9punkt - Die Debattenrundschau

Die Unheilbarkeit der Spaltungen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2019. Die Demokratie stirbt nicht mit einem Knall, sondern durch langsame Erosion, konstatiert der Rechtsprofessor Christoph Schönberger in der FAZ - und zwar auch im Bundestag, wo CDU und SPD still und heimlich alte Regeln außer Kraft setzten, um sich besser zu finanzieren. Im Freitag  erklärt Horst Bredekamp, dass gerade die heute oft als Räuber geltenden Ethnologen ausgesprochene Gegner des Kolonialismus waren. Die SZ fragt sich nach einer Diskussion zwischen Paul Collier und Robert Habeck , ob das schwindende Rot mit dem urbanen Grün noch vereinbar sei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2019 finden Sie hier

Europa

Die Demokratie stirbt nicht mit einem Knall, sondern durch langsame Erosion, konstatiert der Rechtsprofessor Christoph Schönberger in der FAZ unter Bezug auf das Buch "Wie Demokratien sterben" von Steven Levitsky und  Daniel Ziblatt. Auch in Deutschland haben die beiden großen Parteien lange gepflegte demokratische Regeln außer Kraft gesetzt, um sich die Demokratie nach eigenem Gefallen umzumodeln. Ein Beispiel ist für Schönberger, dass man die Alterspräsidenten-Regel abgeschafft hat, um den neuen Bundestag nicht durch einen AfD-Politiker eröffnen zu lassen. Noch viel gravierender aber ist, wie CDU und SPD sich die Parteienfinanzierung erhöhten, um trotz ihrer Stimmenverluste bei Kasse zu bleiben - und das gleiche gilt für die exorbitanten Bezüge der Parteistiftungen: "Die entsprechenden Beschlüsse wurden gegen die Tradition der Bundesrepublik nicht mehr im parlamentarischen Konsens getroffen, sondern bei Widerstand der Oppositionsfraktionen. Die Regierungsparteien, die bei der Bundestagswahl im September 2017 gemeinsam etwa vierzehn Prozent der Stimmen verloren hatten, verhinderten damit, dass sich die empfindlichen Stimmeneinbußen auf ihre finanzielle Lage auswirkten. Sie immunisierten sich gegen die finanziellen Folgen des sinkenden Wählerzuspruchs." Und nebenbei mästen sie damit die AfD, die selbstverständlich die gleichen Ansprüche erheben kann.

Der Filmemacher Romain Goupil untersucht in Le Monde die trübe links-rechts Soße, in der sich  Teile der Gelbe-Westen-Bewegung und ihrer Verfechter so wohlfühlen. Linke Rechtfertigungen eines Bündnisses mit Rechtsextremen funktionieren laut Goupil so: "Für jene 'Linke', die sich als aufständig sieht, sind die Anhänger rassistischer und fremdenfeindlicher Organisationen nur zornige Menschen, also keine 'Fachos' (Faschisten), sondern 'Fâchés' (Beleidigte). Sie sind 'die Leute', die man nur überzeugen muss, sich dem richtigen Lager gegen die Mächtigen, die Experten, die Bobos, die Eliteschüler, die Journaille, die Intellektuellen, die Wohlhabenden, die Stadtbewohner und so weiter anzuschließen."
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Religion

Die Islamverbände sind durch und durch politisiert, schreibt der Grünen-Politiker Volker Beck - der dennoch an der Islamkonferenz festhält -  in der taz. Zum Besipiel die Ditib: "Die Imame haben einen Vertrag mit der Religionsbehörde, nicht mit deutschen Moscheevereinen. Die Dienstaufsicht über sie führen die Religionsattachés in den Konsulaten und der Botschaft der Türkei. Die Moscheegebäude, zumindest die werthaltigeren, gehören in der Regel der Auftragsverwaltung aus Ankara, der Ditib-Zentrale in Köln. Und spurt ein Ortsvorstand nicht hundertprozentig, lassen die Religionsattachés die Unbotmäßigen mit vorbereiteten Wahllisten einfach bei der nächsten Wahl ersetzen."
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Medien

Nachdem Elisabeth Wehling die Verfasserin des Framing-Papiers der ARD, ein Weilchen geschwiegen hat, äußert sie sich nun in Interviews, heute mit Laura Cwiertnia von Zeit online: "Bei dem Papier handelt es sich um ein internes Dokument, das aus dem Kontext gerissen wurde. Viele stören sich an dem Begriff Moral, der darin vorkommt. Ich verstehe, der kann negative Assoziationen wecken, da er ans Moralisieren erinnert, wenn man ihn als Forschungsbegriff nicht kennt. Aber das moral framing, auf das ich mich beziehe, ist ein anerkanntes wissenschaftliches Konzept."
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Gesellschaft

"Ich spreche über meine Herkunft nur noch zu meinen Bedingungen", beharrt Vanessa Vu unter dem Hashtag #vonhier bei Zeit online. Alle Fragenden müssen sich schon damit abfinden: "Ich kann beobachten, wie sich ihre Gesichtszüge verhärten, wie sie nach meiner höflichen Ablehnung zu antworten nach den immer gleichen Rechtfertigungen greifen. Sie waren nur neugierig. Sie haben es nicht böse gemeint. Sie haben asiatische Freunde oder Urlaubserfahrungen und wollen darüber sprechen."

