9punkt - Die Debattenrundschau

In allem, was lebt, lebt der Wille

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2018. Die NZZ besucht Ungarn, ein Land, in dem zwei lebhaft diskutierende Menschen auf der Straße bereits als Demonstration gelten. In Berlin tagten Experten zur Frage der Restitution von Kunstwerken an ehemalige Kolonien, fanden laut taz aber keine definitive Antwort. Das Museum von Dahomey, wohin einige von Emmanuel Macron zurückgegebene Statuen wohl gelangen sollen, sieht traurig aus, konstatiert RFI. Laut Observer muss sich Facebook nach Beschlagnahme einiger Dokumente zu Cambridge Analytica nun weitere Fragen stellen lassen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.11.2018 finden Sie hier

Kulturpolitik

Am Freitag übergaben Bénédicte Savoy und Felwine Sarr dem französischen Präsidenten ihren Bericht zur Restitution afrikanischer Kunst - Macron gab daraufhin gleich einige Objekte aus Benin zurück. Gleichzeitig tagte in Berlin eine internationale Konferenz zu genau diesen Fragen, über die Ulrich Gutmair in der taz berichtet: "Obwohl sich alle darüber einig waren, dass die Anerkennung der kolonialen Verbrechen heute die Grundlage musealer Arbeit sein muss, war kein Konsens darüber auszumachen, wie in Bezug auf die teils vehement geforderte Rückgabe zu verfahren sei. Die Umstände sind oft extrem unterschiedlich. Und die Frage, wem Artefakte gehören, ist auch in den Herkunftsländern häufig umstritten." In der FAZ resümiert Jürg Altwegg die franzöische Debatte zum Thema.

Das Museum in Dahomey, wohin die 26 von Emmanuel Macraon zurückgegebenen Skulpturen wohl gelangen werden,  befindet sich in traurigem Zustand, berichtet der französische Auslandssender RFI: Es handele sich um ein mehrere Hektar großes Gelände: "Wir entdecken eine riesige königliche Stadt im Verfall, bestehend aus riesigen Höfen, die mit Kapok- und Mangobäumen bepflanzt sind, die Gebäude in erbärmlichem Zustand, mit Dächern ausn aus Wellblech."
Archiv: Kulturpolitik

Internet

In einem äußerst ungewöhnlichen Schritt hat das britische Unterhaus von einer Firma, die mit Facebook kooperiert, aber auch in einem Rechtsstreit liegt, Daten über den Cambridge-Analytica-Skandal beschlagnahmt, berichtet Carole Cadwalladr im Observer. Ein Beamter des britischen Parlaments suchte den Geschäftsführer  der Firma namens Six4Three im Hotel auf und zwang ihn, elektronische Kopien der Dokumente zu übergeben: "Die Beschlagnahme ist der jüngste Coup in einer bitteren Schlacht zwischen dem britischen Parlament und dem Social-Media-Giganten. Der Kampf darum, Facebook zur Rechenschaft zu ziehen, bereitete Sorgen über britische Zugriffsmöglichkeiten auf Firmen, die heute eine Schlüsselrolle im demokratischen Prozess spielen. Facebook, das hundert Milliarden Dollar an Wert verlor, seit der Observer im März nachwies, wie Cambridge Analytica die Daten von 87 Millionen US-Nutzern ausgebeutet hatte, steht nun womöglich eine weitere PR-Krise bevor. Man nimmt an, dass die Dokumente zeigen, wie Datenentscheidungen in den Jahren vor den Cambridge-Analytica-Skandal gefällt wurden, mit Wissen Zuckerbergs und anderer Spitzenmanager." Bei heise.de berichtet Tilman Wittenhorst.
Archiv: Internet

Europa

Die Autorin und Übersetzerin Christina Viragh macht mit einer Freundin einen Spaziergang am See von Tata und plaudert mit ihr über die ungarische Politik. "Wenn man sehr wollte, könnte man uns als öffentliche Versammlung auf öffentlichem Grund qualifizieren, da wir zu öffentlichen Angelegenheiten unsere Meinung äußern", erzählt sie in der NZZ. "Seit dem 1. Oktober ist das so, seit der Einführung des neuen Versammlungsgesetzes. Zwei Personen, die auf öffentlichem Grund so reden, wie wir reden würden, lassen sich als Demonstration verstehen, wobei in unserem Fall die Frage wäre, ob diese spontan oder organisiert ist. ... seine Einführung fiel in einem Wust anderer Traktanden kaum auf ... Man weiß zu gut, dass jede brüske Bewegung die unterschwellig bestimmt noch vorhandene Widerstandsbereitschaft wecken könnte, nicht reizen, sondern einschläfern ist die Devise, seit dem Untergang der Ideologien geht das leicht, wir alle reagieren fast nur noch, wenn es uns in irgendeiner Weise ans Lebendige geht.

