9punkt - Die Debattenrundschau

Die berühmten falschen Freunde

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.01.2019. In La Dépêche,der Tageszeitung aus Toulouse, spricht Michel Serres über den Riss "zwischen der Gesellschaft, wie sie entstanden ist, und den Institutionen, wie sie geblieben sind". Vier Jahre nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo wollen die Franzosen zur Tagesordnung übergehen und verstehen nicht, wie fragil die Demokratie ist, sagt Riss im Figaro. Aufmacher in Deutschland: Robert Habeck hört auf zu twittern. Und die Medien zensieren sich im Fall Relotius.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.01.2019 finden Sie hier

Medien

Die Gefahr des Terrorismus scheint abgeflaut, aber der religiöse Extremismus breitet sich aus, sagt Riss, Chefredakteur von Charlie Hebdo im Interview mit dem Figaro am Jahrestag des Attentats: "Vier Jahre nach der Tragödie vom 7. Januar haben wir fast vergessen, was sie für uns bedeutet. Einige Franzosen meinen, dass Charlie 'übertreibe' und sagen uns: 'Vielleicht sollten wir zu anderen Themen übergehen'. Sie sehen nicht, wie fragil die Demokratie geworden ist."

In der Berliner Zeitung wünschte sich Götz Aly etwas mehr Selbstkritik von jener Creme des deutschen Journalismus, die einen Claas Relotius immer wieder mit höchsten Preisen ausgezeichnet hat: "Die Tatsache, dass die Namen der Laudatoren, die Jury-Begründungen und die Lobreden auf den Preisträger Relotius aus dem Internet getilgt sind, finde ich antiaufklärerisch. Nur wer diese Texte kompakt veröffentlicht und die Namen der jeweils Beteiligten nennt, zeigt ein ernsthaftes Interesse, aus diesem, den deutschen Journalismus schwer belastenden Betrugsfall zu lernen."

Marcel Weiß gratuliert in seinem Blog neunetz.com dem Perlentaucher, der über den Dienst Steady eine substanzielle Unterstützung seiner Leserschaft bekommen hat. Zwar reichen diese Summen nicht aus, so Weiß, aber "es lohnt sich ein Blick auf die Startseite von Steady, um zu sehen welche anderen Projekte sich auf diese Art in Deutschland komplett oder zum Teil refinanzieren. Das Bildblog etwa bekommt etwas über 4.000 Euro brutto über Steady. Es sind Dienstleister wie Steady und Patreon, die künftig eine integrale Komponente nicht nur für Medien sondern auch für Kunst und Kultur sein werden. Wie immer lohnt sich ein Gedankenspiel, wo solch ein Ansatz in fünf, in zehn Jahren stehen wird."
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Ideen

La Dépêche, die führende Tageszeitung aus Toulouse, bringt ein sehr lesenswertes Interview mit dem 88-jährigen Philosophen Michel Serres, der über die Krise der "Gilets jaunes" und allgemein der Repräsentation in den Demokratien spricht: "Mein Zögern, diese Ereignisse im heutigen Frankreich zu kommentieren, erklärt sich aus diesem Ungleichgewicht, das ich seit zwanzig oder dreißig Jahren empfinde - zwischen der Gesellschaft, wie sie entstanden ist, und den Institutionen, wie sie geblieben sind. Es gibt ein totales Missverhältnis zwischen einer veralteten Politik und einer völlig neuen Gesellschaft. Uns fehlt ein Modell des Übergangs, und ich selbst bin ratlos. Wir haben die Folie nicht mehr, die uns das Verhältnis von Politik und Gesellschaft verständlich machte." Als Faktoren der Veränderung, auf die die Institutionen nicht reagierten, nennt Serres "das allmähliche Verschwinden der ländlichen Kultur - wir lebten zu fünfzig Prozent auf dem Land, und heute zu zwei Prozent - , die neuen Technologien, die Globalisierung der Wirtschaft, die tragischen ökologischen Probleme und vor allem siebzig Jahre Frieden, die es in unserer Gesellschaft noch nie gegeben hat."
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Internet

Wikileaks hat eine Mail an Agenturen gesandt, um sie zu informieren, was man alles über Julian Assange nicht behaupten darf. Die Bloggerin Emma Best leakt dieses Scheiben. Die Liste der Dinge, die man über Assange nicht sagen darf, umfasst 140 Punkte. Ein Auszug, nicht übersetzt: "It is false and defamatory to suggest that Julian Assange is an anti-semite. It is false and defamatory to suggest that Julian Assange is a mysogynist or sexist. It is false and defamatory to suggest that Julian Assange is a paedophile. It is false and defamatory to suggest that Julian Assange is a rapist."

