9punkt - Die Debattenrundschau

Der unwiderstehliche Sog

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.03.2019. Im Iran ist die Menschenrechtskämpferin und Sacharowpreisträgerin Nasrin Sotoudeh laut Amnesty zu 38 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt worden. In der SZ erklärt Denis Krivosheev von Amnesty International, wie Russland versucht, die chinesische Kunst der Internetzensur noch zu toppen. Annegret Kramp-Karrenbauers europapolitische Antwort auf Emmanuel Macron ist ein Rückfall in alte Positionen, findet Spiegel online. Le Point sieht sie eher als Affront. Der Berliner Zeitung graut vor den moralischen Schnellverfahren gegen Prominente.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.03.2019 finden Sie hier

Politik

Die Menschenrechtlerin Nasrin Sotoudeh, die 2012 zusammen mit Jafar Panahi den Sacharow-Preis erhalten hat, ist im Iran zu 33 Jahren Gefängnis und und 148 Peitschenhieben verurteilt worden. Sotoudeh hatte sich unter anderem gegen den Kopftuchzwang engagiert. In einem anderen Prozess war sie bereits zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, so dass ihr fast vier Jahrzehnte im Gefängnis bevorstehen. In der Amnesty-Meldung zu diesem Thema heißt es: "Dies ist das härteste Urteil, das Amnesty International in den letzten Jahren gegen Menschenrechtsverteidiger im Iran dokumentiert hat, was darauf hindeutet, dass die Behörden - ermutigt durch die weitgehende Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen - ihre Repression verstärken."

Der algerische Präsident Abdelaziz Bouteflika hat erklärt, nun doch nicht erneut kandidieren zu wollen und statt dessen sein Mandat zu verlängern, um einen Übergang zu ermöglichen. Eine höchst zwiespältige Meldung, schreibt Rafika Bendermel in Libération: "Auch wenn die Freude hier und da spontan explodiert, stößt die Entscheidung doch nicht auf Einmütigkeit. Louise, eine dreißigjährige Demonstrantin, die von Anfang an dabei ist, sagt: 'Das ist ist dieselbe Ankündigung, die er schon vor einer Woche gemacht hat. Er zieht sich zurück und sagt, dass er den Wandel überwache. Nichts als Fassade.' Sie befürchtet, dass die Nachricht die Protestbewegung spaltet."
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Internet

Im Interview mit der SZ erklärt Denis Krivosheev von Amnesty International das neue Zensurgesetz in Russland, das seiner Ansicht nach auf ein Verbot jeglicher Kritik an der Regierung hinausläuft. Danach dürfen russische Behörden künftig Onlinemedien sperren, wenn diese ihrer Meinung nach Fake News verbreiten oder Staat oder Gesellschaft beleidigen. Außerdem gibt es einen Gesetzesvorschlag, das russische Internet vom World Wide Web abzukoppeln: "China hat die Nutzung des Internets für seine Bürger tatsächlich sehr eingeschränkt", sagt Krivosheev. "Manche Seiten des Word Wide Web können dort nicht aufgerufen werden. Suchmaschinen werden kontrolliert und müssen sich den Auflagen der Behörden beugen. Doch was Russland vorhat, geht über solche Einschränkungen hinaus. Es geht wirklich darum, das russische Internet aus dem weltweiten Netz herauszunehmen. Wenn das technologisch gelingen sollte, wäre das wirklich ein Desaster für die freie Meinungsäußerung in Russland."
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Urheberrecht

In der Schweiz wollen die Bibliotheken gerne das Vermietrecht von Büchern streichen, das vorsieht, dass die Autoren jedesmal Geld bekommen, wenn ein Buch ausgeliehen wird (ein Verleihrecht gibt es nicht in der Schweiz, lernen wir). In der NZZ ist Peter Stamm entsetzt: "Es ist verständlich, dass die Bibliotheken versuchen, Geld zu sparen, wo immer sie können. Aber es kann nicht sein, dass ausgerechnet die Urheber der Werke, die den Lebenszweck der Bibliotheken ausmachen, kaum Geld für ihre Arbeit bekommen. Die Politik ist gefragt, nun endlich etwas für das Buch zu tun und den Bibliotheken die nötigen Mittel dafür zur Verfügung zu stellen."
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Gesellschaft

