9punkt - Die Debattenrundschau

Wie groß diese Veränderung ist

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.02.2019. "Die Tories träumen davon, den Sozialstaat loszuwerden", glaubt der Schriftsteller John Lanchester in der Welt. Darum der Brexit, der Britannien in eine Art Singapur verwandeln soll. Der Scotsman fragt: Ist der Brexit das Dünkirchen der Brexiters? Die gefeierten jungen Politikerinnen der Demokratischen Partei in den USA sind fast alles Israelkritikerinnen, konstatiert Vice.com. "Rohdaten" gibt es nicht. Das Wort wurde erfunden, um Datenkolonialismus zu rechtfertigen, meint der britische Medienwissenschaftler Nick Couldry in Zeit online.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.02.2019 finden Sie hier

Europa

Lesley Riddoch, Kolumnistin des Scotsman, nimmt die in der Brexit-Presse nun überall kursierenden Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg und dem siegreichen Britannien aufs Korn, auch die Anspielung auf die Evakuation von Dünkirchen: "Sicher wurden 300.000 Soldaten in Dünkirchen vor den Deutschen gerettet, aber 40.000 blieben auf dem Strand zurück, Hunderte starben, und 10.000 Soldaten der 51st Highland Division gerieten in Kriegsgefangenschaft. Im Grunde ist 'Dünkirchen' ein positiver Spin für ein militärisches Debakel. Liegt hier die eigentliche Brexit-Parallele zur Kriegszeit? Steht Britannien vor einer umfassenden und demütigenden Niederlage, die von Politikern zu einem unglaublichen nationalen Sieg umgedeutet wird? So unwahrscheinlich es klingt - das ist sehr gut möglich."

"Die Tories träumen davon, den Sozialstaat loszuwerden", glaubt der Schriftsteller John Lanchester im Interview mit der Welt. Darum der Brexit, der Britannien in eine Art Singapur verwandeln soll, mit niedrigen Steuern, geringen Staatsausgaben und wenig Regulierung. "In Singapur ist es eine Schande, auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. Aber Singapur ist auch ein ethnisch homogener Stadtstaat mit wenigen Millionen Einwohnern. Die Chance, dass Großbritannien eine Variante davon werden könnte, liegt bei null. Was wir hingegen kriegen könnten, ist den heiligen deregulierten Finanzmarktkapitalismus - ein bisschen wie jetzt, nur noch mehr davon. Wer in London für den Brexit ist, ist das, weil er gegen die Regulierung des Finanzmarkts ist. Zynisch gesagt sind diese Leute für den Brexit, weil sie den Regulierungsprozess in London schon gekapert haben, den in Brüssel aber nicht."

In Brandenburg soll ein Paritätsgesetz für fünfzig Prozent Frauenanteil im Parlament sorgen. Soll so etwas auch im Bundestag kommen? Es würde wohl als ungerechte Bevorzugung vor Bundesverfassungsgericht scheitern, meint Markus Decker in der FR: "So hat der Rechtswissenschaftler Martin Morlok eben erst darauf hingewiesen, dass Frauen im Bundestag keineswegs unterrepräsentiert, sondern im Verhältnis zu ihrem Anteil in den Parteien vielmehr in zu großer Zahl vertreten seien - so jedenfalls bei SPD, Grünen und Linken... Will sagen: Wenn sich mehr Männer parteipolitisch engagieren, dann liegt es schon auch nahe, dass sie mehr Ämter und Mandate abbekommen; momentan ist es zumindest in den Parteien links der Mitte umgekehrt. Es konkurrieren also Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit miteinander."
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Überwachung

Die taz greift die Diskussion um den chinesischen Konzern Huawei auf, dem die Amerikaner und die Staaten der "Five Eyes" Zugang zu ihren Märkten versperren. Huawei gehört zu den wichtigsten Ausstattern für die 5G-Technologie, die neueste Mobilfunkvariante, die viele Prozesse - unter anderem autonomen Verkehr - steuern soll. Felix Lee kommentiert: "Dass es technisch möglich ist, über Netzwerke die Daten der Nutzer unbemerkt abzugreifen, haben bislang allein US-Geheimdienste bewiesen. Edward Snowden hat 2013 enthüllt, dass es die amerikanische NSA war, die sich genau dieses Mittels bedient hatte. Sie baute bei Systemen des US-Netzwerkausrüsters Cisco sogenannte Hintertürchen ein, um fremde Daten auszuspähen." Obwohl keine Belege für Hintertüren bei Huawei vorliegen, begrüßt Lee aber die Debatte: "Deutschland und Europa tun gut daran, weder auf die Technik der Amerikaner zu setzen noch auf die der Chinesen."