"Die Bewusstseinslage des vernetzten Menschen" ist vor allem von Ungewissheit geprägt, von Kontrollverlust, meint der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in der NZZ anlässlich des jüngsten Hackerskandals. "Die Frage bleibt, wie die Gesellschaft langfristig auf die Unkalkulierbarkeit von Kommunikationseffekten und den Terror der Transparenz reagieren wird. Durch Mitleid mit den Betroffenen, die auf einmal im grellen Licht der Öffentlichkeit zu sehen sind? Durch eine neue Gelassenheit, die die Ad-hoc-Enthüllungen über Privates und Peinliches achselzuckend als Kollateralschaden einer vernetzten Medienwelt akzeptiert? Durch eine wieder aufflammende Verherrlichung des Geheimnisses, eine reaktive Romantik des Verbergens? Oder aber durch eine zunehmende Unruhe und Enttäuschungswut, weil doch offensichtlich wird, dass der Mensch aus krummem Holz geschnitzt und alles andere als perfekt ist, man aber gleichzeitig die eigenen Verehrungssehnsüchte und ein idealistisches Konzept von Autorität unbedingt aufrechterhalten möchte?"
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Europa

Es wäre verkürzt und bequem, die Populisten in Europa als einfache Nationalisten und Antieuropäer zu sehen, im Gegenteil: Sie vernetzen sich in Europa, um die EU zu ihrem Vorteil zu nutzen, schreibt der Politologe Alexander Clarkson bei politico.eu: "Der größte Fehler, den die Befürworter der EU machen könnten, wäre die Annahme, dass rechtsextreme Parteien dogmatisch in der populistischen Rhetorik, die sie in der Opposition benutzten, stecken bleiben, wenn sie an der Regierung sind. Auch die Populisten haben gesehen, wie es  Griechenland oder dem Vereinigten Königreich erging, nachdem sie die EU herausgefordert hatten, und sie passen ihre Strategien entsprechend an. Salvini, der eine regionalistische Partei dazu brachte, italienischen Nationalismus zu bekunden, wird sicherlich keine Bedenken haben, eine europäische Identität zu verteidigen, wenn sich das als politisch sinnvoll erweist."

In der Welt ermuntert  Boris Kálnoky, die Demonstranten in Ungarn, Polen, Serbien, der Slowakei oder Rumänien zu unterstützen, die zu Hunderttausenden gegen Korruption und Machtmissbrauch auf die Straße gehen: Es gibt bei ihren Regierungen "ein Streben nach optimaler Macht, weit entfernt vom Geist der Freiheit, der die Menschen der Wendezeit erfüllte. So sagen heute viele der jungen Demonstranten: Wir müssen vollenden, was unsere Eltern begannen. Das Potenzial für Veränderung ist mit Händen zu greifen - aber leider wollen viele dieser jungen Leute in die West-EU abwandern, die ihren Idealen besser entspricht und wo man besser verdient. Das führt zu einem strukturellen Konservativismus im Osten Europas, verstärkt durch Pläne der EU, weniger Geld dorthin zu vergeben. Nur mehr Wohlstand kann die Reformkräfte dauerhaft stärken. Dass sollte man sich in Brüssel vor Augen halten."
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Gesellschaft

Einen Grünen-Politiker verkündet, Twitter zu verlassen, und die Medien machen es zum Aufmacher (etwa hier die taz). Dass Robert Habeck Probleme mit den Kommunikationsformen bei Twitter hat, wo er sich verplapperte, mag Anna Veronika Wendland bei den Salonkolumnisten noch hinnehmen: "Dann aber ergänzt Habeck: Der Kommunikationsmodus in den Netzwerken, insbesondere bei Twitter, habe ihn 'desorientiert' und auf ihn 'abgefärbt', was ihn aggressiver und polemischer gemacht habe, als er eigentlich sein wolle. Habeck schiebt hier die Verantwortung auf die berühmten 'falschen Freunde', in deren schlechte Gesellschaft er geraten sei. Allein gilt auch bei Maschinenfreunden: die Verantwortung für die eigene Schreibe liegt allein beim Autor, und ein Politprofi sollte vor jeder Aussage prüfen, ob er auch in zwei Tagen, zwei Wochen und zwei Jahren seine Worte wird verantworten können."

