9punkt - Die Debattenrundschau

Blinde Flecken und taube Stellen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2018. In der taz erklärt der Politologe Philip Manow, warum in Nordeuropa der Rechts- und in Südeuropa der Linkspopulismus triumphiert. Emmanuel Macron bekommt jetzt die Quittung für sein selbstherrliches Gehabe, meint Sylvain Cypel im Blog der New York Review of Books. Höhere Steuern auf Benzin wären die Antwort auf den Klimawandel, meint Klimawissenschaftler Benedict Probst in der SZ. Der Konservatismus musste nicht gestupst werden, er starb aus eigener Schwäche, meint der Politologe Thomas Biebricher in Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.12.2018 finden Sie hier

Europa

Frankreich kommt nicht zur Ruhe. Nach den Protesten der "Gelben Westen", die im Land für eine Mischung aus Panik und Hysterie sorgten, das gestrige Attentat in Straßburg. Ein aktuelles Resümee der jüngsten Ereignissen in Libération. Mehr dazu auch bei Spon.

Emmanuel Macron
bekommt im Moment die Rechnung für sein großartiges Gebaren, schreibt Sylvain Cypel in NYR Daily: "Macron hätte erkennen sollen, dass er tatsächlich mit einem schwachen Mandat gewählt wurde. Aber in seinen Auseinandersetzungen über die Lockerung der Arbeitsmarktregulierung, über die Sonderregelungen für Bahnmitarbeiter und über andere brennende soziale Fragen wie die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in öffentlichen Krankenhäusern oder die Verringerung der Kaufkraft hat sich Macron für Inflexibilität entschieden: Er sagt immer wieder, dass er der anderen Seite zuhört, während er vorführt, dass es nichts zu verhandeln gibt. Was er dekretiert, wird verwirklicht."
Archiv: Europa

Internet

Im Interview mit Alex Weidemann von der FAZ plädiert der ehemalige Microsoft-Ingenieur und Internetkritiker Jaron Lanier tatsächlich nicht dafür, das Internet abzuschaffen: "Obwohl ich glaube, dass es mehr Schaden anrichtet, als es Gutes tut. Dennoch brauchen wir dieses globale Informationssystem zum Beispiel, um den Klimawandel zu registrieren und zu dokumentieren. Es ist ein notwendiges Instrument für das Überleben unserer Spezies."

In der NZZ sieht Adrian Lobe das ganz anders: Was Lanier Information nennt, ist für ihn nur Manipulation von Google, scheint es. Jedenfalls, so lange der Konzern seinen Suchalgorithmus nicht offen legt. "Jede Google-Suche wirkt systemstabilisierend. Wissen ist vor allem Herrschaftswissen. In dem Masse, in dem sich Nutzer virtuellen Assistenten unterwerfen oder die Informationsgewinnung an Algorithmen delegieren, verstärkt sich diese Unmündigkeit. Je mehr man auf künstliche Agenten rekurriert, desto mehr verlässt man sich auf maschinelle Heuristiken und desto blinder wird man gegenüber gesellschaftlichen Realitäten."
Archiv: Internet

Geschichte

In Versailles wurde 1918 nicht nur über Deutschland diskutiert, sondern auch über den Status der Kolonien und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, erklärt der Historiker Jörn Leonhard ("Der überforderte Frieden") im Interview mit der FR. Es wurde schnell klar, dass vor allem Frankreich und Britannien daran kein Interesse hatten: Sie forderten erst den Nachweis einer "gewissen Entwicklungsreife" der Kolonisierten. "Vor diesem Hintergrund entwickelte sich Anfang Mai 1919 eine große Protestbewegung, die eng mit der Frage verbunden war, ob man sich weiterhin politisch am Westen orientieren sollte oder doch auf die eigene Geschichte oder auf das radikale neue Modell der Bolschewiki. Für den jungen Mao Tse-Tung ist die Enttäuschung über die Unglaubwürdigkeit des Westens eine ganz entscheidende Erfahrung, für den jungen Ho Chi Minh ebenso. ... Das macht aus dem Moment von 1919 ein Scharnier für das ganze 20. Jahrhundert."
Archiv: Geschichte