Erste deutsche Abnehmer müssen sich eventuell demnächst nach neuen Vertragspartnern umsehen, berichten Ralf Pauli und Tanja Tricarico.
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Internet

"Rohdaten" gibt es nicht. Das Wort wurde erfunden, um den neuen Datenkolonialismus zu rechtfertigen, meint im Interview mit Zeit online der britische Medienwissenschaftler Nick Couldry, der gerade mit seiner Kollegin Ulises Mejias ein Buch zum Thema veröffentlicht hat. Früher "legitimierten die Kolonisatoren die Ausbeutung ganzer Kontinente damit, dass dort vorkommende Rohstoffe zu ihrer freien Verfügung einfach so herumlägen. ... Mit Daten verhält es sich heute ähnlich: Es wird suggeriert, dass die Daten über unser Leben einfach so da seien und von Konzernen verwendet werden müssen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen. Das ist unserer Analyse nach der Beginn eines neuen Kolonialismus, bei dem unser gesamtes Leben in Daten umgewandelt wird und damit völlig neue Geschäftsfelder ermöglicht. Wir nennen das Datenkolonialismus, weil es das einzige Wort ist, das erfassen kann, wie groß diese Veränderung ist." Und in der SZ warnt Adrian Lobe vor den Tücken des "Überwachungskapitalismus".

Mark Zuckerberg hat zum 15. Geburtstag seiner Erfindung Facebook einen Post geschrieben, in dem er noch mal behauptet, er habe ein Instrument geschaffen, mit dem die Menschen sich aus traditionellen Hierarchien befreien und vernetzen können. Und er beklagt die Tendenz, "diesen Wandel zu beklagen, das Negative überzubetonen oder sogar so weit zugehen und zu sagen, dass die Selbstermächtigung, die das Internet und die Netzwerke ermöglichen, der Gesellschaft und Demokratie schade."

Dem antwortet im Guardian Siva Vaidhyanathan, Autor eines der zahllosen Facebook-kritischen Bücher: "Frag die Netzwerke von Menschen, die von Myanmar nach Bangladesch fliehen, weil 'traditionelle Hierarchien' - nämlich der buddhistische Klerus und die Militärjunta in Myanmar - eine Völkermordkampagne gegen sie lancierten, in der sie genau jene Dienste nutzten, von denen Du behauptest, sie hätten die Welt befreit."
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Politik

"Nun sind wir wieder mittendrin, in den Zeiten der Unvernunft", stöhnt in der SZ Georg Mascolo, nachdem Russland und die USA das INF-Abkommen - den Vertrag zur Begrenzung von Atomwaffen - aufgekündigt haben. "Im Auswärtigen Amt in Berlin zirkuliert bereits seit Monaten ein Dossier, das vor dem völligen Zusammenbruch der Rüstungskontrollarchitektur warnt. Es scheint, als sei die Erinnerung daran, was die Bombe ist und welcher Anstrengungen es bedarf in Zeiten ihrer Existenz, das Überleben zu sichern, nach einer langen Friedensperiode in Vergessenheit geraten zu sein. Wenn die Deutschen heute über Nachrüstung diskutieren, ist damit meistens der Diesel gemeint."

In der Demokratischen Partei in den USA gibt es immer mehr prominente Israelkritiker, gerade unter den gefeierten jungen Politikerinnen im Kongress, schreiben Mairav Zonszein and Alex Kane bei Vice.com. Rashida Tlaib und  Ilhan Omar sind die ersten Politikerinnen im Kongress, die sich zur Israelboykottbewegung BDS bekennen: "Tlaib und Omar sind Teil einer einflussreichen Grupppe demokratischer Neulinge, die sich nicht scheuen, Israel zu kritisieren und die amerikanische Beziehung zu Israel in Frage zu stellen. Die Jung-Abgeordnete Deb Haaland aus Neumexiko und Alexandria Ocasio-Cortez, die progressive Starpolitikerin, die Teile von Queens und der Bronx repräsentiert, haben sich zwar noch nicht zu BDS ausgeprochen, üben aber scharfe Kritik an Israel. Während demokratische Spitzenpolitiker wie der Franktionsvorsitzende  Steny Hoyer Israels Schüsse auf palästinensische Demonstanten (an der Grenze zu Israel)  verteidigten, nannte Haaland die israelische Reaktion 'Mord' und  Ocasio-Cortez sprach von einem 'Massaker'."
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Ideen

Seitdem Hans Ulrich Gumbrecht in der Garage des verstorbenen Richard Rorty eine vielfach unterstrichene und kommentierte Ausgabe von Gadamers "Wahrheit und Methode" in Händen hielt, fragt er sich, was Rorty mit Gadamer verband, erzählt er in der NZZ. Beide weisen "eine Konvergenz auf, die man konstruktivistisch nennen kann. Sie liegt in der Einsicht, dass sich Menschen ihre Welt immer erst konstruieren müssen, statt sie einfach vorauszusetzen zu können. ... Alles, was ist, könnte auch anders sein, das Geschlecht, das Alter, die Stimmung, das System, das Begehren, die Bedürfnisse. Deshalb sehnen wir uns im Alltag eher nach verbindlichen Orientierungen als ausgerechnet nach der Offenheit von Rortys ironischem Bewusstsein oder nach Gadamers unendlichem Gespräch. Wie eine freundliche Variante von Nihilismus wirken solche Motive angesichts der Sehnsucht nach Verbindlichkeit, angesichts einer Sehnsucht, die allerdings auch zur Matrix all der neuen politischen Fundamentalismen geworden ist. Ein philosophisch akzeptabler Rückweg zu nicht beliebigen Wirklichkeiten kommt im Konstruktivismus jedenfalls kaum in Sicht."
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