9punkt - Die Debattenrundschau

Wir aßen viel Wintergemüse

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.02.2019. In der NZZ sieht Alain Finkielkraut die Gelben Westen als Ausdruck einer Krise der Repräsentation. Viele Zeitungen erinnern an die iranische Revolution vor vierzig Jahren - in der taz schreibt Bahman Nirumand. Politico.eu porträtiert den Politiker Robert Biedron, der zur Hoffnung der Linken in Polen wird. Die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin findet es in der FAZ ziemlich widersinnig, kulturelle Güter ausgerechnet an afrikanische Staaten zurückzugeben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.02.2019 finden Sie hier

Ideen

Claudia Mäder führt für die NZZ ein lesenswertes Gespräch mit Alain Finkielkraut über die Gelben Westen, die er als einen Ausdruck einer "Krise der Repräsentation" sieht. Politik und Gesellschaft haben sich voneinander abgelöst: Die Gelben Westen stellen soziale Forderungen, so Finkielkraut, die Politik aber befasst sich mit gesellschaftlichen Reformen, die nichts damit zu tun haben: "Man möchte zum Beispiel die Fortpflanzungsmedizin oder die Leihmutterschaft vorantreiben, das gilt als fortschrittlich - aber mit den medizinischen Problemen der einfachen Mittelschichtsleute hat das nichts zu tun. Folglich werden sie als 'Reaktionäre' gesehen und vernachlässigt; gerade auch die Linke hat sich von ihnen abgewendet und sich lieber um Junge, Urbane oder Frauen gekümmert. Sowohl in der politischen als auch in der intellektuellen Welt hat sich so eine Opposition zwischen Progressisten und 'Reaktionären' gebildet, und für die zahlen wir jetzt einen sehr hohen Preis."
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Europa

Brexiter Charles Moore ist ein bekannter konservativer Journalist in Britannien. Sein Mutmach-Artikel im Spectator ist so komisch, dass er von Remainern wie Nick Cohen retweetet wurde: "Was tun, wenn Obst und Gemüse knapp werden, wie mehrere Supermärkte diese Woche für den Fall eines harten Brexit am 29. März gewarnt haben? Nun, ich bin alt genug mich an Zeiten zu erinnern, in denen Obst und Gemüse zu dieser Jahreszeit stets schwer zu bekommen waren. Die Leute wussten, wie man Dinge lagert, um das Problem zu umgehen. Äpfel wurden vorsichtig in mit Stroh ausgelegten Regalen gelagert. Wir aßen viel Wintergemüse und nicht so viel Grünes. Sah man je Erdbeeren außerhalb der Saison, so kamen sie aus irgendwelchen Gründen aus Israel. Vielleicht ist es Zeit für ein Brexit-Rezeptbuch."

Martin Miszerak and Dalibor Rohac porträtieren für politico.eu den linken polnischen Politiker Robert Biedron, der einerseits eine deutlichere Trennung von Staat und Kirche in Polen fordert, andererseits aber - trotz der Rechtspopulisten - die klassische liberale Opposition in Polen nicht schont: "Die von ihm vorgeschlagene Politik hebt sich vom Üblichen in Polen - einem Land, in dem die politische Linke immer noch bis zu einem gewissen Grad mit schmerzhaften Erinnernungen an den Kommunismus assoziiert wird - scharf ab.  Vielleicht zum ersten Mal seit 1989 gewinnen linke Ideen ein Publikum. Biedron füllt vor allem eine Lücke für junge und urbane Wähler."
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Medien

Amerikanische Online- und Printmedien entlassen zur Zeit Hunderte von Journalisten, und das in Zeiten, wo das Interesse an News größer ist denn je. Farhad Manjoo sieht die Entlassungen in der New York Times als Katastrophe. Schuld sind mal wieder die sozialen Netze: "Wir befinden uns inmitten eines anhaltenden globalen Informationskriegs. Wir vertrauen unser Leben Technologien an, die Misstrauen und Fälschung säen und wenig Raum für Nuancen und Komplexität lassen, die uns aufteilen in ignorante und meckernde Stämme. Diese Ära sollte für Journalisten und Journalismus wie gerufen kommen - eine Profession, die gewiss oft irrt und doch der beste Weg ist, den wir kennen, um gegen die Sintflut von Gerüchten und Verlogenheit anzukämpfen."

Weitere Artikel: Die Welt hat die sechs Artikel, die Claas Relotius in der Zeitung veröffentlichte, überprüft und kommt zu dem Ergebnis: Bei zwei Texten gibt es Zweifel am Wahrheitsgehalt.
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Kulturpolitik

Vielleicht klären die "Entkolonisierungsaktivisten" vor ihren "Reinigungsaktionen" erstmal, wohin in Afrika sie die Kulturgüter eigentlich geben wollen, schreibt die Göttinger Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die das Projekt "Umstrittene Sammlungen" im Rahmen der DFG-Forschergruppe Cultural Property leitete, in der FAZ. Fast alle afrikanischen Staaten sind Vielvölkerstaaten, in denen traditionelle Hierarchien noch über der - durch europäische Kolonisierung entstandenen - Organisation als Nationalstaaten stehen, meint sie: "Artefakte aus Afrika, die während der Kolonialzeit (und auch danach) erworben wurden, sind typischerweise kulturelle Güter, die für die unterschiedlichen ethnischen Gruppen charakteristisch beziehungsweise Ausdruck ihrer kulturellen Vorstellungen und Praxen waren. In vielen Fällen verstehen die Nachfolger der ehemaligen Besitzer oder Hersteller eines Artefakts, das sich heute in einem europäischen Museum befindet, den Gegenstand als ein Dokument ihrer eigenen tribalen Vergangenheit und nicht der Geschichte des Staates, dem sie seit der Unabhängigkeit untergeordnet sind. Eine Rückgabe an ein staatliches Museum in der Hauptstadt lehnen sie deshalb ab."
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Gesellschaft