Politik

Gar nicht so unähnlich wie die Kolonialmächte in Versailles argumentieren heute Staatsmänner wie Ägyptens al-Sisi, der den arabischen Frühling als "fehlgeleitet" bezeichnet, erklärt der ägpytische Politologe Amr Hamzawy in der NZZ. "So warf Sisi seinen Landsleuten im Hinblick auf ihr Politikverständnis ein grundlegend 'defizitäres Bewusstsein' vor. Der 'humanitäre, finanzielle und moralische Preis, den die Länder des Arabischen Frühlings bezahlt haben', behauptete der Präsident, wäre nicht so hoch gewesen, 'wenn die herrschenden Zustände vor 2011 gleich geblieben wären'. Stattdessen aber kam es zu jener unüberlegten 'Bewegung der Bevölkerung', mit der, so Sisi, die 'Tore der Hölle' geöffnet worden seien. Man habe fälschlicherweise geglaubt, 'unserer Wirklichkeit zu entkommen'. Keine Alternative zum despotischen Staat? Es sind ebendiese Aussagen, die das despotische Politikverständnis des ägyptischen Machthabers offenbaren: Sie degradieren die Bürger des bevölkerungsreichsten arabischen Landes letztlich zu politisch völlig unreifen Menschen, die dem Staat und der Gesellschaft erheblichen Schaden hinzugefügt haben, als sie 'unüberlegt' protestierten."

Der in Cambridge forschende Klimawissenschaftler Benedict Probst weiß, wie wir die Erderwärmung bremsen können, behauptet er in der SZ: Mit veganer Ernährung und einer CO2-Steuer auf Sprit und Heizenergie. Letztere "würde nicht nur Einnahmen bringen, sondern Investitionen in klimafreundliche Technologien attraktiver machen und damit Arbeitsplätze schaffen. Bei einem CO2-Preis von 30 Euro je Tonne würde der Staat jährlich zehn Milliarden Euro mehr einnehmen. Davon könnte ein Teil in die Erforschung sauberer Technologien fließen, und ein weiterer Teil könnte einkommensschwachen Konsumenten zurückerstattet werden, um die hohen Energiepreise zu mildern. So ließen sich Proteste, wie sie gerade in Frankreich zu erleben sind, zumindest abfedern." Ähnlich sehen das neun weitere Klimaforscher auf Zeit online.

Libération hat zwar keine tiefschürfenden Texte über die Lage in Frankreich, dafür aber ein interessantes Interview des brasilianischen Autors Milton Hatoum, der im Gespräch mit Chantal Rayes zwar eine Selbstkritik der brasilianischen Linken fordert, aber die Schuld fürs jetzige Schlamassel im wesentlichen bei der brasilianischen Rechten sieht: "Abgesehen von den Sozialreformen von Getúlio Vargas (der zwischen 1930 und 1954 zweimal regierte, d.Red.) und Lula gab es keinen wirklichen Versuch, die von der Sklaverei geerbten abgrundtiefen Ungleichheiten zu verringern. Ganz zu schweigen von der Gewalt, die eines Landes im Krieg würdig ist. Wir haben durchschnittlich 50.000 Morde pro Jahr, ohne dass die Öffentlichkeit oder gar der Staat bewegt wird. Das allein würde ausreichen, um eine Demokratie zu kaputtzumachen."
Archiv: Politik

Kulturmarkt

(Via turi2) Die Deutschen kaufen weit weniger Bücher als vor zehn Jahren, berichtet unter anderem die Wirtschaftswoche unter Bezug auf Zahlen des Statistischen Bundesamts: Nur noch etwas mehr als die Hälfte der Haushalte in Deutschland hätten 2017 Print- oder elektronische Bücher gekauft, vor zehn Jahren habe der Anteil noch bei 65 Prozent gelegen. "In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Im vergangenen Jahr haben 20,2 Millionen private Haushalte Bücher gekauft (54 Prozent). Vor zehn Jahren waren es noch 23,4 Millionen Haushalte gewesen. Zudem gaben Haushalte, die Bücher oder E-Books kauften, durchschnittlich weniger Geld dafür aus."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Buchmarkt, Krise des Lesens

Ideen

Der Politologe Philip Manow stellt in seinem Buch "Die Politische Ökonomie des Populismus" die These auf, dass in Südeuropa der Linkspopulismus und in Nordeuropa der Rechtspopulismus obsiege. Die Gründe seien wirtschaftliche: Im Süden gehe es um heimische Nachfrage und darum, den Nepotismus zu schützen, im Norden gehe es um ein exportgetriebenes Modell und darum, die Wechselfälle des Arbeitsmarkts abzusichern, ein Sozialmodell, das Migranten anzieht. Das kulturelle Erklärungsmodell für die Populismus, wonach der "weiße Mann" an allem schuld sei, lehnt Manow im Gespräch mit Martin Reeh von der taz ab: "Das hilft uns .. nicht zu verstehen, warum wir in unterschiedlichen Ländern unterschiedliche Entwicklungen haben. Nicht einmal, warum der Süden und Norden Italiens zwischen Links- und Rechtspopulisten gespalten ist, kann man damit erklären. Gemäß der Backlash-Theorie müsste doch eher der konservative italienische Süden rechtspopulistisch wählen, der liberale Norden linkspopulistisch. Auch die beliebte Erklärung mit kosmopolitischen Eliten und einer kommunitaristischen, an den Ort gebundenen Normalbevölkerung, die gegen Einwanderung sei, ist mir zu breitflächig."

