9punkt - Die Debattenrundschau

Luftgewehr der Fantasie

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.01.2019. Heute wird über Theresa Mays Brexit-Deal abgestimmt. Aber niemand sollte denken, dass es nun bald vorbei ist mit dem Streit, sagen der Historiker Anthony Glees  in der SZ und die Kolumnistin Polly Toynbee im Guardian. Die Reaktionen auf den Mord am Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz offenbaren für politico.eu die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft. Im dpa-Interview rät Mathias Döpfner Journalisten, sich aus den sozialen Medien abzumelden. taz und FR fragen: Was besagen die Morddrohungen gegen die Anwältin Seda Basay-Yildiz, über die deutsche Gesellschaft - und die hessische Polizei?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.01.2019 finden Sie hier

Europa

Heute abend stimmt das britische Unterhaus über den Brexit-Vertrag mit der EU ab. Theresa May wird diese Abstimmung wohl verlieren, fürchten die meisten Kommentatoren. Und was dann? Ein Brexit ohne Deal? Eine Verlängerung der Austrittszeit nach Artikel 50? Ein neues Referendum? Nichts davon erfüllt den Historiker Anthony Glees im Interview mit der SZ wirklich mit Optimismus. Auch kein zweites Referendum: "Laut Umfragen ginge es genau anders herum aus, also 52:48 für einen Verbleib. Die Spaltung dieses armen Landes würde das nicht beseitigen. Die Stimmung wird immer gereizter. Die Abgeordnete Jo Cox starb 2016 nach einem Attentat. Die Brexit-Gegnerin Anna Soubry wurde kürzlich vor dem Parlament als Nazi beschimpft, von angeblichen 'Gelbwesten', die eigentlich Ukip-Aktivisten sind. Niemand griff ein. Das ist auch ein Zeichen einer vorrevolutionären Zeit: Die Polizei weiß nicht mehr, wie sie gewählte Vertreter des Volks beschützen soll."

Düster, düster, düster liest sich Polly Toynbees Guardian-Kommentar am Tag der Abstimmung über Theresa Mays Brexit-Deal: "Niemand sollte denken, dass es nun bald vorbei ist. Dies ist nur das Ende vom Anfang in einem Brexit-Bürgerkrieg, der eine Generation lang anhalten wird. Es ist kein Ende in Sicht, keine Heilung, keine Lösung, egal, wie all die Abstimmungen ausgehen."

Der Danziger Bürgermeister Pawel Adamowicz, der von einem Kriminellen mit einem Messer angegriffen wurde, ist seinen Verletzungen erlegen. Auch wenn der Mörder offenbar geistig gestört war, zeigen die Reaktionen auf den Mord doch, wie gespalten Polen politisch ist, schreibt Jan Cienski bei politico.eu: Adamowicz war ein Liberaler, der unter anderem für die Rechte Homosexueller eintrat. Die Spendenaktion, bei der er ermordet wurde, war bei der Katholische Kirche verhasst. Und nach dem Mord findet das zerstrittene Polen keine gemeinsame Form des Gedenkens: "Die polnische Bevölkerung hat sich zunehmend in feindlichen Lagern isoliert. Urbane Liberale und rechtsextreme Regierungsmitglieder beziehen ihre Nachrichten aus unterschiedlichen Quellen, haben immer weniger miteinander zu tun und vertreten tief divergierende Ansichten über den Ort ihres Landes in Europa und der Welt. Die sozialen Medien sind zu einem Kriegsgebiet geworden - jeder, der von der Parteilinie abweicht, wird angegriffen."