In der Türkei ist die Frage: Woher kommst du? ganz normal, erklärt dagegen in der Welt Cigdem Toprak, die nicht ganz versteht, warum die gleiche Frage in Deutschland solche Empörungsstürme auslöst - wie zuletzt bei Dieter Bohlen: "Die Diskussion ist so paradox: Die People-of-Color-Fraktion macht sich über 'alte weiße Männer' lustig, beschwert sich darüber, dass die Geschichten, Erfahrungen und Perspektiven von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland zu kurz kommen und wenig bis gar nicht repräsentiert sind. Es sind die gleichen Leute, die doch sonst meinen, dass die Wurzeln und die Migrationsgeschichte, also die Unterschiede, politisch und gesellschaftlich relevant sind! Natürlich nur im positiven Sinne. Es ist also widersprüchlich, sich als People of Color zu bezeichnen und gleichzeitig zu bestreiten, dass ihre Eltern oder Großeltern andere Wurzeln haben als Deutsche. Die Tweets unter dem Hashtag '#vonhier' lesen sich wie Assimilationsversuche von jenen, die eine aggressive Identitätspolitik führen. Zudem können wir nicht leugnen, dass ein Großteil der Menschen mit Migrationshintergrund sich selbst als 'nicht deutsch' definiert."
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Internet

CDU-Politiker Axel Voss Berichterstatter der EU für die umstrittene Urheberrechtsreform, verteidigt beim Handelsblatt-Magazin "Orange" seine Urheberrechtsreform - inklusive der berühmten Artikel 11 (Leistungsschutzrecht) und 13 (Uploadfilter): "Zitate können auch weiterhin verwendet werden. Aber bitte bedenken Sie auch, dass alles, was über Zitat, Parodie oder Satire - ich will jetzt nicht alle Ausnahmen aufzählen - hinausgeht, Diebstahl ist. Die Meinungsfreiheit endet immer dort, wo die Rechte anderer anfangen. Die Werke gehören jemanden, wieso sollte ein jeder das Eigentum eines anderen im Netz einfach immer so verwenden können. Stellen Sie sich mal vor, es wäre Ihr Eigentum!"
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Wissenschaft

Sarah Pines besucht für die NZZ in New York das von dem amerikanischen Mathematiker und Hedge Fund Manager Jim Simons gegründete Flatiron Institute, wo man an perfekten Algorithmen bastelt: "Dahinter steht die Logik, dass es keine neuen Experimente braucht, Wissen, Fakten, Daten bereits vorhanden sind. Im Flatiron Institute will man sie decodieren und verbessern, indem dank Algorithmen und Computertechnologien mehr Informationen schneller als je zuvor gesammelt, verarbeitet, in neues Wissen übersetzt werden können."
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Ideen

Johan Schloemann war für die SZ dabei, als der britische Ökonom Paul Collier und der deutsche Grüne Robert Habeck in Berlin über Colliers Buch "Sozialer Kapitalismus" diskutierten. Viel Gemeinsamkeiten gab es nicht zwischen dem kommunitaristisch argumentierenden Collier, der das "Wir" stärken will, und dem auf individueller Lebensgestaltung beharrenden Habeck, lernte Schloemann: "Ja, je mehr man über Paul Colliers Lebensgeschichte nachdenkt - nach einer viel beachteten französischen Intellektuellen-Autobiografie könnte man von seinem 'Eribon-Moment' sprechen -, desto weniger kann man diesem großen Sozialwissenschaftler verdenken, dass er den Fragen nach den illiberalen Risiken des Kommunitarismus immer wieder ausweicht. Und doch hat diese Konfrontation in Berlin etwas eindringlich vorgeführt: die Unvereinbarkeit des traditionellen, schwindenden 'Rot' mit dem heutigen urbanen, individualistischen 'Grün'. Wenn nicht die Unheilbarkeit der Spaltungen überhaupt."

Was hätte wohl Michel Foucault aus dieser Debatte gemacht? In der NZZ erinnert sich Hans Ulrich Gumbrecht an den französischen Philosophen und dessen Lektüre der Texte der Stoiker, "deren Visionen über den Schutz des Individuums gegen die Machtdispositive des Staats hinaus auf eine Selbst-Formung des Individuums in Unabhängigkeit zur Macht zielten ('Sorge um sich'). Daraus zog er politische Konsequenzen für seine Gegenwart, die damals noch kaum Resonanz fanden, aber einen für uns wichtigen Irritationswert bewahrt haben: 'Das politische, ethische, soziale und philosophische Problem von heute liegt nicht in der Befreiung des Individuums vom Staat und von seinen Institutionen, sondern in unserer eigenen Befreiung von jener Form der Individualität, die in der Auseinandersetzung mit dem Staat entstanden ist.'"
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Kulturpolitik

Die deutschen Ethnologen des 19. Jahrhunderts waren oft ausgesprochene Gegner des Kolonialismus, erklärt Horst Bredekamp im Interview mit dem Freitag. Eine Tradition, die man nicht klein reden sollte im Streit um die Restitution von Kulturgütern: "Natürlich gibt es in der europäischen Geschichte eine hohe Verehrung für andere Kulturen. Bei Thevet und Montaigne zum Beispiel: 'Die Kannibalen sind wir!' Eine Tradition, die sich auch durch die Aufklärung zieht, in der deutschsprachigen Ethnologie aber eine besonders markante Bündelung erfährt, die Han Vermeulen in seinem Buch von 2015, 'Before Boas' niedergelegt hat. ... Er beschreibt die transnationale Orientierung der deutschsprachigen Völkerkunde, wie sie etwa in Göttingen entstand. Einer der Gründe lag in der Erfahrung der Kleinstaaten. Sollte Kassel über München stehen? Düsseldorf über Stuttgart? Bis 1871 gab es 'Stämme'. ... Es hat die Sensibilität für eine relativistische Weltsicht ermöglicht. Die Brüder Humboldt fallen nicht vom Mars auf die Erde. Sie sind eingebettet in eine Kultur, die es hasste, mit der Nation eine Dominanz zu verbinden. Die im Gegenteil von Vermischung sprach, von Verkettung, eher von Moosen als von Gerüsten."
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