Nicht nur die SPD, sondern auch der traditionelle Konservatismus der CDU ist sowas von out. Zeit online bringt einen Vorabdruck aus dem Buch "Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus" des Politologen Thomas Biebricher. Der Konservatismus, schreibt er da, sei der CDU von Angela Merkel keineswegs ausgetrieben worden: "Es wirkt eher so, als seien dem politisch organisierten Konservatismus die inhaltlich konservativen Positionen über die Jahre und Jahrzehnte hinweg beinahe unbemerkt abhandengekommen, ohne dass dieser Prozess ausdrücklich forciert worden wäre. (...) Dem parteimäßig organisierten Konservatismus fehlen auch die zivilgesellschaftlichen Verbündeten, mit denen er gemeinsam die kulturelle Hegemonie des Konservatismus als Projekt verfolgen könnte."

Am Montag starb in Stuttgart der Philosoph Robert Spaemann. Er hat "wesentlich dazu beigetragen, dem Begriff 'konservativ' eine neue Prägung zu geben", schreibt Arno Widmann in seinem Nachruf in der Berliner Zeitung. "Das scheint ein Widerspruch in sich. Aber in ihm bewegt sich alles Leben. Wer seinen Gottesglauben nicht nachvollziehen konnte, wer die Hände über dem Kopf zusammenschlug, als er Schwulenehen verurteilte, weil sie gegen die Lehre der Kirche und gegen die Christi verstoßen, der tat trotzdem gut, ihm zuzuhören. Wir alle haben blinde Flecken und taube Stellen. Gerade die Aufgeklärten bedürfen der Aufklärung. Spaemann konnte einem das vielleicht nicht bei-, aber doch nahebringen." Weitere Nachrufe schreiben Otfried Höffe in der NZZ, Gregor Dotzauer im Tagesspiegel und Matthias Dobrinski in der Süddeutschen.
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Christian Lindner ruft die SPD auf, gemeinsam gemeinsam mit der FDP und anderen Oppositionsparteien für eine Abschaffung des Paragrafen 219a zu stimmen, schreibt Dinah Riese in der taz. Bisher war die FDP nicht rückhaltlos für Abschaffung. Der SPD wird's damit nicht gut gehen: "Sollte die Abstimmung tatsächlich kommen, ist die Chance darauf, dass der Antrag mit den Stimmen der SPD angenommen wird, gering. Auch wenn SPD, FDP, Grüne und Linkspartei geschlossen dafür stimmten, würde die Mehrheit mit nur 13 Stimmen Vorsprung knapp ausfallen - und mit den Stimmen der SPD ist in dieser Situation kaum zu rechnen. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Große Koalition den Antrag auf Abstimmung ablehnt - mit einer SPD, die damit gegen ihre eigentliche Position handelt."

In Berlin macht zur Zeit die Politsekte "Jugendwiderstand" auf sich aufmerksam. Sie bezeichnet sich selbst als links, attackiert aber mit Vorliebe andere Linke, die ihre Ansichten nicht teilen, berichten Maja Friedrich und Jan Werkener im Tagesspiegel. "Sehr mitteilsam ist die Gruppe im Internet. In Verlautbarungen beschreibt sie sich selbst als 'antiimperialistische und revolutionäre Jugendorganisation unter proletarischer Führung', als 'die Organisation, die den Maoismus in Deutschland wieder zu den Volksmassen trägt'." Das Auftreten der Truppe, deren Anführer ein Kreuzberger 27-jähriger Kindergärtner namens Patrick ist (die anderen "tragen Namen wie David, Malte oder Johannes"), ähnelt aber genauso gut dem rechter Schlägertrupps, so die verwirrten Reporter: "Sie beschimpfen ihre Gegner mit einem Vokabular, das in der linken Szene eigentlich verpönt ist: bezeichnen Frauen als 'Schlampen' oder 'Trotzkistenfotzen', Männer als 'Hurensöhne' und 'schwanzlose Missgeburten'. Machen Witze über Menschen mit Behinderungen. ... Besonders auffällig ist aber ihr Hass auf Israel - und auf Linke, die den jüdischen Staat in Schutz nehmen."
Archiv: Gesellschaft