9punkt - Die Debattenrundschau

Erfundenes Ministerium

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.03.2019. "Zeit für ein Umdenken", ruft die palästinensische Politologin Reham Owda  in der taz an die Adresse der alten Männer von der Hamas,  die jede Entwicklung im Gazastreifen verhindern. Zeit online beschreibt den Rollback gegen Frauenrechte in Russland.  In der SZ warnt Thea Dorn vor der Kaperung der Öffentlichkeit durch "Kränkungs-Communitys". In Slate meint Yascha Mounk: Nicht der Antisemtismus der Ilhan Omar ist das Problem, sondern wie viele Menschen in Politik und Medien ihr das bereitwillig durchgehen lassen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2019 finden Sie hier

Politik

Frauentag! In Berlin ist er erstmals gesetzlicher Feiertag. Die taz wird heute von Frauen gemacht. Auf der Meinungsseite schreibt die palästinensische Politologin Reham Owda über die Lage im Gaza-Streifen, der von der Hamas geknebelt wird: "Die bisherige palästinensischen Führung steckt in der Vergangenheit fest. Sie klagt, statt die aktuellen Möglichkeiten der Palästinenser in den Blick zu nehmen und rational und klug für die Zukunft zu planen. Ich bin überzeugt, dass die Zeit für ein Umdenken gekommen ist. Wir sind diejenigen, die den Schlüssel in der Hand halten, um unsere internen und externen Probleme zu lösen, statt das Ausland weiter um Unterstützung zu bitten. Eine kritische Selbstreflexion ist nötig, um unsere Schwächen zu analysieren, anstatt der Welt Vorwürfe zu machen, dass sie uns nicht hilft."

54 Prozent der Russen und Russinnen finden, "dass der Mann das Geld verdienen und die Frau sich um Haushalt und Familie kümmern sollte", schreibt Alice Bota in Zeit online. Das Frauenbild in Russland sei archaisch - auch die Sowjetunion war trotz rechtlicher Errungenschaften für dien Frauen "ein verdammter Männerladen, auch wenn die offizielle Ideologie anderes versprach. " Und sie beschreibt einen seltsamen Widerspruch: "Hier in Russland, wo es bis heute selbstverständlich ist, dass es Ingenieurinnen und Mathematikerinnen gibt, dass Frauen genauso gut oder besser ausgebildet sind als Männer und mehr Frauen in den Chefetagen sitzen als in Deutschland, siegt das archaische Frauenbild über das emanzipatorische. Die Weiblichkeit, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion exzessiv zelebriert wurde, wird überbetont, die Männlichkeit fetischisiert."
Archiv: Politik

Religion

Wann hat es das je gegeben, dass ein weltliches Gericht einen hohen Würdenträger der katholischen Kirche verurteilt (in diesem Fall zu einem halben Jahr auf Bewährung), weil er zu sexuellem Missbrauch geschwiegen hat. Die Website des französischen Senders France Bleu zitiert ausführlich aus dem Urteil gegen den Lyoner Kardinal Philippe Barbarin, der zugleich als höchster katholischer Geistlicher in Frankreich gilt und nun seinen Rücktritt erklärte: "Das sehr strenge Urteil kritisiert den Priester - der während des Prozesses Anfang Januar wiederholte, dass er nie versucht habe 'diese grauenhaften Tatsachen zu verstecken oder gar zu decken', dass er 'die Entscheidung, den Justizbehörden nichts zu sagen, bewusst getroffen hat, um die Institution, zu der er gehört, zu erhalten, obwohl sein Amt ihm Zugang zu allen Informationen gab und er die Möglichkeit hatte, sie sinnvoll zu analysieren und zu kommunizieren.' Um den Skandal zu vermeiden habe es Philippe Barbarin vorgezogen, die Entdeckung sehr vieler Opfer von sexuellem Missbrauch durch die Gerichte zu verhindern und ihnen zu verwehren, ihren Schmerz zu äußern, fügte das Gericht hinzu."
Archiv: Religion

Europa

Viktor Orban vergiftet mit seiner undemokratischen Politik auch alle bürgerlichen Werte, meint Karl-Markus Gauß in der SZ und unterstützt deshalb einen Ausschluss der Fidesz aus dem europäischen Verbund konservativer Parteien EVP. Zuletzt traf es die Ungarische Akademie der Wissenschaften: Sie soll künftig nicht mehr ihre Forschungsmillionen für zahllose Institute und Projekte selbst verteilen dürfen, "sondern ein eigens dafür erfundenes Ministerium. Natürlich wird das nicht damit begründet, dass sich die Regierung den Zugriff auf die Forschung sichern möchte, sondern mit dem Wunsch nach gesteigerter 'Effizienz' und 'Exzellenz' der ungarischen Wissenschaften. Auch in Österreich, und längst nicht nur bei uns, verlangen Politiker der Regierungsparteien mittlerweile, dass der ORF nicht mehr aus den 'Zwangsgebühren', sondern jedes Jahr neu aus Mitteln des Budgets finanziert, also unmittelbar vom Wohlwollen der Regierung abhängig werden solle." Eine ähnliche Gefahr für die Demokratie sieht Gauß auch von der rumänischen Partidul Social Democrat ausgehen, von der sich der europäische Verbund der Sozialdemokraten SPE distanzieren sollten.
Archiv: Europa

Gesellschaft

Der Politologe Yascha Mounk ("Der Zerfall der Demokratie") reagiert in Slate.com auf die amerikanische Debatte um die demokratische Kongress-Abgeordnete Ilhan Omar, die durch einige antisemitische Bemerkungen von sich reden machte, für die sie sich entschuldigte, um dann wieder nachzusetzen (unsere Resümees). Mounk fühlt sich nicht mal so sehr durch Omars Interventionen so unbehaglich: "Juden, die in fast jeder Generation ihrer Existenz auf dieser Erde politische Gewalt erlebt haben, werden auch eine Kongress-Novizin überleben. Aber was die letzten Tage zutiefst deprimierend gemacht hat, ist, wie viele Menschen in Politik und Medien ihr das bereitwillig durchgehen lassen."

