9punkt - Die Debattenrundschau

Genügend weise Menschen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.01.2019. Nein, sie wird nicht hamstern gehen, schreibt Guardian-Kolumnistin Polly Toynbee nach der gestrigen Rede von Theresa May, denn die Kräfte der Vernunft, hofft sie, werden am Ende siegen. Heute stellen Angela Merkel und Emmanuel Macron den Aachener Vertrag vor. Rechtsextremisten polemisieren dagegen und zeigen, wie es im Europawahlkampf zugehen wird, fürchtet Pierre Haski in France Inter. Die DSGVO fordert ein erstes Opfer: Google soll 50 Millionen Euro bezahlen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.01.2019 finden Sie hier

Europa

Aus Angst vor No Deal gehen manche Briten schon hamstern. Aber sie mache da nicht mit, schreibt Guardian-Kolumnistin Polly Toynbee nach der gestrigen Rede von Theresa May: "No Deal heißt Chaos. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Kräfte guter Regierungsführung dies verhindern werden. Nicht wegen der wenig überzeugenden Behauptungen aus Downing Street, dass man Maßnahmen einleiten werde, sondern weil genügend weise Menschen sich einem 'no deal'-Austritt weigern werden. Fangen wir mit den Abgeordneten an: Eine große Mehrheit weiß, dass dies nicht passieren darf. Sie wird sicher den Antrag der Abgeordneten Yvette Cooper unterstützen, die Auslösung von Artikel 50 zu verzögern, wenn das Parlament bis Ende Februar keine Einigung erzielt hat. Und sie werden Dominic Grieves Antrag auf freie Abstimmungen unterstützen."

Heute stellen Angela Merkel und Emmanuel Macron den Aachener Vertrag vor, der den Elysée-Vertrag zur deutsch-französischen Zusammenarbeit ergänzen soll. In Frankreich machen Rechtsextreme Stimmung gegen den Vertrag und behaupten, Deutschland wolle etwa den französischen Sitz im UN-Sicherheitsrat zur Hälfte übernehmen. Was für ein Unsinn, meint Matthew Karnitschnig in politico.eu: "Die Vereinbarung sucht zwar nach mehr Kooperation, Interaktion und Austausch an der Grenze, aber es ist lächerlich zu behaupten, sie sei eine Hintertür zur Wiederherstellung des Deutschen Reiches. Die Erklärungen in dem Vertrag sind so weit gefasst, dass sie im Grunde bedeutungslos sind."

Die Kampagne Marine Le Pens und ihres Kollegen Nicolas Dupont-Aignant gegen den Aachener Vertrag basiert auf "alternativen Fakten", schreibt Pierre Haski bei France Inter, und zeigt, wie hart der Europawahlkampf wird: "Sie haben beschlossen aus dem Vertragstext eine Akte in einem Prozess gegen Macrons 'Verrat an die Globalisierung' zu machen. Was zählt es schon, ob es falsch ist zu behaupten, Elsass und Lothringen würden an Deutschland verkauft... Wichtig ist es, die Hauptbotschaft zu verbreiten: dass die Kooperation mit Deutschland, die seit mehr als einem halben Jahr zum Kern der französische Politik gehört, ein Akt des Verrats wäre. Es ist paradox, denn die öffentliche Meinung steht dem weitgehend positiv gegenüber, aber es geht darum zu spalten."
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Urheberrecht

Kurz vor Torschluss und nachdem sich Kultur- und Zeitungsindustrien schon auf der Siegerseite wähnten, drohen die Verhandlungen zur EU-Urheberrechtsreform zu scheitern. Elf Staaten sprachen sich gegen die in den Trilog-Verhandlungen erörterten Regelungen zum Europäischen Leistungsschutzrecht und zu Uploadfiltern aus. Die EU-Abgeordnete Julia Reda schreibt in ihrem Blog: "Diese überraschende Wendung im Drama um die Urheberrechtsreform bedeutet noch nicht das Ende von Leistungsschutzrecht und Uploadfiltern. Es ist aber ein ganzes Stück unwahrscheinlicher geworden, dass die Verhandlungen über die Urheberrechtsrichtlinie noch vor den Europawahlen im Mai zu einem Abschluss kommen. Die rumänische Ratspräsidentschaft kann jetzt erneut versuchen, die nationalen Regierungen auf eine gemeinsame Position einzuschwören, die von einer qualifizierten Mehrheit mitgetragen ist. Aber da die Kritik inzwischen aus entgegengesetzten Lagern laut wird, ist das keine leichte Aufgabe." Mehr dazu hier in Netzpolitik und hier aus der Perspektive der FAZ.
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Ideen

Was Alan Turing und Martin Heidegger wohl zu sagen hätten, würden sie sich heute, im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, über das Denken unterhalten? Der Kulturwissenschaftler Jan Söffner hält es in der NZZ jedenfalls mit Heidegger, wonach Denken immer ein Denken in der Welt ist, während Turing ein Denken über die Welt genügte. Das ist Söffner etwas unangenehm, denn Heidegger stand mit seinem Denken ja auf Seiten der Nazis: Man muss "auf den Ton achten, denn über ihn erkennt man am besten, auf welche Weise Gedanken an der Welt teilhaben. Im Ton aber schneidet Turing, der voller Leben, Rücksicht, Klarheit und Komik den Nerv seiner und auch noch unserer Zeit trifft, unendlich viel besser ab als Heidegger, der sich seinerseits notorisch im Ton vergreift. ... Der Ton des Denkens vergibt keine Falschheit, und vielleicht ist das ... auch eine Warnung für die heutige Auseinandersetzung mit der künstlichen Intelligenz."

