9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.01.2019. Der Brexit ist nicht das erste Desaster britischer Krisenbewältigung, schreibt Pankaj Mishra in der New York Times: Nummer 1 war der chaotische Rückzug aus Indien, der auch einiges über den Brexit lehrt. Rein demografisch gesehen, würde Remain ab morgen obsiegen, weiß der IndependentGoogle zeigt laut googlewatchblog, wie eine Suche mit EU-Leistungsschutzrecht aussehen würde - so, als würde sie sich gar nicht aufbauen. Im Tagesspiegel erklären Bénédicte Savoy und Felwine Sarr, wie die Schätze der Kolonialkunst in Afrika verteilt werden sollen: Die afrikanischen Staatschefs sollen entscheiden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.01.2019 finden Sie hier

Europa

Es häufen sich die Reflexionen über die Boys der britschen Oberklasse. Gestern schon legte der irische Autor Fintan O'Toole einen Essay über die zwiespältige Figur des Exzentrikers vor (unser Resümee). Heute erinnert Pankaj Mishra in der New York Times daran, dass der Brexit nicht das erste Desaster britischer Krisenbewältigung war - Nummer 1 ist für ihn  der chaotische Rückzug Britanniens aus Indien. Und noch jetzt schwinge ein ferner Klang des Kolonialismus in der unlösbaren Brexit-Problematik mit: "In einer grotesken Ironie haben sich die 1921 gegen Irland, Englands erste Kolonie, verfügten Grenzen als größter Stolperstein für die englischen Brexiteers erwiesen, die der imperialen Großartigkeit nachjagen. Darüber hinaus steht Großbritannien selbst vor der Gefahr der Spaltung, wenn der Brexit, eine vor allem englische Forderung, durchgesetzt wird und schottische Nationalisten ihre Forderung nach Unabhängigkeit bekräftigen."

Und morgen ist Crossover-Day, sagt der Statistiker und Yougov-Gründer Peter Kellner im Independent: Er hat errechnet, dass rein demografisch gesehen durch das Sterben älterer Brexit-Befürworter und das hinzukommende Wahlrecht für jüngere Bürger ab morgen eine Mehrheit für Remain bestehen sollte - selbst wenn die jungen Wähler nur zu 65 Prozent zur Wahl gehen: "700.000 Bürger erreichen im Jahr das Wahlalter. Bei einer Wahlbeteiligung von 65 Prozent, bedeutet das 455.000 Wähler pro Jahr. Die Umfragen von YouGov ergeben, dass ganze 87 Prozent von ihnen für Remain stimmen würden und 13 Prozent für Leave." Die Guardian-Kolumnistin Polly Toynbee folgert daraus, dass so bald wie möglich ein zweites Referendum abgehalten werden sollte.

Ulrike Guérot hat mehrere Texte zusammen mit Robert Menasse geschrieben und auch in eigenen Texten einige Falschzitate von Europa-Politikern wie Walter Hallstein und Jean Monnet wiedergegeben. Sie habe sie meist wohl von Menasse gehabt und für plausibel gehalten, sagt sie im Gespräch mit Martin Reeh von der taz. Auf die Frage, warum sie ihre Quellen nicht überprüft habe, antwortet sie nicht ganz ohne Gift für ihre Kritiker: "Das war Nachlässigkeit von mir, dafür entschuldige ich mich. Das hat mir schon geschadet und wird mir weiter schaden. Vielleicht habe ich die Quellen nicht nachgesehen, weil sich die Zitate fest im Gedächtnis verankert haben. Etwas, das man nicht mehr infrage stellt und auch lange Zeit von niemandem infrage gestellt wurde. Bis sich die Einstellung zu den Zitaten ändert, so dass auf einmal jemand anfängt nachzubohren - weil es auf einmal ein Interesse gibt, eine bestimmte europäische Erzählung infrage zu stellen."

Die Politologin Sonja Buckel und ihr Mitarbeiter Maximilian Pichl beklagen in der SZ nicht-rechtsstaatliche Mittel auf der Insel Melilla bei der Abschiebung und Zurückweisung von Flüchtlingen. Wer den Grenzzaun überwunden hat, habe Anspruch auf ein Asylverfahren, auch wenn er bei der Grenzüberschreitung widerrechtlich gehandelt habe: "Immer wieder lassen sich die europäischen Regierungen etwas Neues einfallen, um Geflüchteten den Zugang zum Recht zu verwehren. So stellt sich im vorliegenden Fall die spanische Regierung auf den schlichten Standpunkt, es gebe kein Recht zur Einreise. Damit will sie zugleich alle Rechtsschutzansprüche und Schutzvorkehrungen beiseitewischen, zum Beispiel das Verbot der Kollektivausweisung."

