9punkt - Die Debattenrundschau

Monopolisierung der Kreativität

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.02.2019. Die EU-Politiker haben sich auf die Urheberrechtsreform geeinigt: Das Leistungsschutzrecht wird schlimmer als in der deutschen Version, fürchtet die Abgeordnete Julia Reda. In der Zeit erzählt eine Berliner Psychologin, dass das Problem der Zwangsheiraten eher noch zunimmt: "Das große Problem ist immer die Ehre." Die französischen Medien stehen erschrocken vor dem Abgrund, der sich mit den Enthüllungen über die "Ligue du LOL" aufgetan hat - und zwar in einigen der hippsten Medien wie Libération  oder den Inrockuptibles.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.02.2019 finden Sie hier

Internet

Sascha Lobo schreibt in seiner Spiegel-online-Kolumne eine Art offenen Brief an die EU-Politiker, die gerade dabei sind, dem Lobbydruck nachzugeben und Uploadfilter und Leistungsschutzrecht zu verabschieden (aktueller Stand): "Eure ganze Argumentation, man müsse zum Wohle der armen Urheber reformieren, hat sich als Bigotterie entlarvt, wenn ihr in Wahrheit nicht Interessen ausgleicht und abwägt, sondern weitestgehend Konzernlobbys folgt. Und denen geht es um die Monopolisierung der Kreativität." Hintergrund ist, dass die Beteiligung der Urheber an den künftigen Leistungsschutzeinnahmen offenbar gestrichen werden soll.

Was die EU-Abgeordnete Julia Reda über die gerade gefundenen "Kompromisse" der EU-Trilog-Verhandlungen zum Leistungsschutzrecht berichtet, klingt nicht gerade beruhigend: "Die Schlussversion dieses speziellen Rechts für New Sites ähnelt dem in Deutschland gescheiterten Gesetz, nur dass es diesmal nicht auf Suchmaschinen und Aggregatoren beschränkt ist und wesentlich mehr Websites beschädigen kann."

Und die Vorabfilterung "greift in die Privatsphäre ein und verstößt gegen das Recht auf Meinungsfreiheit, wie der EuGH 2012 urteilte", schreibt Simon Hurtz in einem SZ-Kommentar: "Bis die Richter die neue Richtlinie prüfen, wird es aber dauern. In der Zwischenzeit könnten die Grundlagen für eine gigantische Filter-Infrastruktur gelegt werden, die für Zensur missbraucht werden könnte." Die Einigung muss allerdings in den kommenden Wochen noch vom Parlament und den Staaten der Europäischen Union bestätigt werden.

Das Netz vergisst nie. Dabei wollen wir gar nicht an unsere Dummheiten von gestern erinnert werden, seufzt Adrian Lobe in der NZZ: "Kann eine Gesellschaft funktionieren, in der das Recht auf Vergessen gesetzlich festgeschrieben ist, Konzerne aber Geld verdienen, indem sie jeden Schritt, den wir online machen, speichern und mit Informationen über unsere Kontakte, Fragen, Interessen und privaten Vorlieben handeln? Ist die Angst vor dem Vergessenwerden womöglich eine Pathologie der digitalen Gesellschaft?" Fragen über Fragen.
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Gesellschaft

Zwangsverheiratungen sind eine gefährliche Sache, Elisabeth Raether unterhält sich für die Zeit mit der Psychologin Christine Schwarz, deren Name verändert wurde, weil sie die Kriseneinrichtung "Papatya" für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund betreibt, die vor Verheiratungen flüchten - und solche Einrichtungen werden oft angegriffen. Es handelt sich um eine Wohnung, deren Adresse unbekannt ist. Die Zahl der Fälle hat seit den achtziger Jahren zugenommen (auf 570 in Berlin im Jahr 2017), sagt sie: "Das große Problem ist immer die Ehre. Das ist ein sehr komplexer Begriff, über den ich hier Stunden reden könnte. Entscheidend ist: Die vermeintliche Sittsamkeit der Frauen und Töchter ist eine zentrale Statusquelle für die gesamte Familie. Wie die Familie von der Community gesehen wird, und zwar die komplette Familie, wird vom Verhalten der Töchter abhängig gemacht. Ganz simpel gesagt: Sind sie Schlampen oder nicht? So nimmt das Unglück seinen Lauf. Frauen und besonders junge Frauen sind ein Statusrisiko. Sie begehen einen Fehltritt, werden etwa allein mit einem fremden Jungen gesehen, und der Ruf ist beschädigt. Die Familien versuchen, solche Situationen gar nicht erst entstehen zu lassen, und bestrafen Verstöße gegen die traditionelle Geschlechterrolle massiv."