In der Berliner Zeitung fühlt sich Harry Nutt sehr unwohl, angesichts der "neuen Lust am moralischen Schnellverfahren", das von Woody Allen, Roman Polanski, Richard Wagner bis zu R. Kelly, Michael Jackson und AKK heute jeden betreffen kann: "Ob ein missratener Witz oder der Vorwurf sexueller Gewalt: In all diesen Beispielen geht es kaum noch um die Rekonstruktion eines tatsächlichen Geschehens oder die (Selbst-)Überprüfung einer sprachlichen Formulierung. Der unwiderstehliche Sog, der von der moralischen Urteilsbildung ausgeht, tendiert allzu oft ins Monströse. Während man über das kulturelle Phänomen der zwanghaften Meinungsbildung die Nase rümpfen mag, sollten die Schwierigkeiten, die daraus längst auch der juristischen Urteilsbildung erwachsen, nicht einfach nur hingenommen werden. Sie wiegen schwerer als die Frage, ob Michael Jackson im Radio erklingen darf oder lieber nicht."

Außerdem: In Amerika beinhalten Verträge mit Künstlern oder Journalisten immer häufiger sogenannte "Moralklauseln", die ein Verhalten "im Einklang mit der öffentlichen Moral" verlangen, berichtet in der SZ Meredith Haaf.
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Europa

Die Gründung der "Aufstehen"-Bewegung durch Sahra Wagenknecht erzeugte vor ein einem halben Jahr eine gewisse Nervosität im politischen Berlin. Aber die Raktete zündete nicht so recht. Nun ist Wagenknecht erst vom Vorsitz von "Aufstehen" und ein ein bisschen später - noch überraschender - vom Fraktionsvorsitz der Linkspartei im Bundestag zurückgetreten. Sie macht dafür auch gesundheitliche Gründe geltend. Aber es müsste bei "Aufstehen" auch ohne Wagenknecht gehen, meint Anna Lehmann in der taz: "Eigentlich spielt der Vorstand kaum eine Rolle, die Macht konzentriert sich beim Trägerverein von Aufstehen. Der Verein, in dem lange vor allem Linken-Politikerinnen wie Sevim Dagdelen und ihr Mann Martin Hantke das Sagen hatten, hat nicht nur die Rechte an der Marke, sondern auch Zugriff auf die 170.000 E-Mail-Adressen der UnterstützerInnen und Administratoren-Rechte über den Facebook-Account und den Mailverteiler. Ohne Zustimmung des Trägervereins kann keine Aufruf und keine E-Mail verschickt werden."

Emmanuel Macron hat vor ein paar Tagen einen Brief an die europäischen Bürger mit ein paar konkreten Vorschlägen zu engerer Zusammenarbeit veröffentlicht (unser Resümee). Darauf hat nicht Angela Merkel, sondern Annegret Kramp-Karrenbauer in der Welt geantwortet. Diese Antwort ist eher enttäuschend und deutet einen Rückfall in alte Positionen an, findet Spiegel-online-Kolumnist Stefan Kuzmany: "Der Franzose will mehr Gemeinsamkeiten, die Deutsche kann kaum 'Europa' schreiben, ohne sogleich hinterherzuschieben, dass 'ohne die Nationalstaaten' nichts geht. Macron arbeitet auf eine tatsächliche europäische Integration hin. Kramp-Karrenbauer scheint einen Rückschritt anzustreben: Hin zu einer vor allem wirtschaftlich ausgerichteten Zusammenarbeit mit gemeinsamer, strikter Grenzsicherung." In der taz berichtet Eric Bonse über eher befremdete Reaktionen in Brüssel und Paris.

Luc de Barochez liest AKKs Antwort auf Macron in Le Point als Affront, unter anderem weil sie die Streichung des Parlamentssitzes in Straßburg fordert, während sie einen gemeinsamen europäischen Platz im UN-Sicherheitsrat vorschlägt. Auch Macrons Positionierung gegen die Rechtspopulisten wolle sie nicht mitmachen: "AKK will das christdemokratische Lager verkörpern und weigert sich, sich in einen Wahlkampf einspannen lassen, in dem sich Progressive gegen Populisten stellten. In dieser Optik ist Emmanuel Macron eher ein Gegner als ein Partner."

Heute ist nochmal eine dieser pittoresken Parlamentssitzungen in London. Theresa May hat von der EU ein Paar Zusatzerklärungen für ihren Deal bekommen. Aber um zu wissen, wie die Stimmung in London ist, muss man nur die Überschrift von Polly Toynbees Guardian-Kommentar lesen: "Selbst wenn Theresa Mays vermurkster Deal sich durchquälen sollte: der Brexit wird eine Generation lang wie eine Wunde schwären."
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