Über den Kompromiss zum Paragrafen 219a wird weiterhin diskutiert. Dass Ärzte und Ärztinnen nur darüber informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen und zur näheren Information dann auf "neutrale Stellen" verweisen müssen, findet Maria Wersig vom Juristinnenbund im Gespräch mit Dinah Riese von der taz "in mehrerer Hinsicht ein Problem. Zum einen ist es ein Widerspruch in sich: Ein und dieselbe Information ist auf der Webseite einer neutralen Stelle legal, auf der Webseite einer Ärztin aber eine Straftat. Dass die Information über eine legal durchgeführte Dienstleistung im Strafrecht reguliert wird, ist einmalig. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Wenn es rechtlich möglich ist, Abbrüche durchzuführen, dürfen Ärztinnen und Ärzte darüber auch informieren." Für Empörung sorgt laut einem zweiten Bericht in der taz, dass Gesundheitsminister Jens Spahn eine Studie zum so genannten "Post-Abortion-Syndrom" durchführen lassen will, das offenbar eine Erfindung der Pro-Life-Bewegung ist.

Auch in Amerika ist Abtreibung ein ständiges Streitthema. Die Aktivistin Nancy Northrup erzählt in der New York Times, dass Frauen im Bundesstaat Louisiana wegen eines durchsichtig formalistischen Gesetzes wohl bald gar nicht mehr abtreiben können - es sei denn der Supreme Court entscheidet gegen dieses Gesetz.

Das Misstrauen der breiten Bevölkerung gegenüber Politik und Wirtschaft hat einen Höchstwert erreicht, sagt im Welt-Gespräch mit Christian Meier der Unternehmer Richard Edelmann, dessen Kommunikationsagentur jährlich eine Vertrauensstudie durchführt. Zugleich habe die "Gruppe der sogenannten Abgekoppelten" abgenommen: "Gemeint sind damit die Menschen, die weniger als einmal in der Woche Nachrichten lesen, schauen oder hören. Im Vergleich zur vorigen Erhebung gestiegen ist nicht nur der Anteil der Menschen, die mehrmals wöchentlich Nachrichten konsumieren, sondern auch der Anteil der 'Verstärker', also solchen Leuten, die Nachrichten in sozialen Netzwerken oder Foren posten und teilen. 'Die Beschäftigung mit Nachrichten steigt wieder, weil die Leute dringend nach Informationen suchen, die ihnen helfen, Entscheidungen zu treffen', erklärt Edelman dieses Ergebnis der Umfrage."
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Politik

Vor vierzig Jahren reiste Ayatollah Chomeini in den Iran zurück und löste die fatale Revolution aus. Seitdem geht es dem Volk schlecht und den Mullahs gut, schreibt Andreas Fanizadeh in der taz: "Der heutige Iran besteht aus Parallelwelten, wo im Geheimen, im Privaten so ziemlich alles betrieben wird, was im Sinne der Theokratie auf keinen Fall betrieben werden dürfte: Sex, Drogen, Internet. Dazu ist die Ökonomie des an und für sich reichen Landes dauerhaft im Keller. Während die Konten von Mullahs und Pasdaran-Generälen prall gefüllt sind, geht es der breiten Öffentlichkeit schlecht."

In einem längeren Essay für die taz erinnert sich Bahman Nirumand: "Meine Freude über die Erfolge des Volksaufstands war so groß, dass ich, wie viele andere meiner Landsleute, die Schattenseiten der Revolution und die überraschende Dominanz der islamischen Gruppen übersah oder unbewusst verdrängte." In der FAZ erzählt der Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan die Geschichte der Revolution hinter der medialen Propaganda der iranischen Regierung.

Der Islam ist ein Glaubensbekenntnis und keine "genetische Eigenschaft", sagt im Welt-Interview mit Till Schmidt der aus dem Iran stammende Psychoanalytiker und Schriftsteller Sama Maani. Viele Linke und Liberale übernehmen diese Identitätsvorgaben der Rassisten und meiden aus falscher Toleranz Themen wie das Tragen von Kopftüchern in Kindergärten und Schulen, meint er: "Es wäre aufschlussreich, das Thema Kopftuch statt unter der falschen Kategorie Rassismus in der Kategorie Religionsfreiheit zu diskutieren. Dann würde es sich zeigen, dass hier nicht die Lehrmeinung muslimischer Theologen ausschlaggebend sein kann - wie liberal deren Positionen auch sein mögen. Sondern dass dort, wo religiöse Vorschriften in Widerspruch zu Rechtsprinzipien einer säkularen Gesellschaft geraten, der Gesetzgeber eine Grenze ziehen muss: 'Bis hierher und nicht weiter'. In der Frage des Kinderkopftuchs wäre dies etwa das Prinzip der seelischen Integrität von Kindern. Stichwort: Sexualisierung von Minderjährigen."
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