog eine Rede, in der er unter anderem beschreibt, wie der Journalismus in Österreich von  den Parteien übernommen wird: "Das Online-Magazin Unzensuriert ist laut österreichischem Verfassungsschutz 'zum Teil äußerst fremdenfeindlich', es zeigt 'antisemitische Tendenzen', 'verschwörungstheoretische Ansätze und eine prorussische Ideologie'. Der frühere Chefredakteur dieser Plattform leitet heute die Kommunikationsabteilung des österreichischen Innenministeriums. Diese Abteilung beschäftigt nach eigener Auskunft 58 Mitarbeiter, 21 davon allein für Social Media.Keine einzige innenpolitische Redaktion in Österreich hat auch nur annähernd so viele Journalisten und Journalistinnen." Zur Krise des Journalismus verbreitet Wolf allerdings eine alte Mär: "Wir alle wissen, dass es wirtschaftlich der vielleicht schlimmste Fehler unserer Branche war, 15 Jahre lang unseren teuer hergestellten Journalismus im Netz zu verschenken."

Auf der Medienseite der SZ skizziert Viktoria Grossmann derweil die Erfolgsgeschichte der unabhängigen, regierungskritischen slowakischen Online-Tageszeitung Dennik N, die täglich zwischen sieben und achthunderttausend Leser erreicht und mittlerweile 75 Prozent der Einnahmen durch ihre Leser (und eine strikte Paywall) generiert. Eine Printausgabe mit einer Auflage von 5000 Ausgaben gibt es auch, erklärt Chefredakteur Matúš Kostolný, aber nur "damit die Leute unseren Namen auch am Kiosk sehen."
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Gesellschaft

Die "Glauben & Zweifeln"-Seite der Zeit bringt ein Manifest einer neu gegründeten "Initiative säkularer Islam", die bei der wieder beginnenden Islamkonferenz endlich auch die religiösen Funktionäre ergänzen will. In ihrem Manifest heißt es: "Säkularität bedeutet für uns die Betonung der positiven Neutralität des Staates und die weitgehende Trennung von Religion und Politik. Wir verstehen MuslimInnen als BürgerInnen einer demokratischen Gesellschaft, die die Rechte und Pflichten aller anderen BürgerInnen teilen. Wir sprechen uns für eine Verbesserung der bürgerlichen Teilhabe von MuslimInnen (etwa durch Bildungsangebote), aber gegen Sonderrechte für MuslimInnen aus. Das im Grundgesetz garantierte Recht auf die Freiheit des Bekenntnisses und auf ungestörte Religionsausübung beinhaltet unserer Ansicht nach nicht das Recht, religiöse Normen im öffentlichen Raum durchzusetzen." Zu der Gruppe gehören einige der bekanntesten "Dissidenten des Islams" in Deutschland, darunter Hamed Abdel-Samad, Seyran Ates, Necla Kelek, Ahmad Mansour. Auch Cem Özdemir hat sich der Gruppe angeschlossen. " Mansour sagt im Gespräch: "Wir wollen... Alternativen schaffen zum konservativen und politischen Islam. Wir zeigen, dass es in Deutschland Muslime gibt, die ihre Religion säkular und im Einklang mit Demokratie und Menschenrechten verstehen."

Im Interview mit Christian Hönicke vom Tagesspiegel warnt der ehemalige Amsterdamer Tourismusmanager und heutige Tourismuskritiker Stephen Hodes die Stadt Berlin vor "Overtourism":  "Es gibt den vierstufigen Irritationsindex. Wenn Touristen in begrenzter Anzahl kommen, ist man als Einwohner auf Stufe eins zuerst glücklich und stolz. Wenn die Zahlen steigen, beginnt man, sie wie Kunden zu behandeln. Auf der dritten Stufe registriert man zunehmend verärgert, dass sich das Stadtbild nicht zuletzt durch externes Investment verändert. In Amsterdam sind wir auf der vierten Stufe, ich auch. Diese Stufe werden Sie in Berlin vermutlich auch bald erreichen... In Barcelona gibt es schon radikale Aktivisten, die Reifen von Touristenvehikeln zerstechen. "
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Internet

Marcel Weiß erklärt in seinem Blog Neunetz, warum seiner Meinung nach ein Thinktank, der sich allein mit dem digitalen Wandel in allen Bereichen auseinandersetzt, in Deutschland notwendig ist: "Wenn man als Experte in seinem Themenfeld arbeiten will, muss man sich zwangsläufig auf feste Rahmenbedingungen außerhalb dieses Themenfelds verlassen, weil man nicht in allem Experte sein kann. Wenn sich alle gesellschaftlichen Felder langsam aber sicher verschieben, wird eine themenübergreifende Zusammenarbeit immer zwingender, wenn man mehr als das Gestern erfassen will. (Und selbst das kann heute schon eine Herausforderung sein.)" Und schreitet gleich zu Tat, indem er die Gründung des Otherwise Network bekannt gibt.
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Ideen

Die Stokowski-Debatte ist noch nicht zu Ende! Soll eine Buchhandlung wie Lehmkuhl in München auch ausgewählte rechte Literatur anbieten? Selbst auf die Gefahr hin, dass Margarete Stokowski dort nicht liest? Liane Bednarz fasst in einem nützlichen Essay auf starke-meinungen.de noch mal die wesentlichen Beträge und Argumente der Debatte zusammen und widmet sich am Ende dem Argument, das man die Bücher doch auch in der Bibliothek lesen könne: "Vor allem aber ist die Literatur rechtsintellektueller Autoren in den staatlichen Bibliotheken auf Vordenker aus der Weimarer Republik begrenzt. Wer etwa in den Münchner Staatsbibliothek nach Werken aus dem Antaios-Verlag sucht, findet dort nur eine geringe Auswahl. Die von Lehmkuhl geführten Bücher 'Die Spurbreite des schmalen Grats' von Götz Kubitschek, 'Mit Linken leben' von Martin Lichtsmesz und Caroline Sommerfeld sowie der Sammelband 'Nationalmasochismus' sind dort gar nicht erst vorhanden."

In der FAZ attackiert Judith Basad einige ältere und jüngere Texte der Genderforschung, denen sie vorwirft Praktiken wie die Genitalverstümmelung zu beschönigen: "Manchen Gender-Instituten fällt es deshalb schwer, Genitalverstümmelungen zu verurteilen. So veröffentlichte das Institut für transdisziplinäre Geschlechterstudien an der Humboldt Universität Berlin 2005 ein Magazin mit dem Namen 'Female Genital Cutting: die Schwierigkeit, sich zu positionieren'. In mehreren Beiträgen wird diskutiert, wie man sich wissenschaftlich mit Genitalverstümmelungen auseinandersetzen sollte, ohne eine 'westliche Perspektive' einzunehmen und sich somit des Rassismus schuldig zu machen."
Archiv: Ideen