9punkt - Die Debattenrundschau

Europa wollen oder untergehen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2019. In Liberation fordern dreißig Intellektuelle, Europa gegen seine Feinde zu verteidigen, auch wenn es träge und kraftlos geworden sei. In der Welt diagnostiziert Wladimir Sorokin eine paranoide Angst der Macht. Die CJR fordert die Regulierung der Plattformen. Die SZ misstraut den neuen Dokudramen, in denen Prominenten der Prozess gemacht wird. Und der Tagesspiegel erhebt Einwände gegen den 8. März als neuen Berliner Feiertag.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.01.2019 finden Sie hier

Europa

Dreißig Intellektuelle veröffentlichen in Libération einen Aufruf Europa gegen seine Feinde zu verteidigen, von Agnes Heller und Elfriede Jelinek, über Bernard-Henri Lévy und Claudio Magris bis Adam Michnik und Herta Müller. Von innen wie von außen bedrohten falsche Propheten, Populisten und Demagogen die europäische Idee, das intellektuelle Erbe von Erasmus, Dante, Goethe und Comenius, schreiben sie: "Unsere Generation hat einen Fehler begangen. Wie die Garibaldiner, die im 19. Jahrhundert unablässig wie ein Mantra wiederholten 'Italien wird sich von selbst befreien', glaubten wir, dass die Einheit des Kontinent sich von selbst ergeben wird, ohne Willen und Anstrengung. Wir lebten in der Illusion eines notwendigen Europas, das in der Natur der Dinge liege und sich ohne uns und unser Zutun gestaltet, einfach weil es im Sinne der Geschichte sei. Mit dieser Schicksalsgläubigkeit muss Schluss sein. Wir müssen Schluss machen mit dem trägen Europa ohne Kraft und ohne Gedanken. Wir haben nicht länger die Wahl. Wenn die Populismen knurren, müssen wir Europa wollen oder untergehen. Wir müssen, während überall souveränistische Abschottung droht, den politischen Willen erneuern oder dem sich breitmachenden Ressentiment die Arena überlassen, dem Hass und seinem Gefolge trüber Leidenschaften."

In Libération erklärt zudem Bernard-Henri Lévy, der dem Aufruf erkennbar die Diktion verliehen hat: "Ich hielt es für notwendig, dieses Manifest zu schreiben, weil die nächsten europäischen Wahlen im Mai, historisch werden. Das politische Projekt Europa kann endgültig in die Brüche gehen."

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Medien

Buzzfeed hat in dieser Woche zweihundert Mitarbeiter entlassen, Verizon Media bei der HuffPost und bei Yahoo News achthundert. Außerdem gibt es Gerüchte, dass Buzzfeed mit dem Video-Dienst Group Nine fusionieren können. In der Columbia Journalism Review sieht Alex Pareene schwarz: "Für eine Branche, die an Entlassungen gewöhnt ist, sollte dies inzwischen normal erscheinen. Doch in dieser Woche fühlt es sich apokalyptischer als üblich an. Denn diese 'Korrekturen' betreffen die digitalen Medien, die bisher als die Überlebenden galten." Pareene fordert daher, die Plattformen zu regulieren: "Über Jahre subventionierte die amerikanische Post die Lieferung von Zeitschriften und Magazinen über vergünstigte Preise. Hätte sie operiert wie heute die Plattformen oder ISP, dann hätten die Leser beim Postamt zahlen müssen, um Esquire geliefert zu bekommen, und das Magazin hätte keinen Pfennig gesehen."

