9punkt - Die Debattenrundschau

An diesem Graben entschied sich die Wahl

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2018. In der SZ erklärt Guido Gryseels vom belgischen Afrika-Museum, warum er erst Provenienzforschung betreiben will, bevor er Kunstwerke zurückgibt.  Im Tagesspiegel beschreibt die libanesische Autorin Iman Humaydan, wie ein bürgerlicher Staat abhanden kommt. Die FAZ stellt den Denker der Stunde vor: Christophe Guilluy versteht die Gilets jaunes, und mehr noch: die rebellierende Provinz der Weltgesellschaft. In der Washington Post fragt Anne Appplebaum, ob Wladimir Putin aus innenpolitischen Gründen neue Scharmützel sucht. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.11.2018 finden Sie hier

Europa

Nach Angriffen auf ukrainische Schiffe hat die Ukraine das Kriegsrecht erklärt. Der jüngste Konflikt um den Zugang zum Asowschen Meer kam nicht überraschend, schreibt Claudia von Salzen im Tagesspiegel: "Seit Monaten hat Russland dort Handelsschiffe, die ukrainische Häfen anlaufen sollten, gestoppt und kontrolliert. Doch die Europäer schauten weg. Noch in der Nacht zu Montag forderte die Europäische Union Russland auf, die Straße von Kertsch wieder freizugeben, mahnte aber zugleich beide Seiten zu 'äußerster Zurückhaltung'. Auch der deutsche Außenminister Heiko Maas erklärte: 'Wir rufen beide Seiten zur Deeskalation auf.' Doch wer in einem Krieg den Angreifer und den Angegriffenen nahezu gleich behandelt, ist eben kein neutraler Vermittler, sondern schlägt sich auf die Seite des Aggressors."

"Diese kleine militärische Eskapade", die die Ukraine von einem großen Teil ihrer Küste abschneiden könnte, geschieht in einem interessanten Moment der russischen Innenpolitik, schreibt Anne Applebaum in der Washington Post. Es sind Proteste gegen die Reform der Rentenpolitik angesetzt. "Als erste Nachrichten über die 'ukrainische Provokation' in Russland laut wurden, hat der prominenteste Oppositionspolitiker in Russland, Alexander Nawalny, sofort angemerkt, dass jüngste Umfragen ein Sinken der Popularität Putins anzeigen. Bereite dich auf Fernsehnachrichten vor, in denen vom 'aggressiven Militär aus Kiew und den Falken am Potomac die Rede ist', schrieb er sarkastisch."

Ist die deutsche Politik beim Thema Rechtsextremismus nach wie vor taub? "Die taz hatte jüngst offengelegt, wie sich Bundeswehrsoldaten, Polizisten und andere in einem bundesweiten Netzwerk zusammentaten und dort auch Gewalt- und Umsturzpläne besprachen", schreibt Konrad Litschko. "Sie tauschten sich in Chats und bei realen Treffen aus. Etliche Mitglieder hatten Zugang zu Waffen." Doch bei der gerade stattfindenden Innenministerkonferenz hat es das Thema nicht auf die Liste der siebzig Tagesordnungspunkte geschafft!
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Ideen

Achtung, neuer Theorie-Import aus Frankreich: Jürg Altwegg stellt auf der Medienseite der FAZ den Geografen Christophe Guilluy vor (den vor einigen Tagen auch schon die politische Korrespondentin der FAZ, Michaela Wiegel interviewte). Im Moment der "Gilets jaunes" sei Guilluy der Mann der Stunde: "Aufgrund seiner Analyse von Karten, Bevölkerungszahlen und Wahlresultaten zeigte er als Erster, dass sich Frankreichs Probleme keineswegs auf die Banlieues der Einwanderung beschränken. Die Gewinner der Globalisierung vertreiben ihre Opfer vielmehr ganz aus den Städten. Die Metropolen blühen, die Provinzen veröden. An diesem Graben entschied sich die Wahl in Frankreich wie in den Vereinigten Staaten. " Das jüngste Buch des Geografen heißt "No Society". Hier weitet Guilluy seine Theorie auch auf andere Länder aus.

