9punkt - Die Debattenrundschau

Ein bestimmter Wir-Bedarf

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.03.2019. In der NZZ entwirft der Historiker Volker Reinhardt eine Archäologie des Populismus. Unermüdlich kämpft die taz für die israelkritische Organisation "Jüdische Stimme für gerechten Frieden", der heute der Göttinger Friedenspreis verliehen werden soll. Auch in Amerika wird über Israelkritik und Israelboykott diskutiert - Anlass sind israelkritische Äußerungen der Kongress-Abgeordneten Ilhan Orhan. Die Wikipedia annonciert einen eintägigen Internetstreik aus Protest gegen die EU-Urheberrechtsreform.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.03.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

In Frankeich wird Alain Finkielkraut von linken Antisemiten attackiert (unsere Resümees). In Britannien treten Labour-Abgeordnete aus der Partei aus, weil Jeremy Corbyn sich nicht gegen die Judenfeinde in seiner Partei wehrt. Und in Deutschland kämpft die taz unermüdlich für die israelkritische Organisation "Jüdische Stimme für den gerechten Frieden", deren Repräsentantin Iris Hefets schon seit Jahren beliebte taz-Kommentatorin ist (im Jahr 2010 sprengten einige tazler ein Podium der Jüdischen Gemeinde in Berlin, um ihren Auftritt zu erzwingen, damals hatte sie den "Schoah-Kult" in der deutschen Politik attackiert, unsere Resümees, hier und hier). tazler und Fernsehexperte Andreas Zumach war Vorsitzender einer Jury, die der Organisation an diesem den Göttinger Friedenspreis geben will. Die Ölung für den Preis an diese Organisation holt sich tazler Stefan Reinecke bei den jüdischen taz-Kolumnisten Micha Brumlik. Er "hat sich die Gründungsdokumente der BDS-Bewegung genau angeschaut und sagt: 'Es gibt keine hieb- und stichfesten Belege, dass BDS antisemitisch ist'. Und: 'Die 'Jüdische Stimme' hat das Existenzrecht Israels immer beglaubigt.' Der Zentralrat, der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung und der der Jüdischen Gemeinde Berlin sehen das anders. Und sie verfügen über so etwas wie die offizielle Deutungshoheit, jedenfalls in den Augen von Bürgermeistern und Bankdirektoren."

Auch der bekannte New York Times-Kolumnist Thomas Friedman befasst sich heute mit der BDS-Bewegung. Anlass sind Äußerungen der demokratischen Kongressabgeordneten Ilhan Omar, die den Juden in den USA eine "doppelte Loyalität" vorwarf (unsere Resümees) und die BDS-Bewegung je nach Publikum, vor dem sie spricht, mal gutzuheißen scheint, mal nicht. Die Bewegung, so Friedman, beziehe keine klare Position in der Frage, ob sie eine Ein- oder Zweistaatenlösung für Israel wolle: Aber "indem sie ein Rückkehrrecht der Palästinenser fordert und sich andererseits nicht eindeutig für eine Zweistaatenlösung einsetzt, lässt die Bewegung mich und viele andere vermuten, dass BDS nur ein Code ist, um den Staat Israel loszuwerden."

Omar sei aber auch gegen antimuslimische Reaktionen in Schutz zu nehmen, schreibt Michelle Goldberg ebenfalls in der New York Times. Ihre Äußerungen seien kritikwürdig, aber nicht das schlimmste, was gerade in Amerika passiere: "Omar spielte mit der Idee der doppelten Loyalität, aber Donald Trump sprach im letzten Dezember zu amerikanischen Juden und nannte Israel 'Ihr Land'. Tatsächlich hat kein Präsident mehr als er klassisch antisemitische Ideen über ein authentisches 'Volk' im Krieg mit parasitären Globalisierungsgewinnlern verbreitet." Mehr zu Ilhan Omar in einem langen Hintergrundartikel bei Politico. Und der Groß-Essayist Andrew Sullivan fragt im New York Magazine ernsthaft: "Ist es möglich, ehrlich über die Macht der Israellobby in D.C. zu schreiben, ohne irgendwelche antisemitischen Argumentationsfiguren zu benutzen?"

Die Linguistin Luise F. Pusch setzt sich für eine gendergerechte Sprache ein - und benennt in der taz doch die Schwierigkeiten mit dieser Idee:  "Der Genderstern zerreißt das Wort in drei Teile: männlicher Stamm - Genderstern - weibliche Endung. Damit sind wir Frauen wieder da gelandet, wo wir vor vierzig Jahren angefangen haben. Nur stand damals anstelle des Sterns ein Schrägstrich oder eine Klammer und symbolisierte, dass Frauen die zweite Wahl sind."

