9punkt - Die Debattenrundschau

Das Bild eines Landes, das hoffen will

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.04.2019. In der NZZ schreibt Kamel Daoud über die Lage in Algerien: "Ich bin nicht pessimistisch, aber wachsam." Die EU hat die Demontage des Rechtsstaats in Ungarn erst möglich gemacht, schreibt ein Professor Central European University bei Zeit online. Die Welt staunt über Martin Mosebach, der den Papst mit Hitler und Stalin vergleicht. Die Ausstellung "Contemporary Muslims Fashions" hat ein politisches Programm: Sie betreibt die Desolidarierung mit allen Frauen, die sich vom Kopftuch befreien wollen, meinen mena-watch.de und Jungle World.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.04.2019 finden Sie hier

Europa

"Ungarn ist verloren", schreibt ein ehemaliger Professor der Central European University (CEU), der seinen Namen nicht verraten will (die Redaktion kennt ihn aber), auf Zeit online. Der Autor macht vor allem der EU schwere Vorwürfe, dass sie trotz jahrelanger fortgesetzter Rechtsbrüche in dem Land nie intervenierte. "Mit seinem aktuellen Rechtssystem und Staatsstrukturen hätte Ungarn bei Beitrittsverhandlungen keine Chance."  Ohne die EU hätte Orban in der Demontage des Rechtsstaat gar nicht so weit kommen können, so der Autor: "Der Staat ist ganz auf EU-Subventionen, ein paar deutsche Firmen und offene Grenzen gebaut, die es jedem mit abweichenden Meinungen leicht machen zu gehen. Die EU hätte Ungarns Demokratie, Kultur und Gesellschaft einen großen Dienst erwiesen, wenn sie rechtzeitig Subventionen gestrichen hätte, vielleicht als die Pressefreiheit im Jahr 2011 abgeschafft wurde und faire Wahlen unmöglich wurden."
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Überwachung

Auf sueddeutsche.de stellt Jannis Brühl das geplante neue IT-Sicherheitsgesetz von Innenminister Seehofer vor. Danach sollen Verdächtige unter Androhung von Beugehaft gezwungen werden können, online-Passwörter herauszugeben, damit die Polizei ihre Konten übernehmen kann. Bisher gab es dafür keine Rechtsgrundlage, weil niemand bei Ermittlungen gegen sich helfen muss, so Brühl: "Das soll sich nun ändern. Strafverteidiger Udo Vetter hält das für einen 'krassen Systembruch und eine der weitest gehenden Aufweichungsversuche der Bürgerrechte überhaupt'. Er sagt: 'Es könnte also künftig dazu kommen, dass jemand wegen der schlichten Weigerung, ein Passwort herauszugeben, in Haft genommen wird.' Auch Zeugen könnten bislang die Herausgabe verweigern, wenn sie befürchteten, sich dadurch verdächtig zu machen. Thomas Stadler, Fachanwalt für IT-Recht, hält die Passage für 'verfassungsrechtlich höchst problematisch', weil sie den Grundsatz gegen Selbstbelastung schwächen würde."
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Religion

Martin Mosebach, um einiges konservativer als der führende Katholik Franziskus, hat laut Welt in einem Interview mit der Herder Korrespondenz die Auftritte des Papstes kritisiert, die ihn an Stalin und Hitler erinnern: "Wenn bei großen Papstveranstaltungen, etwa in einem Fußballstadion, heute 'Zigtausende auf eine einzelne weiße Gestalt in der Mitte ausgerichtet sind, das ist eine viel totalitärere Sprache als das umständliche, verstaubte Hofzeremoniell von einst', so Mosebach weiter. Das Küssen und Liebkosen von Kindern gehöre ebenfalls zum Ritual der modernen Diktatoren, ergänzte Mosebach." Dass es Mosebach nur um die Inszenierung geht, kauft ihm der Vatikanjournalist Bernd Hagenkord in seinem Blog nicht ab: "Warum der Vergleich falsch und total unangemessen ist? Ganz einfach: man kann die Darstellung nicht vom Dargestellten trennen. Mosebach rückt ganz absichtlich und ohne es auszudrücken den Papst in eine Linie mit Mördern und Verbrechern."
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Politik

In Algerien haben die Demonstranten es geschafft, Präsident Abdelaziz Bouteflika aus dem Amt zu vertreiben. Wer soll ihm folgen? Nachfolger, die mit dem System verknüpft sind, kommen für die Demonstranten ebenfalls nicht mehr in Frage. Bei den Jüngeren sind die Islamisten fast genauso verhasst, wie die Vertreter der korrupten alten Garde, zu der sie zum Teil ja sogar gehören. Die mittlere Generation ist dagegen mit ihnen aufgewachsen, beschreibt der Schriftsteller Kamel Daoud in der NZZ die Situation. Dazu komme der durch die immense Korruption völlig zerstörte Glaube, mit Leistung etwas erreichen zu können: "So ergibt sich das Bild eines Landes, das hofft, das hoffen will - dem es aber an Führungspersönlichkeiten fehlt und dessen Erdölreichtum den Unternehmergeist hemmt und stattdessen Abhängigkeiten und Korruption generiert. Ich bin nicht pessimistisch, aber wachsam. Jeden Freitag, wenn ich bei den Demonstrationen mitmarschiere oder sie von fern beobachte, durchlebe ich das Wechselbad zwischen vorsichtiger Hoffnung und Furcht angesichts der giftigen Internet-Attacken gegen Frauen; zwischen dem Lachen über den Mutterwitz meiner Landsleute, der auf den Spruchbändern seine Blüten treibt, und dem trotzigen Willen, mir diesen Moment nicht durch die Islamisten entreißen zu lassen."
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Internet

