9punkt - Die Debattenrundschau

Fatale Resonanz

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2018. Thomas Piketty und Mitstreiter wollen eine neue europäische Institution schaffen, die neue Steuern beschließen kann, um Ungleichheit abzubauen: Um eine "Transferunion" soll es aber nicht gehen, beteuern sie in ihrer Petition. Immerhin: Die Brexit-Diskussion hat dem Nachdenken über Europa genützt, meint Gustav Seibt in der SZ. Vor der morgigen Abstimmung im britischen Unterhaus zeigt sich die britische Unternehmerin Gina Miller, die die Konsultation des Parlaments gerichtlich erstritten hatte, in Zeit online entsetzt über die Ignoranz vieler Abgeordneter. Die NZZ fragt, warum Alexander Solschenizyns hundertster Geburtstag so wenig gefeiert wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.12.2018 finden Sie hier

Europa

Wo ist die Demo? Eindruck vom Samstag abend in Paris. Foto: Anja Seeliger


In Frankreich ist die Revolution am Wochenende ausgeblieben. Die gelben Westen irrten wie die Touristen durch ein zugenageltes Paris, das außer einem Sushi-Laden hier oder einer Parfümerie dort kaum Schaufenster zum Zertrümmern bot. "Paris ohne Theater, Konzerte und offene Museen ist wie eine verlassene Kulisse, und die Passanten wirken wie herumirrende Statisten nach der Aufführung", schreibt Joseph Hanimann in der SZ. Er findet es ungerecht, dass gerade auch die Kulturinstitutionen geschlossen hatten. "Die Graffiti und Hammerschläge gegen den edlen Stein des Triumphbogens galten der dahinter stehenden Staatsmacht, ähnlich wie das Abbrennen von Verkehrsbussen bei den Vorstadtkrawallen der vergangenen Jahre. Die Werke selbst sind den zwischen Denkmalkult und blinder Zerstörung alternierenden Franzosen nicht weniger wert als etwa den Revoltierenden des Arabischen Frühlings, die sich in Kairo, Tunis, Bagdad schützend vor sie stellten, die ihren."

Emmanuel Macron schien eine Antwort auf den Populismus zu sein. Nun stellt sich heraus, dass er Teil eines größeren Problems ist, das den Populismus erst schafft, schreibt Kenan Malik im Observer über die "Gelbe Westen"-Revolte in Frankreich. Macron teile mit den meisten Politikern die Ignoranz für Teile der Bevölkerung, die sich im Stich gelassen fühlten. "Man hat viel über die Abgehobenheit von Politikern gesprochen. Durch nichts erweist sie sich mehr als durch die Tatsache, dass Politiker nun fast schon ein Jahrzehnt damit verbracht haben, sich größere Sorgen um den Populismus zu machen, als über die Politiken, die dieses Gefühl des Alleingelassenseins bestärkten. Man hat sich über Macron lustig gemacht, weil er sich wie ein König aufführt. Die Verachtung für die normalen Leute aber ist in der Debatte über Populismus überall sichtbar."

Thomas Piketty und Mitstreiter veröffentlichen eine Petition mit der nicht geringen Ambition, Europa durch neue Steuern vor dem Untergang zu bewahren. Hintergrund dürften auch die französischen Unruhen sein, in dem Bürger zugleich gegen Steuern und für mehr Geld vom Staat auf die Straßen gehen. Laut Piketty soll aus nationalen und EU-Abgeordneten ein neues Gemium gebildet werden, das die neuen Steuern auf hohe Einkommen, Vermögen und Unternehmensgewinne beschließt: "Bei diesem Vorschlag geht es nicht um die Schaffung einer 'Transferunion', bei der den 'tugendhaften' Ländern Geld weggenommen werden soll, um es den wirtschaftlich schwächeren zu geben. (...) Der entscheidende Punkt ist ein anderer: Es geht vor allem um die Verringerung der Ungleichheit innerhalb der einzelnen Länder und um Investitionen in die Zukunft aller Europäerinnen und Europäer, angefangen natürlich bei den jüngsten, ohne dass dabei einzelne Länder bevorzugt werden." In der taz berichtet Hannes Koch über das Papier, das heute zeitgleich in Le Monde, dem Guardian und der Welt veröffentlicht wird.

