04.03.2019. In Algerien haben Hunderttausende gegen eine neue Kandidatur des Präsidenten Bouteflika protestiert, der jetzt tatsächlich kandidieren will - um dann angeblich abzutreten. Die Historikerin Malika Rahal staunt in Le Monde über die Friedlichkeit und Beherrschtheit der Demonstranten. Die türkische Zivilgesellschaft ist durch die Repressionen der letzten Jahre zutiefst beschädigt worden, konstatiert die NZZ. Kenan Malik schreibt im Observer über den dreißigsten Jahrestag der Fatwa gegen Salman Rushdie - und über britische Autoren, die heute noch ein Verbot der "Satanischen Verse" fordern.
Europa, 04.03.2019
"Die
Repressionswelle der letzten Jahre hat große Löcher in die aufblühende
Zivilgesellschaft der Türkei gerissen",
berichtet Constanze Letsch in der
NZZ nach der jüngste Verhaftungswelle angeblich putschwilliger Philanthropen. "Nach der Ausrufung des Notstands im Sommer 2016 wurden rund
1400 Vereine und 139 Stiftungen per Dekret geschlossen. Laut einem Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofs vom letzten Jahr hat sich die Mitgliederzahl türkischer Verbände, die sich für Rechte einsetzten, zwischen 2015 und 2016 um rund
75 Prozent reduziert. ... Fingierte Anklagen und Verhaftungswellen gegen prominente Mitglieder der Zivilgesellschaft schüren die Angst."
Die Attacken gegen
Alain Finkielkraut bei einer Gelbe-Westen-Demo vor einer Woche sind noch in guter Erinnerung. Während der neue Antisemitismus in den osteuropäischen Ländern von den
rechtspopulistischen Staatsspitzen befeuert wird, kommt er in den westeuropäischen Ländern auch
von links,
schreibt William Echikson bei
politico.eu: "In Britannien zerreißt das Thema die oppositionelle Labour-Partei, deren Chef Jeremy Corbyn die international akzeptierte Antisemitismus-Definition ablehnte, weil er sein Recht auf Israelkritik bedroht sah. Muslimische Kritiker des jüdischen Staats dehnen ihre Kritik auch oft auf die Juden insgesamt aus:
Demonstranten in Malmö gegen die Trump-Entscheidung, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, riefen zu einer Intifada auf und versprachen, 'die Juden zu erschießen'. Einen Tag danach nannte ein Sprecher die Juden 'Affen und Schweine'."
Politik, 04.03.2019
In
Algerien haben Hunderttausende gegen eine neue Kandidatur des Präsidenten Abdelaziz Bouteflika protestiert. Die Demos blieben friedlich, auch die Polizei hat sich zurückgehalten,
berichtet Philip Sofian Naceur in der
taz.
France Info meldet inzwischen ganz aktuell, dass Bouteflika tatsächlich
zum fünften Mal kandidiert - angeblich, um selbst den Übergang einzuleiten: "Der Druck der Straße hat ihn nicht zurückweichen lassen. Abdelaziz Bouteflika hat am Sonntag, den 3. März seine Kandidatur bestätigen lassen. In einem Text, der im Fernsehen verlesen wurde, verspricht er, bei einem Sieg über 'eine
neue Verfassung' abstimmen zu lassen und eine 'vorgezogene Präsidentschaftswahl' einzuleiten, an der er nicht teilnehmen wolle."
Ali Ezhar
schickt für
Le Monde einen ganz aktuellen Artikel: "Es ist 12:20 Uhr am
Montag,
den 4. März, und ihre 'Hoffnung' weigert sich zu schlafen. 'Heute, heute, werden wir
die Nacht draußen verbringen', sagen Tausende von Jugendlichen wie ein Mann. Von der Place Maurice-Audin bis zur Rue Didouche-Mourad, im Stadtzentrum, sind es Tausende, die eine fünfte Amtszeit ablehnen..."
Die Historikerin
Malika Rahal stellt in einem Essay für
Le Monde mit Erstaunen fest,
wie bescheiden die Demonstranten sind. Slogans aus der Zeit des arabischen Frühlings wie "Das Volk will den Fall des Regimes" werden nicht wieder aufgenommen. "Die Demonstranten machen einen
sehr beherrschten Eindruck: Das Glück der Gemeinsamkeit ist spürbar. Die Kreativität und Jugendlichkeit kontrastieren mit dem allgegenwärtigen 'silmiyya silmiyya' (friedlich friedlich). Junge Mädchen mit langen Haaren und Männer rufen auch den Slogan 'silmiyya, hadariyya' und fügen somit die
Idee der '
Zivilität', ja fast der 'Höflichkeit' hinzu."
Gesellschaft, 04.03.2019
Kenan Malik, Autor des besten
Buchs über die "Rushdie-Affäre", die eigentlich eine Islamismus-Affäre ist, kann es in seiner
Observer-Kolumne
nicht fassen, dass es immer noch Journalisten wie Sean O'Grady gibt, der im
Independent "Rushdies dummes, kindisches Buch"
attackiert, "das gemäß der heutigen Antidiskriminierungsgesetzgeben
verboten werden sollte". Malik dazu: "Selbst im heutigen zur Zensur neigenden und keine Beleidigung durchlassenden Meinungsklima liegt etwas Verblüffendes
in der Beiläufigkeit, mit der sich der Vizechefredakteur einer überregionalen Zeitung stolz als
Möchtegern-Buchverbrenner und Zensor bekennt." Der Streit entbrannte anlässlich einer
BBC-
Dokumentation zu dreißig Jahren Fatwa, die aufgrund europäischer Urheberrechtsbestimmungen leider im Internet nicht zu sehen ist - hoffen wir, dass eine der öffentlich-rechtliche Anstalten in Deutschland sich zur Übernahme der Doku entschließt.
Malik redet übrigens morgen
zum Thema "The History and Politics of
White Identity" im Literarischen Colloquium Berlin.
Kulturpolitik, 04.03.2019
Die Restitutionsdebatte um koloniale Raubkunst ist nicht neu, erinnert in der SZ die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. Sie wurde schon einmal ausführlich und öffentlich geführt, "vier Jahre lang, zwischen 1978 und 1982, als wir Schulkinder waren. Damals 'strengten' in ganz Europa Politikerinnen und Politiker, Journalisten, Akademiker und Museumsleute 'ihre Intelligenz an', wie es der Generalinspektor der staatlichen Museen in Frankreich, Pierre Quoniam, 1981 formulierte, um eine faire und zeitgemäße Haltung in Sachen Restitutionen zu finden. Die Dynamik war vom Generaldirektor der Unesco, dem Senegalesen Amadou Mahtar M'Bow, in Gang gesetzt worden..."
Die Limbach-Kommission zu Restitution meist aus jüdischem Besitz geraubter Kunst funktioniert schlecht, schreibt Andreas Kilb in der FAZ. Das liege daran, dass die Kommission zugleich "symbolisch und sehr real" funktioniere: "Ihre Legitimation ist fraglich, aber eine bessere gibt es angesichts der Rechtslage nicht. Ihre Entscheidungen finden im rechtsfreien Raum moralischer Abwägungen ('soft law') statt, aber sie sind das Wirkungsvollste, was der deutsche Staat anbieten kann. Österreich hat seit 1998 ein Restitutionsgesetz, aber es gilt nur für Bundesmuseen. In Deutschland sind genau vier Häuser vollständig und etwa zwei Dutzend weitere größtenteils in Bundeshand, alle anderen unterstehen der Kulturhoheit der Länder."