Über ein besonders dreistes Stück Fake News schreibt in der NZZ der Historiker Volker Reinhardt. Es geht um die Konstantinische Schenkung, ein Papier, das den Päpsten seit dem 4. Jahrhundert eine umfassende Führungsstellung in der Christenheit garantierte. Dass das Papier aus dem 8. Jahrhundert datierte, also gefälscht war, erkannte 1440 der Humanist Lorenzo Valla. Als Historiker lernt man früh, niemandem zu glauben, so Reinhardt, vor allem keinen Zeitzeugen: "Das ist kein Nachteil, sondern macht es nur noch spannender, denn jetzt beginnt die Arbeit der kritischen Überprüfung - was wird wie und warum eingefärbt, was wird damit bezweckt? Authentizität ist also das Fake-Wort der Gegenwart schlechthin, es wird in jedem Exklusivinterview beschworen und in jedem Instagram-Posting angerufen; dabei genügt schon die Gegenwart einer Kamera, ob angeblich verborgen oder nicht, um den Schein der Unmittelbarkeit und Echtheit zu hinterfragen. Das gilt auch für angeblich historische Ereignisse, wenn sie in bewegten Bildern festgehalten sind - der revolutionäre Sturm auf das Winterpalais der Zaren während der Oktoberrevolution hat bekanntlich nie stattgefunden, sondern wurde nachträglich zu 'dokumentarischen Zwecken' nachgestellt, was seiner Glaubwürdigkeit keineswegs geschadet hat."
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Politik

75 Jahre nach der Unabhängigkeit des Libanon blickt die Schriftstellerin Iman Humaydan im Tagesspiegel traurig auf ihr Land, in dem sich religiöse und ethnische Gruppen bekriegen: "Der bürgerliche Staat, der 18 Religionsgemeinschaften mit gleichen Rechten und Pflichten beherbergte, ist abwesend. Er ist eine abhandengekommene Idee, deren Absenz wir bei jedem Jahrestag der Unabhängigkeit und mit jedem Herbstregen spüren. Das Versagen des Staates, die Gewalt der Repräsentanten der Religionsgemeinschaften und der Verlust der Hoffnung sind Ausdruck der Tatsache, dass unsere Generation, die vom Aufbau eines unabhängigen Staates träumte und deren Traum sich nicht verwirklichte, nun in ihre letzte Lebensphase eintritt. Die Gewalt hat verschiedene Ausprägungen, und die schmerzlichste ist die, dass die Jugend von nichts anderem träumt als vom Auswandern."
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Kulturpolitik

Im Interview mit der SZ erklärt Guido Gryseels, Direktor des Afrika-Museums in Tervuren bei Brüssel, dass er gern erst prüfen würde, was Raubkunst ist und was nicht, bevor er Kunstwerke nach Afrika zurückgibt. Dafür müsse die Provenienzforschung verstärkt werden, was er sehr begrüßt. Ansonsten plädiert er für Pragmatismus: "Ich bin offen für Diskussionen mit jenen Ländern, die eine gute Museumsinfrastruktur haben. Viel schwieriger wird es mit einem Land wie dem Kongo, aus dem die meisten Objekte unserer Sammlung stammen. Dort fehlt die Infrastruktur. Der Direktor des Nationalmuseums sagt, er halte die Diskussion für verfrüht. Er wäre schon froh, wenn man ihm helfen würde, das kulturelle Erbe zu schützen, das sie heute haben und das wirklich bedroht ist. Im Kongo gibt es keine Aufbewahrungsorte, keine Restaurierungsmöglichkeiten. Allein in Kinshasa lagern 85 000 Objekte, die sind kaum inventarisiert. Der Direktor sagt, ihm gehe es weniger um Rückgabe als um Zugang zu unserer Sammlung, damit er Ausstellungen organisieren und die eigene Sammlung vervollständigen könne."