Dem Europagedanken hat die Brexit-Diskussion genützt, meint Gustav Seibt in der SZ. So lebendig wurde schon lange nicht mehr über die EU diskutiert, niemand nimmt sie mehr für selbstverständlich, niemand glaube mehr, man könne sie gefahrlos herunterreden: "Die Vorgeschichte des Brexit zeigt, dass jahrelanges Gerede mit Halbwahrheiten und Unwahrheiten folgenträchtig ist. Großbritannien, von historischen Belastungen vermeintlich frei, gönnte sich den Anti-Brüssel-Affekt und lernte seit der Brexit-Abstimmung eine Realität kennen, von der vorher niemand gesprochen hatte. Das Gewürge um den richtigen Weg zum Ausstieg hat nicht nur die britische Öffentlichkeit, sondern auch die aller anderen EU-Länder auf ganz neue Weise mit dem Projekt Europa bekannt gemacht. Die britische Mühsal hat, so erstaunlich das ist, erstmals profunde Öffentlichkeit über die EU hergestellt."

Die britische Unternehmerin Gina Miller, die vor Gericht erwirkt hatte, dass das Parlament zustimmen musste, bevor die britische Regierung die EU über den geplanten Brexit nach Artikel 50 informieren durfte, würde Seibt wohl nur halb zustimmen. Kurz vor der Abstimmung am Dienstag über das Verhandlungsergebnis von Theresa May zeigt sie sich im Interview mit Zeit online entsetzt über die Leichtfertigkeit, mit der britische Politiker  den Brexit angingen: "Großbritannien war einfach zu arrogant und hat die EU völlig unterschätzt. ... Von den 650 Abgeordneten im Parlament haben zu Beginn der Brexit-Verhandlungen nur 87 Parlamentarier die vertraulichen Studien der Regierung zu den Konsequenzen des Brexits überhaupt durchgelesen. Die meisten sagten sich einfach:  'Das wird schon klappen. Die Details sind nicht wichtig.' Ein Kabinettsmitglied sagte mir, er habe erst im Juli 2018 auf einer Fahrt nach Norwegen verstanden, was es mit dem Norwegen-Modell auf sich habe."

Die norwegische Abgeordnete Heidi Nordby Lunde möchte die Briten jedenfalls lieber nicht in der European Free Trade Association (Efta) haben, erklärt sie im Guardian: "Ich glaube nicht, dass es im Interesse Norwegens liegt, die Briten in den Efta-Block einzuladen. Es würde sicherlich das Gleichgewicht innerhalb der Efta stören - und damit auch unsere Beziehungen zur EU. Darüber hinaus setzt das EWG-Abkommen einen Konsens zwischen den Ländern voraus, dass man die eigenen Gesetze den EU-Vorschriften angleicht, wogegen Britannien sein Veto einlegen will. Dies sind die Gesetze und Vorschriften, auf die wir uns verlassen, um einen reibungslosen Zugang zu unserem wichtigsten Markt zu haben. Das Veto eines Landes wirkt sich auch auf die anderen Länder aus: Wenn die Briten der Efta beitreten und Teile des EWG-Abkommens ablehnen, könnte dies das Abkommen für uns alle untergraben. Das Vereinigte Königreich scheint den Beitritt zu unserer Efta-Familie als Übergangslösung zu erwägen, bis es ein besseres Angebot erhält. Es überrascht mich wirklich, dass jemand denken würde, dass die Norweger das attraktiv finden. Es wäre, als würde man den ungehobelten Onkel zu einer Weihnachtsfeier einladen, die Getränke aufpeppen und hoffen, dass alles gut läuft. Das wird es nicht."

