9punkt - Die Debattenrundschau

Und alle kaufen im Bioladen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.12.2018. Wem gehört das "kulturelle Erbe"? In der NZZ kritisiert die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin den Eigentumsbegriff in dem Rückgabe-Manifest Benedicte Savoy und Felwine Sarr. Die New York Times freut sich: Die Rechte einiger Autoren entkommen dem 95-jährigen Schutz des "Mickey Mouse Protection Act". Im Freitag distanziert sich der Philosoph Guillaume Paoli vom "global-kreativen Mittelstandsspektrum".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.12.2018 finden Sie hier

Kulturpolitik

In der NZZ kritisiert die Göttinger Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin das politische Manifest von Benedicte Savoy und Felwine Sarr, die mehr oder weniger verlangten, "alle Sammlungen in französischen Museen, die während der Kolonialzeit in Afrika angelegt wurden, müssen zurückgegeben werden", so Hauser-Schäublin. Diese Maximalforderung lasse sich aber nur stellen, wenn man wie Savoy und Sarr nicht mehr von "Kulturgütern" spricht, wie die UNO, sondern von "kulturellem Erbe": "Dieser Begriff suggeriert eine direkte quasiverwandtschaftliche Beziehung zwischen Erblasser und Erbe (etwa Vater und Sohn) und impliziert einen vorbestimmten und rechtmäßigen Eigner (propriétaire légitime): die Nachfahren der ehemaligen Besitzer des Kulturguts. Darauf aufbauend, verwenden Savoy und Sarr einen Eigentumsbegriff, der den komplexen künstlerischen, spirituellen, soziopolitischen und performativen Rechten und der multiplen Teilhabe an Artefakten im (früheren) afrikanischen Kontext nicht gerecht wird."

Erstaunlich ist auch, wie wenig die Mutter des Kolonialismus, Britannien, bisher auf den Restitutions-Streit reagiert. Im Guardian - sonst in Moralfragen immer ganz vorne - gab's vor einigen Tagen ein windelweiches Editorial zu Rückgabeforderungen: "Es ist sinnlos vorzugeben, einfache pauschale Regeln oder einfache Antwortmöglichkeiten seien möglich. Es ist sinnlos vorzuschlagen, alle Objekte, die sich in Museen befinden, an ihren Ursprungsort zurückzubringen; in den meisten Fällen wäre es sowohl unmöglich als auch unerwünscht (denken Sie an die griechischen Skulpturen, die von römischen Eroberern erworben wurden, die sich heute in italienischen Museen befinden). Zu behaupten, dass nichts zurückgegeben werden darf, ist ebenso absurd: Es gibt Tausende von Objekten, die allein in Großbritannien verstreut sind, und nur sehr wenige unterliegen Rückerstattungsansprüchen - es besteht keine unmittelbare Gefahr von Après moi le déluge." Kurz: Man müsse erst mal erforschen, was wie ins Land gekommen sei.

Derweil fordert Hermann Parzinger, Präsidient der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, laut Tagesspiegel/dpa die Einrichtung von Strukturfonds für Museen in ehemals kolonisierten Ländern: "'Wir sollten nicht in einer leicht neokolonialen Geste einfach den Bau von Museen anbieten, sondern zunächst genau fragen, was unsere Partnerländer wirklich an Unterstützung brauchen.' Auch beim Kulturerhalt komme es auf Hilfe zur Selbsthilfe an. 'Wir müssen die Museen in die Lage versetzen, ihre Aufgaben erfüllen zu können. Sie wissen sehr genau, was sie dafür brauchen.'"
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Europa

In Brüssel musste der Premierminister Charles Michel nach Protesten von flandrischen Nationalisten zurücktreten. taz-Korrespondent Eric Bonse liest es als böses Vorzeichen für ein schwieriges Jahr in Europa: "Michel, Macron und May - noch im Sommer standen diese Politiker für Stabilität, Macron galt sogar als Hoffnungsträger. Nun müssen sie mitansehen, wie sie zum Spielball von Nationalisten, Populisten und Putschisten geworden sind. Drei Monate vor dem Brexit und fünf Monate vor der Europawahl steht Westeuropa vor einem Scherbenhaufen."
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Stichwörter: Belgien, Brexit

Internet

Andrea Diener erzählt in der FAZ, wie die Autorin Katharina Nocun für ihr Buch "Die Daten, die ich rief: Wie wir unsere Freiheit an Großkonzerne verkaufen" Amazon dazu brachte, ihr alle Daten zu schicken, die der Konzern über sie kannte: "Und da war es nun endlich, das komplette Klickverhalten der Katharina N., jede einzelne Interaktion, jeder Klick, jedes Bild, das sie vergrößert hat... 15.000 Einträge sind das zwischen August 2016 und Oktober 2017."
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Stichwörter: Amazon, Nocun, Katharina

