9punkt - Die Debattenrundschau

Die eigene Krise

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2019. Das Attentat von Christchurch ist nur die Spitze des Eisbergs: taz und Spiegel online untersuchen das Phänomen des durch das Internet international vernetzten Rechtsextremismus. Ist Antizionismus nur "eine Meinung"? Auch in Frankreich wird über Israelkritik diskutiert. Viktor Jerofejew schreibt in der FAZ einen kritischen Brief an die Deutschen. An den Gilets jaunes wird deutlich, was Rechts- und Linkspopulismus eint, analysiert die NZZ: eine Verklärung des Volks.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Längst ist der rechtsextreme Terrorismus international vernetzt, schreiben Urs Wälterlin und Konrad Litschko im Hintergrund der taz zu dem Attentat in Christchurch: Brenton "Tarrant reiste offenbar länger durch Europa - wo er laut Sicherheitsbehörden auch Rechtsextreme getroffen haben soll. In Serbien, Bulgarien und Bosnien-Herzegowina sei er gewesen. Tarrant selbst schreibt von Aufenthalten in Westeuropa. 2017 sei er in Frankreich gewesen, dort sei sein Entschluss zum Anschlag gefallen, als er die dortige 'Invasion' von Migranten erlebt habe."

Auch Teile der Bundesregierung tragen durch ihre Abschottungspolitik zu einem Klima bei, das Taten wie die von Christchurch möglich macht, glaubt Dinah Riese in der taz: "Umso verstörender ist es, was CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer zu dieser Bluttat zu sagen hat. Die Frau, die mal Bundeskanzlerin werden will, schafft es, ihre Beileidsbekundung mit dem Wort 'Egal' zu beginnen und das Wort 'Rassismus' ebenso zu meiden wie die Menschen, die gezielt angegriffen wurden: Muslime. 'Keine Erklärung' gebe es. Das ist dermaßen falsch, denn die Erklärung lautet: Rassismus."

Medien machen sich zu Komplizen, wenn sie das vom Täter selbst gefilmte Video zeigen, meint Arno Frank bei Spiegel online: "Heute kann unter dem Druck der gesichtslosen Konkurrenz aus dem Netz der Boulevard nicht widerstehen, zumindest mit einer entschärften Version des mörderischen Director's Cut zu punkten. Der Täter will sein Gesicht, seinen Namen und seine Botschaft weltweit bekannt machen? Die Zeitungen zeigen sein Gesicht, nennen seinen Namen und analysieren die Botschaften."

Wie bei Terrorismus stets geht es auch hier darum, "die redaktionellen Medien für die Verstärkung der eigenen Botschaft zu instrumentalisieren", schreibt Spiegel-online-Kolumnist Sascha Lobo, der die spezifische Internetkultur der rechtsextremen Szene untersucht und das Manifest Tarrants liest: "Auch im Jahr 2019 hat ein guter Teil der traditionellen Medien entweder kaum verstanden, dass sie gehackt werden können, oder sich bereitwillig hacken lassen. Die Botschaften des Manifestes vollständig für bare Münze zu nehmen und unkommentiert weiterzutransportieren, ist der sicherste Weg, um auf den Attentäter hereinzufallen und damit Teil seiner Marketingkampagne für weitere Massenmorde zu werden." Lobo verweist auch auf Kevin Rooses direkt nach dem Attentat in der New York Times veröffentlichte Analyse.
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Ideen

Viktor Jerofejew schreibt in der FAZ einen leicht rätselhaften Brief an die Deutschen. Ihr Pazifismus ist ihm unheimlich, angesichts eines russischen Präsidenten, der die Russen für überlegen hält. Aber ihn stört noch mehr: "Auch der 'Verliererkomplex' schwindet. Die Zeit arbeitet gegen ihn, die Erinnerung verliert die Zeugen, sie wird zur historischen Konserve. Deutschland hat den Nazismus von sich abgewaschen und begierig die Erfahrung verschiedener Kulturen aufgesogen, bis die Kultur selbst durch die eigene Krise verkümmert ist. Das geschah ungefähr an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, und wie nach einem Schlaganfall lebt die Kultur jetzt eher aus Gewohnheit, als dass sie ihre Kräfte regenerieren würde."

Außerdem: In der NZZ plädiert der Philosoph Otfried Höffe gegen die Homo-Ehe.
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Internet

Im Interview mit der SZ erklärt der Schriftsteller Cory Doctorow, Mitglied der Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation und des Bloggerkollektivs von BoingBoing, warum die EU-Urheberrechtsreform mit ihren Uploadfiltern Unsinn ist und was man statt dessen tun sollte: "Wir können ein unveräußerliches Recht auf Kompensation von pauschaler Nutzung eines Werkes schaffen. Dann ist es egal, was im Vertrag eines Musikers mit einem Label steht. Universal oder Warner kommen nicht an das Geld ran. Es fließt direkt von der Plattform an den Künstler."
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Europa

Die CDU vollführt eine seltsame Volte in der Frage der Uploadfilter, die der CDU-Politiker Axel Voss auf europäischer Ebene durchgepaukt hatte und die nun auf nationaler Ebene durch pauschale Zahlungen der Plattformen an Urheberverbände verhindert werden sollen. Markus Beckedahl fasst es bei Netzpolitik so zusammen: "In zwei Wochen werden vermutlich die meisten CDU/CSU-Abgeordneten im EU-Parlament für eine Urheberrechtsreform stimmen, die dann Uploadfilter für die EU als gesetzlichen Rahmen bringt. Aber bei der Umsetzung in nationales Recht soll genau das dann alles anders aussehen. Was in den anderen EU-Staaten passiert, ob die dann Uploadfilter bekommen, was das alles für den digitalen Binnenmarkt heißt, ist jetzt vollkommen egal: Hauptsache raus aus der Image-Krise vor der Europawahl."

