9punkt - Die Debattenrundschau

Womöglich verheißungsvoll

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.03.2019. Neuseeland steht nach dem Attentat von Christchurch unter Schock. Die SZ sieht in dem 28-jährigen Australier Brenton Tarrant den neuen Typus eines global vernetzten rechtsextremen Terroristen. Bellingcat erklärt, wie Shitposting funktioniert. Die taz recherchiert weiter zum Milizen-Netzwerk Hannibal. Das NiemanLab meldet, dass Facebooks neu justierte Algorithmen noch mehr Aggression, Angst und Erschöpfung in das Netzwerk brachten. Die NZZ fragt, ob Google und Amazon die ungewisse Zukunft abschaffen wollen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.03.2019 finden Sie hier

Politik

Nach dem Attentat in Christchurch, bei dem 49 Menschen ermordet wurden, haben die neuseeländischen Behörden den 28-jährige Australier Brenton Tarrant als mutmaßlichen Haupttäter identifiziert. Die New York Times nennt das Massaker, das Tarrant live über Twitter, Facebook und 8chan hinausposaunte, "einen Massenmord aus dem Internet und für das Internet". Der Guardian berichtet von Entsetzen und Trauer in Neuseeland und meldet auch, dass Premierministerin Jacinda Ardern semiautomatische Waffen verbieten lassen will.

In der SZ  sieht Reporter Ronen Steinke in dem Attentäter den neuen Typus eines rechtsextremen Terroristen, der wie Anders Breivik oder David S., auf den Applaus eines global vernetzten Publikums schiele: "Der Attentäter, der seine Herkunft selbst als 'schottisch, irisch und englisch' angibt, knüpft nicht an klassische rechtsextreme Rhetorik an, die auch zwischen europäischen Völkern trennt. Die Nazis seien doch von gestern, schreibt er. Stattdessen geht es, breiter, um eine 'weiße Rasse' - und um die angeblich bedrohlich hohen Geburtenraten der anderen. Durch Zuwanderung würden die Angestammten verdrängt. Weiße würden 'ausgetauscht'. Der Attentäter hat sein Manifest mit 'Der große Austausch' überschrieben, das ist ein Lieblingsschlagwort der neurechten Identitären Bewegung, jener rechtsradikalen Strömung also, in der ungarische, österreichische und italienische Rassisten sich Seite an Seite wohlfühlen." Und bedrohlich erscheint Steinke auch, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Zielscheibe gemacht werde. Brendon Tarrant hetzt gegen sie als "die Mutter all dessen, was anti-weiß und anti-germanisch ist". Sie stehe "ganz oben auf der Liste", zitiert Steinke.

Auf Bellingcat erklärt Robert Evans, was es mit dem Shitposting auf sich hat, auf das Brendon Tarrant mit seinem Pamphlet 'Der große Austausch' rekurriert: "Shitposting heißt, einen riesigen Berg von meist ironischen Bemerkungen rauszublasen, ein Trolling von niedriger Qualität, um emotionale Reaktionen bei weniger Internet-gestählten Betrachtern auszulösen. Das ultimative Ziel ist, eine produktive Diskussion zu zersetzen und Leser abzulenken. 'Die große Umwolkung' ist eine eindeutiges und brutales Beispiel dieser Technik."

Apropos global agierende Milizen. Die taz setzt ihre Recherchen zum Netwerk Hannibal fort, das bewaffnete Einheiten trainiert und Zivilisten in Militärtaktiken schult: "Im Verein Uniter e. V. vernetzen sich Elitesoldaten mit Polizisten aus Spezialeinheiten, aktiven und ehemaligen, Unternehmern der Sicherheitsbranche und Zivilisten. Der Referent zeigt ein Abzeichen, das Mitglieder erhalten, die eine Kommandoausbildung des Vereins durchlaufen: ein Wolfskopf mit gefletschten Zähnen. Dazu in Latein: 'Semper Fidelis', für immer treu."