Dass rechte Hetze eine Rolle gespielt hat bei der Ermordung Adamowiczs, davon ist nicht nur SZ-Korrespondent Florian Hassel überzeugt: "Der Chefredakteur der regierungsnahen Zeitung Rzeczpospolita fühlte sich trotz der möglichen Erkrankung des mutmaßlichen Mörders Stefan W. an dunkle Zeiten erinnert. Auch die Tat von Eligiusz Niewiadomski, der 1922 nach einer Hetzkampagne durch die Rechte den liberal-gemäßigten Präsidenten Gabriel Narutowicz ermordete, habe einen psychopathischen Hintergrund gehabt, doch sei dies gleichwohl Teil der damaligen polnischen Politik gewesen. Der Messerstecher von Danzig sei dessen 'albtraumhafter Erbe'."

Wie rechte Hetze funktioniert, liest Götz Aly (Berliner Zeitung) in einem 2018 erschienenen Gesprächsbuch mit dem Vorsitzenden der Thüringer AfD, Björn Höcke, der dort seine "Fantasien zur Machtergreifung, wie sie im geistigen Schoß der AfD ausgebrütet werden", deutlich macht: "Es handelt sich um einen nur leicht verschlüsselten, meines Erachtens eindeutig verfassungsfeindlichen Aufruf, Waffen zu vergraben und Nächte der langen Messer vorzubereiten", so Aly mit ermunterndem Blick zur Staatsanwaltschaft.

Der ehemalige italienische Terrorist und spätere Krimiautor Cesare Battisti ist nach jahrzehntelanger Flucht von Bolivien an Italien ausgeliefert worden. FAZ-Frankreich-Korrespondentin  Michaela Wiegel und Rom-Korrespondent  Matthias Rüb erzählen nochmal die Geschichte Battistis und sprechen auch die jahrelange Duldung ehemaliger italienischer Terroristen durch die französische Linke an: "Mitterrands Justizminister Robert Badinter hat für das Buch 'Die bleiernen Jahre' (Les années de plomb) das Original der Aktennotiz zur Verfügung gestellt, mit der das Justizministerium schon 1983 Cesare Battisti ausdrücklich von einem möglichen politischen Asylanspruch ausschloss. Doch Mitterrand setzte sich darüber hinweg. Erst 2003 brach der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy mit der Politik Mitterrands."
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Internet

Die Digitalisierung lässt sich nicht rückgängig machen, aber vielleicht etwas klüger gestalten, denkt sich die Netzaktivistin Katharina Nocun in der SZ nach dem jüngsten Hack der Daten von Politikern. Wenn wir unsere Privatsphäre schützen wollen, sollte "Datensparsamkeit statt Sammelwut" das neue Leitbild von Behörden und Unternehmen werden: "Es braucht keinen Staat, der in puncto Datensammlung Facebook Konkurrenz macht. Es braucht einen Staat, der zur digitalen Selbstverteidigung ermutigt, statt sichere Verschlüsselung und anonyme Kommunikation zu verteufeln. Es sollte keinem Menschen verwehrt werden, seinen innersten Kernbereich der privaten Lebensgestaltung angemessen zu schützen. Niemand kann ernsthaft wollen, in einer Welt ohne Geheimnisse zu leben. Es wäre ein langweiliger Ort voller aufgezwungener Konformität."

Scharf wendet sich die Electronic Frontier Foundation nochmal gegen das europäische Leistungsschutzrecht für Presseunternehmen und die Uploadfilter, die von der EU wohl demnächst beschlossen werden und den traditionellen Inhalteproduzenten größere Macht verleihen: "Zusammengenommen werden diese beiden Regeln riesige Felder von Online-Ausdrucksformen einer Überwachung und willkürlichen Zensur aussetzen und den größten Nachrichtenunternehmen in Europa die Entscheidungsbefugnis geben, wer ihre Berichterstattung diskutieren und kritisieren darf, und den Open-Access-Journalismus im öffentlichen Interesse untergraben."
Archiv: Internet