Hubertus Knabe hat vor Gericht seine vorläufige Rückkehr als Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen erstritten. Um seine Rückkehr an seinen Arbeitsplatz heute zu verhindern, versammelte sich der Stiftungsrat am Sonntag zu einer Sondersitzung, um "Knabe als Vorstand und Direktor der Gedenkstättenstiftung mit sofortige Wirkung und unwiderruflich abzuberufen". Das geschah dann auch einstimmig, berichtet Alexander Fröhlich im Tagesspiegel. Als Begründung wurden "Rechtsverstöße" benannt, die offenbar nicht weiter ausgeführt wurden.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Necla Kelek gehört zur "Initiative Säkularer Islam", die sich jüngst gegründet hat (unser Resümee). Vor der nun wieder beginnenden Islam-Konferenz, die dem Islam einen offiziellen Status in Deutschland geben will, nennt Kelek im Hauptstadtbrief die Forderungen ihrer Initiative: "Wenn das Zusammenleben auf eine bessere gemeinsame Ebene gebracht werden soll, dann gilt es zunächst einmal, die Prinzipien und Grundsätze dieser Gemeinsamkeit herauszuarbeiten. Dazu gehört notwendig die konsequente Trennung von Staat und Religion. Dazu gehört das Primat der Verfassung und der Gesetze. Religiöse Gesetze wie das Normensystem der Scharia dürfen ausschließlich theologisch und spirituell von Bedeutung sein."

Klassenkämpferisch gibt sich der Dramaturg Bernd Stegemann, den Harald Staun in der FAS als Vordenker von Sahra Wagenknechts "Aufstehen"-Bewegung interviewt. Den Grünen wirft er vor, ein reines Mittelschicht-Phänomen zu sein, "und ich würde nicht sagen, dass die links sind. Das ist eher eine Spielart der klassischen bürgerlichen Selbstrettungsstrategie: Man versucht, mit ein bisschen schlechtem Gewissen und einem 'bewussten Umgang' mit sich und der Welt innerhalb eines komplett falschen Systems so wenig Schaden wie möglich anzurichten. Das ist als politisches Programm letztlich konservativ, und es sind vor allem symbolpolitische Dinge, die da ausgehandelt werden."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Vor zweihundert Jahren erschien Arthur Schopenhauers "Die Welt als Wille und Vorstellung". In der NZZ denkt Rüdiger Safranski in einem Essay über den Willen nach, wie Schopenhauer ihn verstand: "Es haben sich viele Missverständnisse eingeschlichen, weil man nicht zur Kenntnis nehmen wollte, dass Schopenhauer auch dem Begriff des Willens (wie auch dem der 'Vorstellung') eine vom Üblichen abweichende Bedeutung gibt. Der Willensbegriff der philosophischen Tradition, aber auch der umgangssprachliche, verbindet 'Wille' mit 'Absicht', 'Zweck'. Auf jeden Fall ist das 'Gewollte' zuvor in meinem Geist, ehe ich zur Aktion des Wollens komme. In solchem Verständnis ist der Wille intellektualisiert, ein Treibsatz, den wir zünden, nachdem der Verstand seine Pläne gemacht hat. So aber versteht Schopenhauer den 'Willen' gerade nicht. Wille ist vielmehr eine primäre Strebung, die sich im Grenzfall auch noch ihrer selbst bewusst werden kann und dann erst das Bewusstsein eines Zieles, einer Absicht, eines Zweckes gewinnt. Aus dieser Perspektive sind auch die unbewussten inneren Körpervorgänge Bewegungen des Willens und darüber hinaus: In allem, was lebt, lebt der Wille, sogar noch in der anorganischen Welt, dort zum Beispiel in der Gravitation.
Archiv: Ideen

Geschichte

Die osteuropäischen Länder sind die großen Vergessenen in der deutschen Geschichtsschreibung. Auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ erinnert der Historiker Jochen Böhler an das Ende des Ersten Weltkriegs und die direkt anschließenden Kriege bei der Entstehung der osteuropäischen Nationen: "Bis auf eine verschwindende Minderheit trugen litauische, polnische, ukrainische und tschechische Soldaten bis 1918 imperiale Uniformen und waren bisweilen gezwungen, auf 'Gegner' zu schießen, die dieselbe Sprache sprachen wie sie. In den ethnisch definierten Nationalstaaten dagegen setzte sich nicht das demokratische Gleichheitsversprechen durch. Sie unterschieden vielmehr von Beginn an - je nach Herkunft - zwischen Bürgern erster und zweiter Klasse, was sie selbst zu 'kleinen Imperien' machte."
Archiv: Geschichte