In der SZ schildert Joseph Hanimann die Wohnungskrise in Frankreich, die auch staatliche Subventionen nicht verhindern konnten: "Im Unterschied zu Deutschland wird der Sozialwohnbau in Frankreich hauptsächlich von öffentlichen Körperschaften getragen. Das System der öffentlich subventionierten HLM (Habitat à loyer modéré) geht aufs frühe 20. Jahrhundert zurück. Vor eineinhalb Jahren kürzte die Regierung für 6,5 Millionen Haushalte die Wohnungsbeihilfe um monatlich fünf Euro. Das war politisch desaströs und wirtschaftlich ein Unsinn. Um eine Mieterhöhung zu vermeiden, kompensierten die Sozialwohngenossenschaften die Finanzlücke durch ein verlangsamtes Neubauprogramm. Für das Vorhaben, die Wohnungsnot und die hohen Mieten durch einen Schock des Angebots zu bekämpfen, war das der Gnadenstoß."
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Europa

Auf einer ganzen Seite in der FAZ fordert Peter Gauweiler die Europäer auf, sich mehr der Welt zu öffnen (Globalisierung, Freihandel), statt Grenzen zu verstärken. Er unterstützt nachdrücklich die chinesische Initiative für eine Seidenstraße durch das Mittelmeer und die Entwicklung von smart Cities in Nordafrika. "Wir brauchen eine Art mittelmeerische-nahöstliche Efta", meint er, die sich bis tief nach Afrika auswirkt. Selbst mit Assad sollte man wieder reden. Denn: "Wenn wir das 'Draußen-vor-der-Tür-Problem' nicht politisch und ökonomisch kreativer angehen, wird der europäische - italienische, deutsche, bayerische - Grenzschutz selbst dann irgendwann wertlos, wenn er funktionierte. Weil es keine 'Staatstugend' gibt, die gegen die Tugend im Allgemeinen geht. Recht ist nicht alles. Wer als illegaler Wirtschaftsflüchtling irgendwo in Rimini gefakte Handtaschen und Plastikuhren verkauft und mit seinen Geldüberweisungen nach Hause eine Großfamilie am Leben hält, ist nicht nur moralisch auf der besseren Seite, sondern zeigt substantiell, dass er der Welt etwas zu bieten hat oder hätte."

Dass die Gelbwesten sich gern auf ihren Verkehrskreiseln treffen, ist für den französischen Philosophen Gaspard Koenig, der sich selbst für ein Europa der Regionen erwärmt, kein Wunder. Es geht zu Ende mit dem Jakobinismus in Frankreich, ruft er in der NZZ. Die Franzosen, wollen nicht mehr Geld, sondern weniger Zentralstaat. "Der Mythos der 'Steuergleichheit' bringt die schlimmsten Ungleichheiten hervor, indem er die Gemeinschaften daran hindert, ihr eigenes Modell zu wählen und die entsprechenden Konsequenzen zu tragen. Die Gemeindebudgets sind heute voll von mysteriösen Ausgleichs- und Dotierungsmechanismen; in Fällen von Misswirtschaft tritt automatisch der Präfekt auf und übt, wie ein guter Vater, seine staatliche Vormundschaft aus. Wie soll man unter diesen Bedingungen auf eine echte lokale Demokratie hoffen? Die politische Verantwortung erfordert steuerliche Autonomie. Die Franzosen wollen nicht weniger Steuern: Sie wollen selber über die Steuern befinden können. Viel ist nun die Rede von einer Revolte der vernachlässigten Gebiete. Nichts ist falscher. Die Gebiete sind nicht vernachlässigt, sondern überadministriert."
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Medien