Hinter Habecks Rückzug steckt "steht keine echte Einsicht", glaubt Markus Decker in der Berliner Zeitung, sondern eher Beleidigtsein, dass das Selbstbild angekratzt ist: "Abgesehen davon, dass die Kritik an Twitter ihre Berechtigung hat, drängt sich deshalb vor allem ein Eindruck auf: In der Größe seiner Demut will sich Habeck von niemandem übertreffen lassen. Tatsächlich demütig wäre gewesen, zu sagen, ich bin nicht besser als andere - und mache weiter." Schnelle Lösungen gibts auch im digitalen Raum nicht, ruft Dirk von Gehlen in der SZ Robert Habeck zu. Dessen Rückzug aus den sozialen Medien "bedient ein Muster, das man seit Jahrzehnten aus dem Umgang mit dem Web kennt: Das Neue und Fremde wird zum Problem erklärt statt der Frage nachzugehen, woher die Menschen (und vielleicht auch Bots) eigentlich kommen, die Twitter für Robert Habeck zu so einem schlimmen Ort machen."

In der SZ graut es Adrian Lobe vor der Vorstellung, Verkehrsführung, Staus und Baustellen könnten mit Datenanalysen besser verwaltet werden: für ihn alles neoliberale Optimierung. "Die Modelle unterstellen, dass maschinelles Lernen effektiver als politische Lernprozesse und Verwaltungshandeln eine Technik von gestern sei. Mithilfe von Sensoren könne man die Stadtgesellschaft viel effektiver regulieren, raunt man sich auf Smart-City-Konferenzen zu. Städte werden nicht mehr regiert, sondern 'gemanagt'. Dass mit der Installation eines kybernetischen Regelkreislaufs Programmierer Sollgrößen implementieren und der Souverän entmachtet wird, ist die Kehrseite der Medaille. Regieren droht zur Prozesssteuerung zu verkommen." Als Berliner kann man nur sagen: exzellente Idee.

Man spricht schon nicht mehr von "Islamophobie" (eine Vokabel, die problematisch genug ist), sondern von "antimuslimischem Rassismus", als wäre die Religion unveränderliches genetisches Schicksal einer Person, das unbedingt zu respektieren wäre. Gegen "antimuslimischen Rassismus" möchte der Student Mulla Cetin in der taz einen Beauftragten haben, so ähnlich wie den Antisemitismusbeauftragten: "Deutschlands Muslime sind politisch unterrepräsentiert. Die knapp 5 Millionen Muslime bilden die größte religiöse Minderheit in Deutschland. Trotzdem sind sie in der Politik kaum vertreten. Ein Beauftragter gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit könnte das ändern: Zunehmende Hasskriminalität, Diskriminierung in Schulen sowie auf dem Arbeitsplatz, Forschungs-, Aufklärungs- und Präventionsarbeit gegen antimuslimischen Rassismus wären Teil seines Tätigkeitsfeldes."
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Religion

FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube gibt den Kirchen Tipps, wie sie den Religionsunterricht an den Schulen erteilen sollen. jedenfalls nicht mit lauwarmer Lebenshilfe qua Bibeltzitaten, was heute Praxis zu sein scheint. Kaube will stattdessen "sinnerfassende Lektüre": "Wieso Gott einen Baum der Erkenntnis geschaffen hat, was es sagen will, dass Abrahams Gehorsam sogar das Opfer des eigenen Sohnes einschloss, wie sich dazu das Gleichnis vom verlorenen Sohn verhält und weshalb es keines von der verlorenen Tochter ist - den Bestand an solchen religiösen Denkbildern und Weisungen exemplarisch zu erschließen, wäre als Aufgabe eines erkundenden Religionsunterrichts völlig ausreichend. Dabei handelt es sich um einen Bestand, zu dem auch die Denkbilder und Glaubenszumutungen anderer Weltreligionen gehören."
Archiv: Religion