Medien

Meedia publiziert dankenswerter Weise ein sehr lesenswertes dpa-Interview mit Springer-Chef und Verlegerpräsident Mathias Döpfner, der recht klare Worte zur Relotius-Affäre findet ("Das Problem, dass einstweilen aus dem 'Sturmgeschütz der Demokratie' ein 'Luftgewehr der Fantasie' geworden ist, das muss der Spiegel lösen") und ein erstaunliches Statement zur Präsenz von Journalisten in sozialen Netzen abgibt: "Die eigene Präsenz von Journalisten in sozialen Medien erscheint mir zunehmend problematisch. Die Idee, dass der Vertreter einer Medienmarke rein privat twittern oder auf Facebook posten kann, ist absurd. Kein Mensch kann das unterscheiden. Ein Chefredakteur oder Redakteur ist dort keine private Person. Deshalb wird viel zu schnell geschrieben, was am Ende der Marke abträglich ist. Am Ende dienen diese Aktivitäten allenfalls der Person, sehr selten dem von ihr vertretenen Medium. Ich empfehle allergrößte Zurückhaltung, wenn nicht gar vollkommene Enthaltsamkeit."

Wie fremd die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen sind, wenn man an die Nutzeroberflächen von Netflix gewöhnt ist, hat taz-Autor Tilman Baumgärtel erfahren, als er die Folgen der gerade wiederholten "Holocaust"-Serie in den ARD-Mediatheken suchte: "Hier wird man von einer schematischen Ordnung und hölzernen Rubriken empfangen, durch die man sich selbst hindurch navigieren muss: Serien, Comedy, Dokumentarfilme, 'Tagesschau'. Wer eine bestimmte Sendung sucht, weiß besser Bescheid über die Struktur der öffentlich-rechtlichen Anstalten."
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Politik

Die BDS-Kampagne ist sehr wohl antisemitisch, antwortet Frederik Schindler in der taz auf Stefan Reinecke, der das neulich abstritt (unser Resümee). In Israel, so Schindler "haben arabische Israelis, die rund ein Fünftel der Staatsbürger ausmachen, grundsätzlich die gleichen Rechte wie jüdische Israelis. Festgeschrieben ist das bereits in der Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1948. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es keine gesellschaftliche Diskriminierung gäbe. Doch es ist eine absurde Fantasie, einem Land, in dem jüdische wie arabische Staatsbürger Parlamentsabgeordnete, Verfassungsrichter oder Diplomaten sind, ein Apartheidsystem zu unterstellen."
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Gesellschaft

Das Unheimliche ist vielleicht nicht so sehr, dass die Anwältin Seda Basay-Yildiz, die NSU-Opfer vertrat, Drohbriefe bekommt, sondern dass diese Schreiben "persönliche, öffentlich nicht bekannte Daten, wahrscheinlich aus dem Melderegister bei der Polizei" enthalten, legt Konrad Litschko in der taz dar: "Und von den Strafverfolungsbehörden, vom hessischen Innenminister kommt dazu: Schweigen. Das ist so erschreckend wie unverständlich. Denn der Fall hat alles, um das Staatsvertrauen zu erschüttern."

In der FR hat Hanning Voigts zu dem Fall einige Fragen an die "Gesamtgesellschaft": "Was sagt es aus über die Verhältnisse hierzulande, wenn eine deutsche Anwältin mit türkischem Namen derartige Vernichtungsfantasien auf sich zieht? Wenn Hass und Hetze immer stärker die politische Öffentlichkeit bestimmen? Und warum gibt es nicht viel mehr offensive Solidarität mit Seda Basay-Yildiz? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat den Angriff auf den Bremer AfD-Politiker Frank Magnitz kürzlich als 'Angriff auf unseren Rechtsstaat' bezeichnet. Derart deutliche Worte würde man sich auch im Fall der bedrohten Anwältin Seda Basay-Yildiz wünschen."