Im französischen Techblog Numérama haben Marie Turcan und Perrine Signoret eine Menge eher schockierender neuer Details über die "Ligue du LOL" zusammengetragen, eine informeller Gruppe junger Pariser Journalisten, die mit Vorliebe auf Twitter Kolleginnen schikanierte (unser Resümee), unter anderem ihre Kollegin Capucine Piot, die sich ebenfall auf Twitter wehrt: "Capucine Piot erzählt auf Twitter, dass sie eine Beziehung mit einem Liga-Mitglied, Renaud Aledo alias ClaudeLoup, hatte. 'Er hat mich glauben lassen, dass er Aids hat, um mir Angst zu machen und damit ich dachte, ich könnte selbst Aids haben', beschuldigt ihn Piot. 'Ich habe vor Angst gezittert, habe die medizinischen Tests durchführen lassen. Während dessen ging das Online-Mobbing weiter."

Marion Solletty kommentiert bei politico.eu: "Auffallend ist, dass die meisten der mutmaßlichen Belästiger für Publikationen arbeiteten, die die #MeToo-Bewegung unterstützten und ihr eine umfassende Berichterstattung widmeten - während man über das Verhalten der eigenen Reporter hinwegsah, so scheint es." In der taz führt Johanna Luyssen das Phänomen auf eine spezifisch französische Jungsclub-Kultur im französischen Journalismus zurück, der von "weißen heterosexuellen Cis-Männern, die aus der Mittelklasse stammen", dominiert werde. Vincent Glad, der Gründer der "Ligue" ist von Libération zumindest vorläufig entlassen worden, ebenso zwei Journalisten bei den Inrocks, berichtet Audrey Kucinskas in L'Express. Ursprünglich war die Geschichte von Libération als Antwort auf einen Leserbrief lanciert worden.
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Stichwörter: #metoo, Metoo, Mittelklasse, Mobbing

Religion

Säkulare und strenggläubige Juden leben in Israel zwar deutlich getrennt, aber natürlich gibt es Religiöse, die säkular werden und Säkulare, die religiös werden. Das schafft seine eigenen Probleme, weil es in Israel kaum möglich ist, religiös, aber nicht orthodox zu sein, erzählt Judith Poppe in der NZZ: "'Im letzten Jahrzehnt haben sich die strikten Grenzen aufgeweicht', erläutert [der Professor für Israelstudien Tomer] Persico: 'Die Gruppen sind weniger scharf voneinander abgetrennt. Eine Person kann aufhören, säkular zu sein, ohne wirklich orthodox zu werden. Sie befindet sich im Zwischenraum und vertritt eine Form von persönlichem Judentum, in der sie selbst bestimmt, welchen Regeln sie folgt.' Persico führt das auf die größer werdende Individualisierung der Gesellschaft zurück". So einfach ist es dann aber doch nicht: Yael Avinoam zum Beispiel, die sich als Linke immer noch als Linke fühlt, "kocht" jedesmal vor Wut, wenn es um die Besetzung geht. Ihr Mann "trägt seit einigen Monaten nur noch selten die Kippa. Auch zu Schabbat-Dinners geht das Ehepaar nicht mehr oft. 'Ich weiß nicht genau, wo ich gerade stehe', sagt Avinoam und blickt über die Kaffeetasse hinweg: 'Aber es ist recht einsam hier.'"
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Kulturpolitik

Restitutionsforderung hier, Kulturgutschutzgesetz und Koordinationsprobleme zwischen den Bundesländern dort - Konzept: Fehlanzeige, schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit und fragt: "Welche Objekte gehören zwingend in afrikanische, genauer gesagt: in noch zu gründende afrikanische Museen? Und was könnte aus diesem Übertragungsprozess darüber hinaus folgen? Bloße Rückgabe ist ja kein Austausch. Austausch müsste die Geste mit weiter reichender Fantasie begleiten, mit außen- und kulturpolitischer. Danach sieht es nicht aus. Die letzten Einlassungen der zuständigen Kulturstaatsministerinnen Grütters und Müntefering zum Thema erwecken nicht den Eindruck, die beiden hätten dazu ein schlüssiges Konzept. Sie sind eher von der Furcht geprägt, in der aufgeregten Debatte als Bremserinnen dazustehen."
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