Jetzt, wo Horst Seehofer zwar leider nicht als Innenminister, aber als CSU-Chef abtritt, bringen ihm die Journalisten seltsame Hommagen dar. "Er will, wo immer möglich, das Land so erhalten, wie es heute ist", schreibt Thomas Schmid in der Welt. "Und er weiß, dass die Zuwanderung, die es nicht erst seit 2015 gibt, diesen schönen Status quo nachhaltig verändern wird. So schrieb er und legte damit eine Veränderungsbereitschaft am den Tag, die seine Gegner ihm nicht zutrauen: 'Die bestehende Ordnung, die wir alle kennen und lieben, sie geht dem Ende zu. Und es entsteht eine neue Ordnung.'" Angesichts derartiger Verdienste versichert Schmid, dass das "bizarre Sommertheater, das er sich im vergangenen Jahr in einem von ihm geleugneten Clinch mit Angela Merkel leistete, bald vergessen sein" wird. In der SZ schreibt Wolfgang Wittl: "Horst Seehofer hat die CSU grüner gemacht, er hat sie weiblicher gemacht und moderner. "
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Internet

(Via turi2) Google wehrt sich zur Zeit mit einer Werbekampagne gegen das drohende europäische Leistungsschutzrecht (das von Mathias Döpfner neulich in einem Interview noch wärmsten begrüßt wurde, mehr hier). Das googlewatchblog präsentiert einige Suchergebnisse bei Google und Google News, wie sie aussehen könnten, wenn das Leistungsschutzrecht eingeführt ist. Zum Beispiel so: "Was aussieht wie eine nicht vollständig geladene Google-Suchergebnisseite ist derzeit tatsächlich bei vielen Nutzern zu sehen: Die Websuche zeigt sowohl im News-Karussell als auch bei den normalen Ergebnissen keine zusätzlichen Informationen mehr an."




In der NZZ geißelt Slavoj Zizek die Zensur im Netz, die sich von Russland bis Amerika verbreite: "Insofern sollten wir uns freuen über jeden Datendiebstahl, über jeden Datenskandal, über jeden Hackerangriff. Wikileaks war erst der Anfang - lasst hundert Wikileaks blühen!"
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Kulturpolitik

Es gibt nicht nur kulturpolitische Auseinandersetzungen zur Kolonialkunst, es gibt auch die Frage, was man von den afrikanischen Kulturen zeigen mag und was nicht, berichtet François Misser, der das neu eröffnete Brüsseler Afrikamuseum für die taz besucht hat. Ein Exponat, das früher dort ausgestellt wurde, sei heute nicht mehr zu sehen - außer auf einem Gemälde des  kongolesischen Malers Chéri Samba: Es "zeigt zwei Gruppen von Weißen und Afrikanern im Tauziehen um eines der umstrittensten Ausstellungsstücke: die Skulptur des Leopardenmannes der Anyota-Sekte, der sich mit ausgestreckten Leopardenkrallen über eines seiner Menschenopfer beugt. Früher gab es ihn zu sehen, jetzt nicht mehr - die Museumsleitung findet ihn 'politisch inkorrekt', weil er einen Ritualmord darstellt." Es handelt sich um eine Skulptur des belgischen Bildhauers Jean Wissaert von 1915, mehr hier.

Im Interview mit dem Tagesspiegel sind Bénédicte Savoy und Felwine Sarr sehr zufrieden mit ihrem Bericht zur Restitution des afrikanischen Kulturerbes. Kritik daran lassen sie nicht gelten. Was die Rückgabe von Objekten angeht, möchten sie das mit den Regierungen der jeweiligen afrikanischen Länder verhandelt sehen: Sie "sollen entscheiden, wie mit den Objekten umzugehen ist, wem sie auszuhändigen sind, den Museen oder Erben. In Kamerun, Benin, Senegal, Mali haben die enteigneten Familien nichts dagegen, dass der Staat ihre Stücke zurückfordert und dann im Land weiterverhandelt wird. Dort gibt es dafür bereits eine Praxis", sagt Sarr.
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Wissenschaft

Ein großes Bündnis deutscher Wissenschaftseinrichtungen und Wiley, einer der großen Wissenschaftsverlage, haben einen Vertrag abgeschlossen, der offenbar die Koexistenz dieser Verlage und einen Open-Access-Zugang auch online und für alle möglich macht, berichtet Lenohard Dobusch bei Netzpolitik: "Nicht nur die Einigung selbst, auch die Vertrags- und Kostentransparenz ist wegweisend. So soll der Vertrag im Volltext online zugänglich gemacht werden. Transparenz über die Zahlungen ist wiederum Voraussetzung für die Verrechnung innerhalb der an 'Projekt DEAL' beteiligten Einrichtungen. Vor allem aber ist ein doppelt verbesserter Zugang die Folge: die von Projekt DEAL erfassten Einrichtungen bekommen in der Regel Zugang zu einem viel größeren Teil des digitalen Wiley-Archivs und die Beiträge ihrer Wissenschaftler stehen sofort und für alle frei im Netz." Dieser Vertrag erhöhe nun den Druck auf andere Wissenschaftverlage, unter deren exorbitanten Preisen die Bibliotheken und Universitäten leiden, so Dobusch.
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Gesellschaft

Was sind das für Extremismusforscher, die Extremismus nur rechts untersuchen, fragt mit Blick auf die Leipziger Autoritarismus-Studie verdutzt der Schweizer Extremismusforscher Eckhard Jesse in der NZZ, und das mit Fragen, die die Mitte der Gesellschaft in die rechte Ecke stellt: "Wie die AfD die Zahl der Migranten voller Entrüstung gern nach oben rückt, gilt dies für die Forschergruppe mit Blick auf die Zahl der 'Ausländerfeinde', damit man sich besser empören kann. Wer der Hälfte der als rechtsextremistisch geltenden 18 Aussagen 'voll und ganz' zustimmt und die andere Hälfte 'überwiegend' ablehnt, firmiert bereits als Person mit einem geschlossen rechtsextremen Weltbild. 2002 lag der Anteil bei 9,7 Prozent (West: 8,1, Ost: 11,3); 2018 sind es noch 6 Prozent (West: 5,4, Ost: 8,5) - trotz Flüchtlingskrise."
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