Eine amerikanische Aktivistin hat den "World Hijab Day" ins Leben gerufen um für die Anerkennung von Frauen mit Kopftuch zu werben, die unter dem Hashtag #FreeInHijab beschreiben sollten, wie frei sie sich unter den Kopftuch fühlen. Das Dumme ist nur, schreibt emma.de, dass sich daraufhin sehr viele Musliminnen meldeten, die zum Tragen des Kopftuchs gezwungen worden waren: "Dass es gerade unter (Ex-)Musliminnen eine sehr kritische, ja empörte Haltung zum islamistischen Kopftuch und der Vollverschleierung gibt, ist nichts Neues. Im Iran ist diesem Unmut vor genau einem Jahr eine ganze Bewegung entwachsen, die 'Mädchen der Revolutionsstraße'. Sie haben sich todesmutig ohne Kopftuch auf den Straßen von Teheran gefilmt und fotografiert und diese Bilder und Videos ins Netz gestellt."

In China hat die #metoo-Bewegung eine unerwartet starke Resonanz, erzählt Franka Lu auf Zeit online. Viele Frauen tauschen plötzlich über die sozialen Medien ihre Erfahrungen aus und stellen fest, dass sie viel mehr benachteiligt sind als angenommen. Das hat Folgen, denn die Frauen "nutzen ihre neu entdeckte Solidarität, um eine breitere Debatte anzustoßen, über Geschlechterdiskriminierung in der Bildung, auf dem Arbeitsmarkt, in der Vermögensverteilung, vor dem Gesetz, in der Familie. Sie mussten entdecken, dass sich bei diesem Thema keine echte Grenze zwischen Privatleben und Öffentlichkeit ziehen lässt: 'Das Patriarchat dominiert alles.' Für die Teilnehmerinnen der Bewegung ist #MeToo das Instrument einer neuen Aufklärung. ... Wer die Machtverhältnisse unter den Geschlechtern verändert, so sagen sie, wird damit auch das politische System demokratisieren oder zumindest Demokratisierungsprozesse einleiten helfen."

Vor acht Jahren löste die Selbstverbrennung des tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi den arabischen Frühling aus. Von der Aufbruchsstimmung damals ist in Tunesien nichts geblieben, stellt Beat Stauffer in der NZZ fest. Im Gegenteil: "Mehr als 30 Prozent aller Jungen zwischen 15 und 30 Jahren sind laut offiziellen Angaben arbeitslos, die Kaufkraft ist den vergangenen Jahren massiv eingebrochen, und die Ankündigungen substanzieller Investitionen ins seit Jahrzehnten vernachlässigte Hinterland haben sich weitgehend als leere Versprechungen erwiesen. Doch das Malaise ist nicht nur ökonomisch bedingt. Da ist auch eine tiefe Frustration über eine Machtelite aus anderen Zeiten, die den Jungen nicht Platz machen will - Präsident Essebsi ist 92 Jahre alt -, über Intrigen und Hahnenkämpfe unter Politikern, die nur ihr eigenes Interesse im Auge haben, während das Land dem Abgrund entgegengleitet. Und da ist ein Gefühl des Eingeschlossenseins in den Grenzen eines kleinen Landes, das vor allem im Hinterland noch stark von Traditionen geprägt ist, die einer westlich orientierten Jugend als enges Korsett erscheinen müssen."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

Der Geograf Christophe Guilluy ist seit den Gilets jaunes in aller Munde. (Der Perlentaucher hat natürlich früher auf ihn hingewiesen.) Als Geograf ist ihm eine Ungleichheit aufgefallen, die sich auf dem Territorium manifestierte. Im Gespräch mit Spiked Online gibt er einen Abriss seiner Theorie: "Technisch gesehen funktioniert unser globalisiertes Wirtschaftsmodell gut. Es bringt viel Reichtum hervor. Aber es braucht nicht die Mehrheit der Bevölkerung, um zu funktionieren. Es gibt keinen wirklichen Bedarf an Handwerkern, Werktätigen und sogar Kleinunternehmern außerhalb der Großstädte. Paris schafft genug Reichtum für ganz Frankreich, und London tut dasselbe in Großbritannien. Aber man kann keine Gesellschaft darauf aufbauen. Die Gilets jaunes sind eine Revolte der Arbeiterklasse, die an diesen Orten lebt."
Archiv: Ideen