Bald ein Jahr nach Inkrafttreten der Datenschutzgrundverordnung hat sich für die Internetnutzer wenig geändert und die Betreiber von Websites sind nach wie vor verunsichert, berichtet Leonie Schöler in der taz. Immer noch fühlten sich viele nicht genug informiert und verunsichert: "Die aufgeregte Berichterstattung habe die Öffentlichkeit weiter gespalten und zum Unmut und Misstrauen gegenüber der DSGVO beigetragen, sind sich Expert*innen einig. Ein Sprecher des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber meint, dass vor allem 'Pseudoskandale und Fehlinformationen' in den Medien dazu geführt hätten, dass 'das Image der DSGVO zu Unrecht gelitten hat'. Dabei sei die Verordnung insbesondere aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher eines der 'wichtigsten Gesetze der letzten Jahre'."

Tobias Schmid antwortet in der FAZ auf ein Papier Mark Zuckerbergs, der neulich mehr Regulierung im Netz forderte (unsere Resümee) und bewirbt sich in seiner Eigenschaft als Direktor der Landesanstalt für Medien NRW schon mal als zuständiger Behördenleiter: "Die Medienaufsichtsbehörden in der Bundesrepublik ebenso wie in den europäischen Nachbarstaaten nehmen diese Aufgabe überall dort, wo sie eine rechtliche Grundlage haben, inzwischen verstärkt wahr."
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Gesellschaft

Anetta Kahane polemisiert in ihrer FR-Kolumne gegen die These der Migrationsforscherin Naika Foroutan, es gebe so etwas wie Rassismus gegen Ostdeutsche (unsere Resümees): "Sich diskriminiert fühlen und diskriminiert werden sind sehr verschiedene Dinge. Rassismus ist Alltag, die Benachteiligung Ostdeutscher ist sozial - also nicht so unveränderlich wie Hautfarbe oder Name bei Migranten. Aber auch Migranten und antirassistische Gruppen machen die Identitätsreiterei mit. Wenn ihr Ziel nicht in der Idee von Gleichwertigkeit liegt, bei der jede Abwertung geächtet wird, also die von Migranten ebenso wie die durch Migranten, dann finde ich sie ebenso nervend wie fehlgeleitet."

Es gibt auch andere Stimmen zur Frankfurter Ausstellung "Contemporary Muslims Fashions". Natürlich, man kann diese sogenannte "modest fashion" auch "züchtig" nennen, statt "modest" mit "maßvoll" oder "dezent" zu übersetzen, wie es Kolja Reichert von der FAS oder der Ausstellungsmacher Matthias Wagner K bevorzugen (unsere Resümees), aber "das klingt ja nicht nur etwas altväterlich, es weist auch unangenehm deutlich darauf hin, dass dort, wo es züchtige und sittsame Kleidung gibt, es logischerweise auch unsittliche und unzüchtige Kleidung geben muss", meint Oliver M. Piecha bei mena-watch.de, "sonst würde das Unterscheidungskriterium 'modest' gar keinen Sinn ergeben. Aber dann wäre man ja schon wieder halb in so einer hässlichen politischen Diskussion über den Islam, den Kopfbedeckungszwang und all das, wo man doch lieber über 'Halal Mode' als Gegensatz zur 'Fast Fashion' sprechen möchte." Leider muss Piecha auch nach Lektüre des Katalogs den eminent politischen Charakter dieser so harmlos tuenden Schau bestätigen: "Der Zwang zur Verschleierung ist wie gesagt nur eine Fußnote, Frauen, die damit zu kämpfen haben, kämpfen offensichtlich den falschen Kampf."

Das Bild zeigt laut Piecha ein iranisches Propagandaplakat für den Hidschab. Auf dem ausgepackten Bonbon landen die Fliegen.


Dass die Ausstellung klar ein politisches Programm vertritt, meint auch Alexandra Colligs in der Jungle World: "'Contemporary Muslim Fashions' normalisiert und etabliert eine Praxis als muslimische Mode, die religiösen Bedeckungsgeboten folgt, wodurch die, die sich nicht so kleiden, als Abweichlerinnen erscheinen. Die Ausstellung macht Politik für einen konservativen Islam und für die privilegierte Gruppe derer, die sich entscheiden können, das Kopftuch zu tragen oder auch nicht."

In der Welt versteht Alexander Jürgs die Debatte nicht: "Dezente" Mode, wie er es nennt, ist doch "ein Riesengeschäft, das sich niemand entgehen lassen will."

In der SPD darf sich kein Arbeitskreis säkularer SozialdemokratInnnen gründen (unsere Resümees). Daniela Wakonigg unterhält sich bei hpd.de mit Adrian Gillmann, dem Ko-Vorsitzenden des potenziellen Arbeitskreises, der nichts auf seine Partei kommen lässt: "Wir haben auch Mandats- wie FunktionsträgerInnen, die uns unterstützen. Zugegeben noch nicht alle so offiziell, wie wir uns das wünschen, aber alles braucht seine Zeit."

Würde eine gendergerechte Sprache zu mehr Gleichberechtigung führen? Der Linguist Josef Beyer bezweifelt es in der NZZ stark, Umbenennungen hätten noch nie geholfen: "Ein Altenheim, das in Seniorenstift umbenannt worden ist, bleibt für die Insassen weiterhin ein reichlich tristes Ambiente."
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