Weiteres zum Thema: Monika Grütters droht derweil mit Sanktionen, wenn Museen die Aufarbeitung und Rückgabe von Raubkunst aus den Jahren des Nationalsozialismus weiter verzögern, berichtet Marcus Woeller in der Welt. Und Ira Mazzoni berichtet in der SZ, dass auch private Sammlungen, die vom Bund finanziell unterstützt werden, künftig zur Restitution von Raubkunst verpflichtet werden sollen.
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Überwachung

Google verstößt möglicherweise gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), weil es Daten zu den Aufenthaltsorten der Nutzer sammelt, ohne diese ausreichend über ihre Optionen aufzuklären. Der europäische  Konsumentendachverband BEUC willl dagegen aktiv werden, schreibt Alexander Fanta bei Netzpolitik: "Google nutzt nach Angaben von BEUC verschiedene Tricks und Praktiken, um sicherzustellen, dass Nutzende die Einstellung zum Datensammeln aktiviert hätten. Der Konzern gebe nicht ausreichend Informationen darüber, wozu sie genutzt werden. Das sei mit der DSGVO nicht vereinbar, da Google keine ausreichende rechtliche Grundlage für das Sammeln der Daten besitze." Bei Golem ist man schon einen Schritt weiter: Anna Biselli stellt eine neue Technologie aus Indien vor: "Tracking funktioniert längst nicht mehr nur mit Browser-Cookies. Ein indisches Unternehmen analysiert auch Umgebungsgeräusche von Smartphones, um festzustellen, welche Filme im Hintergrund laufen."
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Gesellschaft

Der amerikanische Politologe Farid Hafez kritisiert in der taz die "Initiative säkularer Islam", die von "fragwürdigen Personen" unterstützt werde. "Die Unterzeichner scheinen zudem noch im Zeitalter der Säkularität und noch nicht in das postsäkulare Zeitalter eingetreten zu sein. In diesem existiert ein religiöser Diskurs gemeinsam mit einem säkularen gleichberechtigt im öffentlichen Raum." Aha! Als "fragwürdige Personen" nennt Hafez Seyran Ates, weil sie jüngst mit der FPÖ diskutierte, und den österreichischen Politologen Michael Ley. Die Ideen der Initiative kann man inzwischen hier nachlesen.

Indirekt äußert sich auch Bundesinnenminister Horst Seehofer in den politischen Seiten der FAZ zur "Initiative Säkularer Islam". Vor der beginnenden neuen Islam-Konferenz schreibt er: "Wir wollen bei der Deutschen Islam Konferenz .. möglichst viele in Deutschland lebende Muslime repräsentiert sehen und werden neben den Dachverbänden von Moscheegemeinden stärker als bisher Frauen und Männer aus örtlichen, säkularen und verbandsunabhängigen Initiativen, Trägern und Vereinen einladen. Sie sind diejenigen, die uns aus dem Alltag und aus der Mitte der Gesellschaft berichten können."
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Urheberrecht

Langsam wird die Behauptung, dass Forschung an Universitäten unabhängig sei, zur Fake News. Vor Jahren hat Google mit Berliner Universitäten "Institut für Internet und Gesellschaft" gegründet. Nun gründet die VG Media, die das Leistungsschutzrecht gegen Google durchsetzen will, ein eigenes Institut an der Humboldt-Uni, das den  Fokus auf  "Eigentum und Urheberrecht in der Demokratie" setzen soll - als könnten die Zeitungen, die hinter dieser Idee stehen, behaupten, sie hätten ein Urheberrecht im Sinne des "Geistigen Eigentums" (ohnehin ein fataler Begriff). Im Tagesspiegel berichtet Lina Rusch: "Dem Urheberrecht kommt dabei eine besondere Rolle zu - 'als wesentlichem Bestandteil und Voraussetzung für Pressevielfalt in der Demokratie', wie es in der Aufgabenbeschreibung des Instituts heißt. Geleitet wird es von HU-Vizepräsidentin Eva Inés Obergfell." Aber das macht ja nichts, Google schmiert mit seiner "Digital News Initiative" ja auch wiederum die Zeitungen!
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