In der Welt hat Olaf Gersemann langsam die Nase voll von der allzu wohlfeilen Globalisierungskritik (er guckt dabei auf die taz und Norbert Niemann im Freitext-Blog der Zeit): "Zu Beginn der achtziger Jahre, als die zweite Welle der Globalisierung Fahrt aufnahm, lebte mehr als 40 Prozent der Menschheit in extremer Armut. Heute sind es weniger als zehn Prozent. Das sind immer noch zu viel. So wie es nicht reicht, dass die Zahl der Kinder, die jedes Jahr sterben, bevor sie fünf Jahre alt geworden sind, bei gleichzeitig stark wachsender Weltbevölkerung von 20 Millionen auf zuletzt 5,6 Millionen gefallen ist. Aber dass es diese Trends gibt, ist so erfreulich wie es unbestreitbar ist, dass es sie ohne Globalisierung kaum hätte geben können. Der Gedanke, dass die Desintegration des entstehenden Weltbinnenmarkts diese Entwicklung beschleunigen statt ausbremsen könnte, ist reichlich verwegen. Oder sind die Länder mit dem weltweit geringsten Exportanteil an der Wirtschaftsleistung, nämlich Äthiopien, Afghanistan und der Jemen, leuchtende Vorbilder?"

In der Zeit schlachtet Josef Joffe eine andere heilige Kuh der Kapitalismuskritik: die Behauptung, durch die neuen Ökonomien wachse unaufhaltsam ein unterbezahltes Prekariat. Es wächst aber nicht, jedenfalls nicht zur Zeit und nicht in den USA, es schrumpft: "Seit 2017/18 herrscht Überbeschäftigung in den USA - das Machtverhältnis hat sich zugunsten der Arbeitnehmer gedreht. Sie können nicht nur höhere Löhne herausschlagen, sondern auch sichere Arbeitsplätze. Wenn Hände und Köpfe fehlen, muss der Kapitalismus zahlen und attraktive Arbeitsbedingungen hergeben. Die Hochkonjunktur macht's möglich, weshalb das Rätsel der Arbeitsmarkt-Normalisierung keines ist. Je höher das Wachstum, desto stärker die Position der Erwerbstätigen."
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Wissenschaft

Die FAZ druckt die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung ab. Pädagogen und Wissenschaftler plädieren hier für das Lesen von langen Texten, auf Papier oder in neuen, geeigneten digitalen Formen: "Man sollte bei Lehrern und anderen Erziehern ein Bewusstsein dafür schaffen, dass der rasche und wahllose Ersatz von Druckwerken, Papier und Stift durch digitale Technologien im Primarbereich nicht folgenlos bleibt. Falls dieser Übergang nicht von sorgsam entwickelten digitalen Lerntools und Lerntechnologien begleitet ist, kann er zu einer Verzögerung in der Entwicklung des kindlichen Leseverständnisses und der Entwicklung kritischen Denkens führen."
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Internet

Die DSGVO findet erstmals ein prominentes Opfer: Die französische Datenschutzbehörde CNIL verurteilt Google zu einer Strafe von 50 Millionen Euro, berichtet unter anderem Nicholas Vinocur in politico.eu: "In einer Erklärung, hat die CNIL angegeben, dass sie Google wegen 'mangelnder Transparenz, unzureichender Informationen und mangelnder klarer Zustimmung zur Personalisierung der Anzeigen' sanktioniert. Google suche nicht nach einer 'eindeutigen' Einwilligung für alle Arten der Datenverarbeitung, sondern lasse standardmäßig bestimmte Optionen angeklickt - unter Verletzung des DSGVO-Prinzips, nach dem Nutzer jede spezifische Nutzung ihrer Daten genehmigen müssen."
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Stichwörter: DSGVO, Google, Datenverarbeitung

Gesellschaft

Im Netz kursiert gerade der Hashtag #10YearChallenge, unter dem Nutzer Fotos von sich vor zehn Jahren und aus der Gegenwart posten. Diese Aktion wird von Frauen in der Türkei genutzt, die sich dazu bekennen, das Kopftuch abgelegt zu haben, berichtet Burcin Tetik in der taz: "Eine Nutzerin schrieb: 'Keine von uns muss die Identität, die unsere Familien und die Gesellschaft für uns wählen, annehmen. Wir weigern uns, ein Leben zu leben, das wir uns nicht ausgesucht haben.' Unter dem Tweet sind zwei Bilder von ihr zu sehen. Auf dem linken trägt sie ein Kopftuch und einen langen Mantel, auf dem rechten ist sie mit lockigen Haaren und einem Lippenpiercing abgebildet. Hunderte ähnliche Fotos tauchen dieser Tage in den türkischen sozialen Medien auf."

Nun kommt #MeToo vielleicht doch noch in der Musikindustrie an. Schon seit zwanzig Jahren kursieren sehr gravierende Missbrauchsvorwürfe gegen den Soulsänger R. Kelly. Erst die Dokumentarserie "Surviving R. Kelly" hat das Thema eine breiteren Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerückt, schreibt Carolina Schwarz in der taz: "Seit die Doku ausgestrahlt wurde, tut sich etwas. Als Produzentin Dream Hampton auf der Suche nach Prominenten war, die bei der Doku mitwirken möchten, war John Legend einer der wenigen, die zusagten. Laut Hampton waren Künstler*innen wie Jay-Z oder Erykah Badu nicht bereit, vor der Kamera zu sprechen. Doch jetzt distanzieren sich immer mehr Musiker*innen von dem R'n'B-Weltstar. So entschuldigte sich vergangene Woche Lady Gaga für die Zusammenarbeit mit R. Kelly und will den gemeinsamen Song 'Do What U Want' von allen Streamingdiensten entfernen lassen. Große Radiosender verkünden, dass sie seine Musik nicht mehr spielen wollen."
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