9punkt - Die Debattenrundschau

Grundstimmung statt Argument

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.03.2019. In der FR erklärt der Philosoph Harald Seubert mit Blick auf Greta Thunberg, warum Panik hochrational sein kann.  In der Welt wünscht sie die Autorin Anjana Shrivastava mehr Selbstkritik der Städter, die sich der Landbevölkerung so überlegen fühlen. Die NZZ fragt, wie legitim eine verkirchlichte Politik ist, wenn das Religiöse in der Bevölkerung immer weniger eine Rolle spielt. Die SZ blickt bekümmert auf Großbritannien, das einem ungeregelten Brexit so nah ist wie nie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.03.2019 finden Sie hier

Europa

Gestern hat das britische Parlament zum dritten Mal gegen Theresa Mays Brexit-Vorschlag gestimmt. Jetzt droht am 12. April der kalte Austritt ohne Deal. Im Guardian sucht Jonathan Freedland nach Schuldigen. In der SZ weist Stefan Kornelius sanft darauf hin, dass sich britische Hybris zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus der Unterschätzung der EU speiste: "Brüssel trat den Briten als homogener, stets bestens vorbereiteter Apparat gegenüber, eine gewaltige Maschine der Regeln und des Rechts. Recht und Regeln sind es ja auch, die alle 28 Nationen in der Gemeinschaft halten. Die britische Regierung aber glaubte an das freie Spiel der Kräfte, an Sonderabkommen, eine Mitgliedschaft à la carte. Sie unterschätzte die Schlagkraft der Kommission, die im Unterhändler Michel Barnier die Verhandlungen monopolisierte und den Spaltpilz vom Rat der Mitgliedsstaaten fernhielt. Und sie redete sich besoffen über die Aussichten eines neuen Empires. Das aber ist nicht wiederauferstanden."

Vor den Wahlen in der Ukraine ist das Gefühl, nur zwischen Pest und Cholera wählen zu können, mal wieder besonders ausgeprägt, berichtet der Dichter Serhij Zhadan in der FAZ. Gleichzeitig wolle niemand mehr mit dem Gegner reden. Das gelte besonders für die Anhänger der Regierung Poroschenkos: "Ich sehe einerseits positive Ergebnisse der Arbeit in Kiew, besonders wenn ich mit unseren gemeinnützigen Projekten im von den Separatisten befreiten Teil des Donbass unterwegs bin: sanierte Schulen, Kulturhäuser, Kindergärten ... Und dann stoße ich auf diese meiner Meinung nach absolut fatale Weigerung der 'proeuropäischen' Machthaber in Kiew, mit den Wählern in der Ostukraine in Dialog zu treten, um für sie zu kämpfen. Sie überlassen dieses Feld prorussischen Politikern."
Archiv: Europa

Ideen

Seid panisch, rief die schwedische Schülerin Greta Thunberg ihren Mitdemonstrantinnen kürzlich zu. Empört euch, hatte vor einigen Jahren Stéphane Hessel gerufen. Beide haben Recht, meint der Philosoph Harald Seubert in der FR, aber man sollte sie nicht mit den Spaltern von links und rechts verwechseln: "Obwohl hier wie dort eine Grundstimmung an die Stelle des Arguments tritt, besteht eine himmelweite Differenz. Hier das Ressentiment der 'Wutbürger', die von 'Sorge' sprechen, aber Spaltungen meinen, dort die Manifestation einer Panik, die implizit nicht weniger meint als die Erhaltung des begrenzten, aber umfassenden Globus. Der 'panische' Hinweis auf den Notstand kann, angesichts der um sich greifenden politischen Irrationalitäten, eine hochrationale Funktion erfüllen."

Religion oder aus religiösen Vorstellungen gespeiste moralische Werte bestimmen heute immer mehr die Politik, obwohl für über 60 Prozent der Bevölkerung Religion keine Rolle mehr spielt. In der NZZ denkt Maximilian Zech mit Max Weber und Jürgen Habermas über die Folgen nach: "Der liberale Staat dürfe seine Bürger 'nur mit Pflichten konfrontieren, die diese aus Einsicht nachvollziehen können', schreibt Habermas. Darum müssten religiöse Glaubensinhalte, wenn sie nach politischer Umsetzung verlangten, sprachlich und inhaltlich so gestaltet sein, dass sie auch für Andersgläubige und Atheisten plausibel erscheinen - so wie es bereits die Aufklärer gefordert haben. Eben an solcher Übersetzungstätigkeit mangelt es in der gegenwärtigen Debatte. All jene, die aus den christlichen Liebesgeboten eine bestimmte Politik ableiten wollen, müssen sich darum nicht nur die Frage gefallen lassen, wie realistisch diese Forderung ist. Mit welcher Legitimation? Auch darauf müssen sie eine Antwort finden."