In der SZ ist Jürgen Schmieder nicht nur begeistert von neuen Docudramas wie "Surviving Kelly" oder in "Leaving Neverland", in denen Prominenten ungeheuer emotionalisiert der Prozess gemacht wird: "Es ist wichtig, dass es diese Dokumentarfilme und -serien gibt, als Plattformen für Opfer, als Anstoß für Debatten, als Auslöser für Ermittlungen. Diese Werke allerdings erheben jedoch bisweilen nicht nur die Anklage, es findet vielmehr eine Art öffentliche Verhandlung statt, eine verfilmte Paralleljustiz mit oftmals sehr deutlich ausgesprochenen Urteilen - und sie verführen den Zuschauer aufgrund der Dramaturgie dazu, dieses Urteil zu übernehmen, nicht selten verbunden mit dem Hinweis, dass sich Promis ohnehin durchs Justizsystem schlängeln würden, ohne jemals ernsthaft zur Verantwortung gezogen zu werden."
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Politik

Im Welt-Interview mit Richard Kämmerlings spricht der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin über die Stagnation unter Wladimir Putin und die gelähmte Opposition: "Die Herrschenden tun alles, um ihre Gegner zu erschrecken. Es gibt fast eine Art Paranoia der Mächtigen, eine hysterische Angst vor jeglicher Opposition. Umgekehrt nimmt die Ermüdung der Bevölkerung stetig zu. Das hat vor allem ökonomische Gründe. Es ist wie ein chemischer Prozess: Wenn sich ein Gemenge immer weiter verdichtet, dann kann daraus ein Kristall des Protests entstehen." Und: "Die Situation ist im Moment so wie Anfang der Achtziger nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Das Verhältnis zum Westen ist extrem schlecht; Putin und seine Leute sind in einer Lage, die man im Schach 'Zugzwang' nennt: Ihre Position ist schlecht, und jeder Zug würde sie noch schlechter machen."

Im Tagesspiegel ist Fatina Keilani gar nicht beglückt von der Entscheidung des Berliner Senats, den Frauentag am 8. März zum Feiertag zu erklären: "Man könnte auch sagen, ein identitätspolitisches Thema tritt gegen ein inklusives wie den 18. März an, und gewinnt. Der 18. März als zentrales Datum deutscher Demokratiegeschichte steht für die Werte, auf denen unser Gemeinwesen beruht: Einigkeit, Recht, Freiheit."
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Ideen

Die NZZ beschäftigt sich in ihrer Wochenendbeilage Literatur und Kunst mit der Schweiz als Heimat und Identität. Der Politikwissenschaftler Georg Kohler begreift das Land als Willensnation und verortet es zwischen dem "Alpenparadies" und Ben Vautiers "La Suisse n'existe pas": "Umgang mit Ambivalenz ist entscheidend für individuelle wie für kollektive Selbsterhaltung. Und auch Gemeinschaften können nicht überleben ohne positive Identitätsentwürfe. Aber sie scheitern, wenn es nicht gelingt, Selbstbild und Umwelt einander anzupassen. Eben diesen Sachverhalt meint Vautiers Spruch. 'La Suisse n'existe pas' macht klar, dass der uns noch immer berührende Mythos vom 'glücklichsten Volk auf Erden' nur dann nicht zum Opiat wird, wenn er daran erinnert, dass Leben auf der Höhe der eigenen Zeit - im 'Alpenparadies' - in erster Linie Auseinandersetzung mit der immer wieder sich erneuernden Wirklichkeit ist. Das Gesetz der Evolution heißt Anpassung."

Der Unternehmer und Bundesrat Kaspar Villinger plädiert für ein entspanntes Heimatgefühl.
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Stichwörter: Schweiz, Kohler, Georg, Evolution

Internet

Der Unternehmensberater Reinhard Sprenger kann in der NZZ die Furcht vor Automatisierung und maschineller Intelligenz nicht verstehen. Am Ende werde sie mehr Stellen schaffen als abbauen: "Kein Zweifel: Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert werden. Es werden Arbeitsplätze vernichtet. Wird das schnell gehen? Nein... Die gute Nachricht ist, dass es um viele der verschwindenden Jobs nicht sonderlich schade sein wird. Die Massenfertigung hatte ja dazu geführt, dass die Arbeitsplätze immer maschinenähnlicher wurden. Nun werden diese Jobs auch von Maschinen erledigt. Eintönigkeit verschleißt dann nur noch Maschinenteile, keine Menschen."
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