Urheberrecht

Am 1. Januar 2019 und an den Jahreswechseln der Folgejahre werden in den USA die Urheberrechte besonders vieler Autoren und Künstler frei, schreibt Alexandra Alter in der New York Times: "Die plötzliche Flut wieder verfügbarer Werke hat ihren Ursprung in einem Gesetz, das 1998 im Kongress beschlossen wurde und Copyright-Schutz um zwanzig Jahre verlängerte. Das Gesetz setzte das Copyright von Werken aus den Jahren 1923 bis 1977 von 75 auf 95 Jahre hinauf, so dass ihr bisheriger Schutz eingefroren wurde. (Das Gesetz wurde von Gegnern  als  'Mickey Mouse Protection Act' bezeichnet, weil es 'Steamboat Willie', den ersten Disney-Film mit Micky Maus bis ins Jahr 2024 unter Copyright stellte.)" Unter anderem werden jetzt und in den Folgejahren Werke von Thomas Mann, Marcel Proust oder F. Scott Fitzgerald frei.
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Ideen

Der in Berlin lebende Philosoph Guillaume Paoli wendet sich im Gepräch mit Tim Turiak im Freitag gegen das "global-kreative Mittelstandsspektrum", für das in Berlin sogar der große Frank Castorf geopfert wurde. Es schaffe sich "eine heile Welt in einer gentrifizierten Stadt, in der alles wunderbar ist: ohne Rassismus, ohne Sexismus, und alle kaufen im Bioladen. Dabei vergisst man, dass es sich diese Menschen leisten können, in dieser Blase zu leben. Und sie können das nur, weil die anderen vertrieben worden und nicht mehr sichtbar sind. Dann vernebelt man die soziale Spaltung, indem man wie im 19. Jahrhundert sagt, dass die anderen an ihrer moralischen Armut schuld sind, weil sie eben nicht im Bioladen einkaufen."

Außerdem: In der FAZ porträtiert Jürg Altwegg den vom Judentum zum Katholizismus konvertierten neuen französischen Meisterdenker Fabrice Hadjadj.
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Gesellschaft

Ob sich tatsächlich Angriffe auf Polizisten, Lehrer, Feuerwehrleute und Sanitäter erhöhen - wie kürzlich im Fall eines "Durchschnittsbürgers", der die Ausfahrt für einen Krankenwagen mit einem bewusstlosen Kind nicht freimachen wollte - lässt sich nicht mit Zahlen belegen, aber auch den gefühlten Anstieg von Gewaltbereitschaft und Aggression müsse man ernst nehmen, meint im Interview mit der FR der Soziologe Wilhelm Heitmeyer. Er sieht die Schuld beim Kapitalismus, dem Konkurrenzdruck und vor allem dem schnellen Wandel überall: "Das bedeutet, dass wir es mit einer Wertepluralisierung - nicht zu verwechseln mit Werteverlust - zu tun haben. Es ist nicht mehr allgemein klar, welche Werte wir teilen, was uns gemeinsam wichtig ist. Es wird unklarer und beliebiger, wie man sich verhalten soll. Das Beispiel mit dem bewusstlosen Kind zeigt ein Muster von Selbstermächtigung zur rücksichtslosen Stärkedemonstration, um ungestört seinen Geschäften nachgehen zu können. Dahinter steckt ein immenser Verlust von Empathie, ein Hinweis auf Vergiftungen in der Gesellschaft."

Es gibt den Werkbund noch. Ausgerechnet in Berlin wollte er mit einer kleinen Siedlung zeigen, dass guter Wohnungsbau noch geht. Niklas Maak erzählt in der FAS, wie das Projekt scheiterte. Maaks Diagnose lautet: "Der Boden ist so teuer, die Öko- und Komfortauflagen fürs Bauen sind so hoch, dass die Investoren, wollen sie Geld verdienen, am eigentlichen Haus massiv sparen müssen, und das auch knallhart tun, denn der Druck, eine Wohnung zu finden, ist so groß, dass die Leute schon einziehen werden. Der Druck auf die Politik, nach jahrzehntelangem Dämmerschlaf jetzt schnellstmöglich Tausende von Wohnungen zu bauen, ist so groß, dass sinnlos gemetert wird, wie das im Fachjargon heißt, nur um das Plansoll zu erfüllen. Ergebnis: Wohnsilos, in die die Leute wirklich nur ziehen, weil sie keine andere Wahl haben."
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Religion

Die NZZ hat einen Artikel des Theologen Jan-Heiner Tück online nachgereicht, der sich wünschte, die katholische Kirche würde mit einem Feiertag daran erinnern, dass Jesus Jude war: "Immer mehr Juden aber, ob gläubig oder nicht, fühlen sich mit dem Problem des zunehmenden Antisemitismus allein gelassen. Neben Solidaritätsbekundungen und Aufklärungsarbeit könnte die Kirche einen symbolischen Akt setzen, um ihrer Verbundenheit mit dem Judentum Ausdruck zu verleihen. Sie könnte ihren liturgischen Kalender ändern und ein Fest wiederbeleben, dessen Wurzeln ins 6. Jahrhundert zurückreichen und das bis 1969 am Neujahrstag gefeiert wurde: die Beschneidung des Herrn."
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