Die Spaltungen vieler Gesellschaften heute rührt zum Teil auch aus der immer größer werdenden Kluft zwischen Stadt- und Landbewohnern her, meint die in Berlin lebende amerikanische Autorin Anjana Shrivastava in der Welt. Die Städter sollten es sich dabei nicht allzu gemütlich machen mit der Vorstellung, sie seien die modernen hier und die Bauern die rückwärtsgewandten, meint sie: "Doch heute ist es mit einer Umerziehung der noch vorhandenen Bauern nicht getan. Eher sollten die Städter selbst beunruhigt sein, eher müssen sie sich selbst erziehen. Denn weder die Natur noch die ländliche Gesellschaft liefern heute noch ein unerschöpfliches Reservoir an frischer Luft, Arbeitskraft oder sonstiger frischer Ingredienzien für die Stadt. Vielmehr spiegeln die Verhältnisse auf dem Lande die immer wachsenden Bedürfnisse der modernen Stadt wider, an diesen Bedürfnissen erschöpft sich gerade die Natur und mit ihr das Land selbst".
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Per Leo, Mitautor des Buchs "Mit Rechten reden", dessen Titel sprichwörtlich geworden ist, erklärt im Gespräch mit Thomas Wagner vom Freitag, warum er doch nicht mit Rechten geredet hat, zumindest nicht öffentlich: "Sie waren rattenscharf auf Öffentlichkeit. Sie wollten die Bühne. In unseren Augen war das, wie gesagt, nicht ausgeschlossen; aber wir wollten uns auch nicht unbedacht instrumentalisieren lassen. Für uns stand dabei ja deutlich mehr auf dem Spiel. Für die Rechten war klar, dass sie auf jeden Fall etwas gewinnen, wenn sie diese Bühne bekommen. Da wir sie politisch als Gegner betrachten, stellte sich für uns die Frage: Unter welchen Umständen sind wir bereit, ihnen die Tür zum großen Parkett zu öffnen?"
Archiv: Gesellschaft
Stichwörter: Leo, Per

Überwachung

Horst Seehofer wünscht sich mehr Befugnisse für die Geheimdienste, die mittels Staatstrojanern Daten sammeln. Die EU plant derweil ein Gesetz gegen Terror-Inhalte im Internet, das aller Voraussicht nach noch mehr Uploadfilter voraussetzen wird. Werden wir jetzt immer sicherer? Sabine Leutheusser-Schnarrenberger glaubt nicht daran: "Also wir reden ja immer von Hassreden", erklärt sie im Interview mit der taz, "von Fake News, von Desinformationskampagnen - ja natürlich gefährden die unsere Meinungsbildung. Aber umso mehr muss man doch jetzt, als Einzelner - aber gerade auch als Initiative, Partei, Stiftung und so weiter - dafür sorgen, dass wir dagegen halten. ... Wenn jemand sagt, wir müssen auf die Straße, Muslime machen alles kaputt, die unterwandern uns, der Untergang ist nah, dann kann das ein Delikt der Volksverhetzung sein. Und das ist strafbar. Das Entscheidende ist aber, durch die Existenz der sozialen Netzwerke, dass man sich nur wehren kann, indem man gegenhält. Mit Argumenten."
Archiv: Überwachung

Urheberrecht

In der taz fasst Svenja Bergt die wichtigsten Punkte der EU-Urheberrechtsreform zusammen. Und Ingo Arzt deutet in einem Kommentar ohne den Schatten eines Belegs an, Google könnte die Suchergebnisse im Netz zu Gunsten der Kritik am EU-Urheberrecht manipuliert haben. Die Reform, die Arzt befürwortet und die gerade ohne die geringste Änderungsdiskussion im EU-Parlament durchgewinkt wurde, wünscht er sich vor allem als Anstoß zu weiteren Reformen in Richtung Verstaatlichung des Internets: "Ich schlage vor, in den Uploadfiltern ganz pragmatisch eine Chance zu sehen. Die Macht über künstliche Intelligenz und unsere Timelines liegt doch eh schon im Silicon Valley. Uploadfilter wären die ersten Algorithmen, die unter Beobachtung der Netzgemeinde stünden, statt sich ihnen willenlos zu unterwerfen. Daraus könnte ein neues Bewusstsein entstehen, ein Bedürfnis, auch das Bisherige unter öffentliche Kontrolle zu stellen. Möglich wäre auch, solche Filter mit staatlicher Förderung in Europa zu entwickeln und kleine Plattformen zur Verfügung zu stellen."

Sollte die Unterstützer der Reform gedacht haben, sie könnte sich aus der Kritik wieder rauswinden, indem sie bei der Umsetzung in Deutschland Upload-Filter verbieten, hat EU-Kommissar Günther Oettinger ihnen gerade einen Strich durch die Rechnung gemacht, meldet Zeit online: "'Ich möchte nicht wie ein Lehrer klingen, aber die Richtlinie gibt verbindliche Anforderungen vor und ich erwarte, dass die deutsche Bundesregierung sie erfüllt', sagte der CDU-Politiker Politico. Zugleich räumte er ein, dass Plattformen künftig womöglich zum Filter-Einsatz gezwungen seien, um zwischen legalen und illegalen Inhalten zu unterscheiden."
Archiv: Urheberrecht