Ebenfalls im Guardian warnt die türkische Schriftstellerin Elfi Shafak die Briten, sich imperialer Nostalgie hinzugeben: "Erinnerung ist eine Verantwortung. Wir sollten uns an die Vergangenheit erinnern, nicht nur in ihrem polierten Glanz, sondern auch an ihre Gräueltaten und Ungerechtigkeiten. Die Rhetorik über die Rückkehr zu einer goldenen Vergangenheit ist nicht unschuldig und nicht der richtige Weg. Seien wir bitte nicht so selbstgefällig anzunehmen, dass der imperiale Nationalismus, eine giftige Flüssigkeit, die in jedem Land bitter geworden ist, im Vereinigten Königreich nicht die gleiche Wirkung haben wird, weil 'dieser Ort anders' sei. Das ist genau das, was ein ungarischer, türkischer, kroatischer, österreichischer oder deutscher Imperial-Nationalist sagen würde."
Archiv: Europa

Geschichte

In der NZZ schreibt Ulrich M. Schmid zum hundertsten Geburtstag Alexander Solschenizyns. Obwohl sich der russische Autor im 21. Jahrhundert in jeder Hinsicht als Freund der autoritären Politik Putins erwies, wird sein Geburtstag kaum gefeiert, im Gegenteil: "Der große Mahner ist wieder unbequem geworden, weil sein berühmter Aufruf 'Lebt nicht mit der Lüge!' im heutigen Russland eine fatale Resonanz auslösen könnte. Solschenizyn hatte sich mit diesem flammenden Plädoyer zu Beginn der siebziger Jahre an die russische Intelligenzia gewandt und sie im verlogenen Sowjetsystem auf die bedingungslose Hochachtung der Wahrheit verpflichtet. Dieses Programm erhält eine neue Aktualität, wenn grüne Männchen auf der Krim auftauchen, Soldaten ihre Ferien kämpfend im Donbass verbringen und russische Touristen die Kathedrale von Salisbury bewundern."
Archiv: Geschichte

Medien

Viele in den öffentlich-rechtlichen Sendern und der Politik würden die Rundfunkgebühren gern an die Inflationsrate koppeln, um sich lästige Diskussionen über Sinn und Zweck der Programme zu ersparen. Joachim Huber lehnt das im Tagesspiegel ab: "Die Fans des Indexmodells würden damit die Fragwürdigkeit des Beitragsmodells verdoppeln. Die Zahlungspflicht orientiert sich ja seit 2013 nicht mehr an der Nutzung von ARD, ZDF und Deutschlandradio, sondern an der Existenz eines Haushaltes. Und die Höhe des Beitrages würde sich nicht mehr mit der Leistungseffizienz der Sender verbinden, sondern daran, nur zum Beispiel, ob die Saudis den Ölpreis rauf- oder runterpegeln."

Der Fotograf Lu Guang, der die Umweltverschmutzung in China dokumentierte und zuletzt in der Provinz Xinjiang unterwegs war, die zum Gulag für die muslimische Bevölkerung umfunktioniert wird, ist nun seit fünf Wochen verschwunden, schreibt Robert Y. Pledge in der New York Times - Lu ist Mitglied einer von Pledge gegründeten Fotoagentur: "Lu Guang lebt zusammen mit seiner Frau Xu Xiaoli und ihrem Sohn Michael in New York, wo sie einen permanenten Aufenthaltsstatus haben. Xu Xiaoli hat bei den chinesischen Behörden vielfach nach Verbleib und Gesundheit ihres Manns gefragt, sowohl in Peking als auch in der Provinz  Xinjiang und in seiner Heimatprovinz Zhejiang. Die chinesischen Behörden antworten nicht."
Archiv: Medien

Gesellschaft

Noch in dieser Woche müssten sich die Koalitionsparteien auf eine Neuformulierung oder Streichung des Paragrafen 219a einigen, der Ärzten verbietet darüber zu informieren, dass sie Abtreibungen durchführen. Die SPD hatte eine Lösung noch in diesem Herbst versprochen, schreiben Patricia Hecht und Dinah Riese in der taz: "Möglich ist jetzt, dass die Koalitionsparteien keinen gemeinsamen Nenner finden und den Ball zurück in die Fraktionen spielen. Für diesen Fall hatte die SPD schon früh angekündigt, gemeinsam mit den anderen 'reformwilligen Fraktionen' abstimmen zu wollen; Grüne und Linke fordern die Streichung des Paragrafen, die FDP mindestens eine Reform. Zugleich jedoch käme die Abstimmung ohne Fraktionszwang einem Koalitionsbruch gleich, befürchten viele."
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Abtreibung, Paragraf 219a, FDP