In der NZZ nimmt Claudia Mäder die Gilet Jaunes aufs Korn und ihre Unterstützer, die sich - von rechts bis links - gern auf die Französische Revolution beziehen. Kein Wunder, dass sich die extremen Seiten immer ähnlicher werden, denkt sich Mäder, denn beide leiden an einer Verklärung des Volks, die schon Robbespierre befallen hatte. "Dass dieses Volk weder im revolutionären Paris noch - geschweige! - in der Provinz eine tugendhafte, gerechte und prorevolutionäre Einheit mit geteiltem Gesamtinteresse bildete, blendete der Mann geflissentlich aus. ... Nein, es drohen heute weder Tötungsmaschinerie noch Tugendterror. Doch im gedanklichen Mechanismus jener Politiker, die gegenwärtig die Gelbwesten beklatschen, ist durchaus Ähnliches zu erkennen wie seinerzeit bei ihren Herolden. Ohne das nunmehr auftretende 'Volk' im Detail zu kennen, wird es für 'progressiv' befunden, auf unhaltbare Weise mit der Gesamtheit der Bevölkerung gleichgesetzt - und in Stellung gebracht gegen jene Eliten und Kräfte, die nicht den 'wahren' Interessen des Landes dienen und sich bloß selber bereichern."

Auch in Frankreich wird über die Frage diskutiert, ob der Antizionismus ein Antisemitismus sein. Ganz und gar nicht dieser Ansicht sind 400 französische Intellektuelle und ein Schweizer (nämlich Jean-Luc Godard), die in einem in Libération veröffentlichen Brief an Emmanuel Macron insistieren, dass der Antizionismus nur eine Meinung sei - Macron erwägt, den Antizionismus auch gesetzlich mit Antisemitismus gleichzusetzen. Leicht höhnisch heißt es in dem Aufruf: "Wir wollen ganz gewiss nicht, dass Sie die Juden Frankreichs und das Gedenken an die extreme Rechte in Israel ausliefern, wie Sie es tun, wenn Sie Ihre Nähe zum Finsterling 'Bibi' und seinen französischen Freunden unterstreichen."

Dabei vergessen diese ehrenwerten Autoren, dass im Moment 5.000 französische Juden jährlich das Land verlassen, um vor muslimischem Antisemitismus zu fliehen, antwortet Albert Lévy ebenfalls in Libération und stellt zwei sehr einfache Fragen zum Begriff des Antizionismus: "Wenn er die legitime Kritik einer Regierung bezweckt, mit der man nicht einverstanden ist, warum nennt man ihn dann Antizionismus? Und wenn er die Existenz und die Legitimität des Staats Israel und seiner Bevölkerung (inzwischen acht Millionen Menschen) in Frage stellt, kann man ihn dann auf eine bloße Meinung reduzieren?"

Wenn in Europa der Antisemitismus wächst, ist das eine Sache, wenn er in Deutschland wächst, ist das noch mal ganz was anderes, meint Sonja Margolina in der NZZ, die der deutschen Regierung vorwirft, im Jahr 2015 ausgerechnet Flüchtlinge aus Ländern ins Land geholt zu haben, wo ein neuer Antisemitismus blühe (während sie auf den Antisemitismus in der neuen Rechten gar nicht eingeht): "Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 wird die Kluft zwischen der institutionalisierten Reproduktion der Erinnerungskultur und der in schnellem Wandel begriffenen Realität immer offensichtlicher. Dank dieser Kluft wird eine bisher kaum wahrgenommene Kehrseite der 'historischen Verantwortung' sichtbar: die negative, aus Schuldbewusstsein gespeiste Identität der Deutschen, die Reduktion der wachsenden weltpolitischen Komplexität auf ein binares Täter-Opfer-Schema und die inflationäre Übertragung eines singulären Zivilisationsbruchs auf andere, oft selbstverschuldete Konflikte und Greueltaten."

Im Interview mit der FR plaudert Wolf Biermann über seinen neuen Novellenband "Barbara", über die Linke und den Mauerfall, den er gern gebührend gefeiert sehen würde: "Es gibt eine geradezu makabre Diskrepanz zwischen dem wirklichen Zustand des deutschen Volkes und dem Selbstbild einiger Klage-Deutschen. Es ging unserem Volk in seiner Geschichte noch nie so gut wie heute - und zwar auf allen Gebieten: Frieden, Wohlstand, Freiheit, Kultur, Rechtsstaat. Noch nie haben Rentner in Ost wie West ein so angenehmes Leben gehabt wie jetzt. Doch wie in einer dialektischen Idiotenreaktion fühlen sich manche, als wäre es ihnen noch nie so schlecht gegangen wie heute. Das ist ein Ausdruck dafür, dass ein Volk, das über Jahrzehnte in einer Diktatur beschädigt wurde, sich nicht so flott erholen, regenerieren kann. Häuser lassen sich eben leichter wieder herstellen als Menschen."
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