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Europa

Die Londoner Konvulsionen, die in der zurückliegenden Woche das britische Unterhaus fast zum Kollaps gebracht haben, lassen die scharfzüngige Marina Hyde im Guardian zu Höchstform auflaufen: "Wir fokussieren uns so stark auf das, was die zerstrittenen Brexit-Fraktionen trennt, obwohl sich doch fast alle von demselben einigenden Prinzip leiten lassen, dem Spiel mit dem Feuer: 'Irgendwann wird jemand aufhören, sich wie ein totaler Vollpfosten aufzuführen, aber das werde nicht ich sein.' Die letzten Tage waren wie Reenactment der Kuba-Krise mit den Teletubbies."
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Stichwörter: Brexit, Kuba

Internet

Gut ein Jahr nach Facebooks Ankündigung, den Algorithmus seines NewsFeeds weniger zu verändern, um Aggressionen aus dem Netzwerk zu nehmen, hat sich die Lage noch verschlimmert, berichtet Laura Hazard Owen auf Nieman Lab: "Ein neuer Report von NewsWhip zeigt, was die Wende hin zu 'bedeutungsvoller Interaktion' gebracht hat: Artikel über spaltende Themen wie Abtreibung, Religion und Waffen haben Auftrieb bekommen. Wütende Reaktion dominieren, wobei 'Fox News für die meisten sorgt, mit doppelt so vielen wie alle anderen'. Natürlich ist das nicht nur Facebooks Schuld. Der Inhalte, der die Plattform beherrscht, hätte auch ohne den neuen Schub durch die Algorithmen, gestiegen sein können. Aber es ist klar, dass Mark Zuckerbergs Versicherung, Zeit auf Facebook werde 'gut verbrachte Zeit' nicht erfüllt wurde. Stattdessen ist ein wütender Ort, an dem Menschen erschöpft und geängstigt werden."

Constantin van Lijnden weiß wohl, dass die Proteste gegen die Uploadfilter echter Sorge um das freie Internet und dem Ärger über Brüssel entspringen. Aber mitunter eben auch, wie er in der FAZ notiert, geldwerten Vorteilen: "Wie Recherchen dieser Zeitung ergeben haben, wurde mehreren deutschen Youtubern von einem unter dem Namen 'Create Refresh' auftretenden Interessenskollektiv Geld dafür angeboten, sich in Videos gegen den für die Videoplattform besonders relevanten Artikel 13 der Urheberrechtsreform zu positionieren."
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Ideen

Arbeiten Google und Amazon an der Abschaffung der Zukunft? Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski beschreiben in der NZZ, wie die Tech-Konzern Vorhersagen zu ihrem zentralen Geschäftsfeld machen: Waren werden nicht vor der Bestellung geliefert, Google mahnt, nicht den Regenschirm zu vergessen, Alexa empfiehlt ein Medikament, wenn es jemanden Husten hört. Die Zukunft wird statistisch aus der Gegenwart hochgerechnet. Predictive analytics sorgen für anticipatory shipping: "In diesem Umfeld siedeln sich derzeit - das 'predictive policing' ist sein prominentester Statthalter - immer mehr Verfahren an, die im Wirklichen das Mögliche enthalten sehen, Korrelationen häufig wie Kausalitäten lesen und aus der ungewissen eine wahrscheinliche Zukunft machen. Doch die Ungewissheit verschwindet damit nicht einfach, sie scheint nur eindeutig deklariert: als Ort, den es systematisch auszuschließen gilt. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Vorwegnahme des Künftigen als Geringschätzung dessen lesen, was Derrida 'l'avenir' genannt hat - ein Kommendes, das entgegen der 'festgelegten, vorgeschriebenen' Zukunft 'nicht vorhersehbar', aber womöglich verheißungsvoll ist."
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Stichwörter: Ungewissheit

Medien

In der NZZ rekapituliert Markus Ziener, wie Ungarn, Polen und Tschechien unabhängige Medien ausschalten. Ein wichtiges Mittel waren die staatlichen Anzeigen, mit deren Hilfe die Regierungen Gelder haben fließen lassen oder eben nicht. Ein anderes Instrument war die Vertreibung ausländischen Medienhäuser, um Zeitungen und Radiosender regierungstreuen Oligarchen zuzuschlagen. "Doch warum haben sich viele der ausländischen Medienhäuser aus den mittel- und osteuropäischen Märkten zurückgezogen? Zum einen, weil der politische Druck gestiegen ist. So wird den Medienhäusern regelmäßig vorgeworfen, sie 'kolonisierten' ihre Länder. Zum anderen, weil Investoren, die kritische Medien besitzen, direkte ökonomische Nachteile drohen. 'Dabei werden auch die Wettbewerbsbehörden als verlängerter Arm der Regierung eingesetzt', sagt Simon. So hatte etwa das ungarische Kartellamt den Häusern Ringier und Springer eine Kooperation nur unter der Auflage erlaubt, dass diese sich von einem Teil ihres Portfolios trennten. Das Kartellamt folgte dabei einer bindenden Empfehlung des neu geschaffenen Medienrates. In diesem Zuge wurde Népszabadság verkauft und de facto dem Untergang geweiht."
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