Die amerikanische Philosophin Kate Manne, die gerade ein Buch über Misogynie veröffentlicht hat, erklärt im Interview mit der SZ, was der Unterschied zum Sexismus ist: "Sexismus ist eine Ideologie, die eine patriarchale Sozialordnung naturalisiert und rationalisiert. Sie argumentiert etwa, dass Frauen 'von Natur aus' fürsorglicher und empathischer seien als Männer, auch wenn das nicht belegbar ist. Oder, dass Männer intellektuell überlegen seien. Und Misogynie ist die Exekutive des Patriarchats, die Polizei sozusagen: Sie erhält die Ordnung aufrecht und sorgt dafür, dass Abweichung oder Widerstand bestraft wird - durch verbale oder körperliche Gewalt, durch soziales Stigma oder Ausschluss."

Felicia Ewert erzählt in der Frauen-taz von Misslichkeiten und Schönheiten der Transsexualität: Zusammen mit ihrer Frau hat sie ein Kind gezeugt, wozu sie offenbar einen ursprünglich als "männlich" geltenden Zeugungsapparat verwenden konnte: "Für meine Frau stellte sich zu keiner Zeit die Frage, ob ich 'auch Mutter' sein darf. Doch selbst vermeintlich aufgeklärte Menschen sagen Dinge wie: 'Selbstverständlich ist Felicia eine Frau, aber in Bezug auf ihr Kind ist sie nun mal biologisch betrachtet der Vater.' Das zeigt zwei Dinge. Erstens: Zu welch akrobatischen Verrenkungen cis Personen mitunter bereit sind, nur um alles in die ihnen bekannten Schubladen zu stopfen. Nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht. Sie wollen einerseits respektvoll erscheinen, aber ebenso dringend müssen sie ihre privilegierte cis Position als 'Normalzustand' verteidigen."
Archiv: Gesellschaft

Ideen

In der SZ warnt Thea Dorn davor, das liberale Ideal - nach dem jeder er selbst sein kann und gleichzeitig freier und gleichberechtigter Teil einer Staatsgemeinschaft - durch die Schaffung von "Kränkungs-Communitys" zu gefährden: "Hier lautet die komplexe Aufforderung nicht: 'Schau her, ich bin einzigartig und dennoch erwarte ich, dass du mich als gleichwertig respektierst!' Sie verkommt zur niederschmetternden Mitteilung: 'Schau her, ich gehöre einer Gruppe von Menschen an, deren Kränkungserfahrungen einzigartig sind und deren Gefühlshaushalte du deshalb nie verstehen wirst!' Wenn dann auch noch Mitglieder von ehemals privilegierten Gruppen (wie den 'alten, weißen Männern' oder 'Biodeutschen') dazu übergehen, mit derselben identitätspolitischen Münze zurückzuzahlen und sich ihrerseits zu Kränkungs-Communitys zusammenzuschließen, hat der gesellschaftliche Zerfall endgültig begonnen."
Archiv: Ideen

Kulturmarkt

Die Buchhändler Hartwig Bögeholz und Wolfram Schwarzbich wenden sich im Börsenblatt mit Blick auf die Insolvenz des Grossisten KNV gegen "die Schimäre Branchenharmonie". Die Brancheninterna in dem Artikel sind für Außenstehende nicht immer leicht nachzuvollziehen. Aber eine der Ursachen der Insolvenz von KNV scheinen die Autoren im Konzentrationsprozess bei Buchhandlungen zu sehen: Größere Ketten verlangen größere Rabatte: "Warum wohl geht der größte Zwischenbuchhändler in die Knie? Weil er vom Kettenzusammenschluss unmittelbar betroffen ist, weil er die logistische Struktur für die kleinere der beiden Ketten betreibt − und dieses Geschäft in Kürze verlieren wird. Dieses zeitigt in jedem Fall gravierende Folgen, selbst wenn es die selbst verursachten Bauchklatscher beim Scheitern des Anspruchs, die Logistik neu erfinden zu wollen, nicht gegeben hätte." Die Folgen der Insolvenz sind wegen der sehr hohen Schulden bei KNV noch nicht ausgestanden, warnen die beiden Autoren.
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: KNV, Buchmarkt, Knv-Insolvenz

Medien

Paywalls funktionieren nicht, vor allem nicht bei der Lokalpresse, schreibt Ralf-Dieter Brunowsky, ehemals Chefredakteur bei Capital, mit blick auf die Krise bei den Dumont-Zeitungen bei Meedia. Aber das ist nicht alles: "Die Erhöhung der Vertriebspreise lässt sich auch nicht unendlich fortsetzen. Sie hat dazu geführt, dass jüngeren Lesern das Zeitunglesen zu teuer geworden ist. Es gibt online genug kostenlose Angebote. Die Verlage stecken in einer Falle, aus der ein Entkommen kaum möglich erscheint."
Archiv: Medien