Sibylle Lewitscharoff erklärt in der Literarischen Welt, warum sie den Aufruf "Schluss mit dem Gender-Unfug" unterschrieben hat: Die Schriftstellerin hält staatliche Eingriffe in den Sprachgebrauch für "sperrig, umständlich, den Satzfluss hemmend, arhythmisch, wenn nicht idiotisch ... Es entsteht ein holpriges Schriftbild, das mich beim Lesen aus der Bahn wirft, als müsse man mir einen pädagogischen Befehl erteilen, dass ich niemals vergessen darf, auch im kleinsten Wurmfortsatz von drei, vier Wörtern geschlechtsgerecht zu denken (Allein das Wort 'geschlechtsgerecht' verströmt einen unangenehmen Geruch, als müsse man Gummihandschuhe überziehen, um die Vagina oder den Penis zu untersuchen.)"
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Internet

Die Wikipedia soll aus Protest gegen die Artikel 11 und 13 der EU-Urheberrechtsreform für einen Tag unzugänglich sein, berichtet Torsten Kleinz bei heise.de. Statt dessen wird ein Banner über den Protest informieren. Die Wikipedia fühlt sich trotz Ausnahmeregelungen von der Reform gefährdet: "Zwar sind nicht-kommerzielle Enzyklopädien wie Wikipedia in Artikel 13 ausdrücklich von den neu eingeführten Haftungsregeln ausgeschlossen, doch die Wikimedia Foundation befürchtet trotzdem einen schädlichen Einfluss auf die Enzyklopädie-Arbeit. In einem Blog-Beitrag verweisen zwei Juristen im Auftrag der Foundation darauf, dass die Errichtung einer Zensur-Infrastruktur zu befürchten sei und der notwendige freie Fluss von Informationen eingeschränkt würde. Zudem sei unklar, inwieweit die extensive Quellensammlung der Wikipedia-Artikel mit dem Presseverleger-Leistungsschutzrecht vereinbar sei."

Außerdem: Der bekannte Whistleblower Daniel Ellsberg setzt sich für Chelsea Manning ein, die sich mit Verweis auf Pressefreiheit weigert, über Wikileaks auszusagen und dafür erneut ins Gefängnis muss.
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Politik

Jannis Hagmann und Sofian Philip Naceur berichten in der taz über Algerien und schreiben, was statt einer Präsidentenwahl eigentlich passieren müsste: Es müsste "erst einmal eine verfassungsgebende Versammlung gewählt werden. Eine Interimsregierung müsste dann die Regierungsgeschäfte übernehmen, während eine neue, demokratisch legitimierte Verfassung erarbeitet wird. Später dann, irgendwann, würden die Algerierinnen und Algerier einen Nachfolger Bouteflikas wählen. Das wäre ein wirklicher politischer Neustart, ein algerischer Frühling."
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Stichwörter: Algerien

Ideen

Irgendwie haben die Konservativen nicht richtig gedacht, und darum ist die Rechte verrückt geworden - so lautet im Welt-Gespräch mit Mara Delius und Marc Reichwein die Analyse des Soziologen Heinz Bude für die gegenwärtige ideologische Verwirrung auf der einen Seite des politischen Spektrums: "Wir haben hier seit 14 Jahren eine konservativ geführte Regierung. Aber wir haben keinen Konservatismus mehr, der aus einem bestimmten 'Wir'-Bedarf heraus denkt und daraus eine Welt konstruiert. Wir haben stattdessen nur diese verrückte Rechte, die im Zweifelsfall rassistisch ist. Und das ist das Problem: Die Konservativen haben es aufgegeben, einen in sich schlüssigen Gesellschaftsentwurf überhaupt nur zu denken. Deshalb ist das Wir von rechts nur reaktiv und regressiv."

In einer faszinierenden Tour d'horizon entwirft  der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ gewissermaßen eine Archäologie des Populismus, zu dessen Ur-Autoren für ihn Niccolò Machiavelli, Jean Bodin und Jean-Jacques Rousseau gehören. Gegen ihre Theorien vom ursprünglich reinen Volk habe es aber immer auch Widerrede gegeben - die leider scheiterte: "Nicht nur Voltaire, sondern jeder Gegendenker zu den großen Simplifizierern seiner Zeit hatte es schwer. Der Historiker Francesco Guicciardini zerpflückte die populistischen Thesen seines Zeitgenossen Machiavelli Punkt für Punkt, und zwar mit unleugbar stärkeren Argumenten, differenziert, psychologisch und historisch fundiert - doch wer kennt heute noch Guicciardini? Populisten wie Machiavelli, Bodin und Rousseau hatten und haben Erfolg, weil sie die Welt in übersichtlichen, griffigen Formeln erklären."
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