9punkt - Die Debattenrundschau

Wie Kerzen auf einem Friedhof

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2019. Rassismus gegen Ostdeutsche? In der Welt antwortet ein wütender Richard Schröder auf die These der Migrationsforscherin Naika Foroutan. Britannien wird den Brexit schon verkraften, meint Timothy Garton Ash in der SZ, mehr Sorgen macht er sich um den Rest der EU. In der Zeit vergleicht sich Philipp Ruch mit Amnesty (und gewinnt). Im Standard erklärt der Philosoph Rudolf Burger, warum er die Ringparabel für gefährlich hält. Außerdem: Ein schwarzes Loch grinst uns an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2019 finden Sie hier

Europa

Heute morgen hat man sich also auf die "Halloween-Deadline" bis zum 31. Oktober für den Brexit geeinigt, verhandelt wurde bis 2 Uhr nachts, berichtet unter anderem politico.eu. Emmanuel Macron habe heftig für eine kurze Verlängerung bis 30. Juni plädiert und sei dabei von Theresa May unterstützt worden. "Da eine starke Mehrheit anderer Staatsführer, darunter Angela Merkel, gegen ihn stand, gab er schließlich nach.  Es gelang ihm aber die von anderen EU-Offiziellen vor dem Treffen vorgeschlagene einjährige Verlängerung um ein halbes Jahr zu verringern."

"Es gab immer diesen englischen Nationalismus und der bricht sich jetzt wieder sehr stark Bahn", sagt im SZ-Interview mit Cathrin Kahlweit der britische Historiker Timothy Garton Ash, der noch leise Hoffnung in die proeuropäische Bewegung setzt und sich mehr um Europa als um Großbritannien sorgt: "Wenn man Großbritannien aus dem komplizierten Beziehungsgeflecht mit Deutschland und Frankreich herausschält, aus der Balance von Nord und Süd, Ost und West, dann wird sich die Balance im Rest der Union verändern. Die Angst der Nordländer vor dem 'Club Med' oder anderer vor einer Achse Berlin-Paris wird ein Ungleichgewicht verstärken, das negative langfristige Folgen hätte. Großbritannien wird sich vom Brexit erholen. Aber ich bin nicht sicher, ob die EU langfristig besser dran sein wird." Wird uns Britannien den Brexit je verzeihen?

Außerdem: In seiner FAZ-Kolumne erkundet Bülent Mumay erkundet, was es für Erdogan bedeutet, "Istanbul verloren zu haben, wo er vor 25 Jahren mit dem Regieren begann".
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Wissenschaft

Gestern präsentierten die Forscher des Event Horizon Telecopes das erste Foto, das je von einem schwarzen Loch aufgenommen wurde. Foto von der Website der Einrichtung. 


Ein schwarzes Loch grinst uns an! Erstmals gibt ein Foto Aufschluss über unser aller Ereignishorizont. Sibylle Anderl erläutert in der FAZ nochmal, worum es sich handelt: "Nach Einstein krümmen Massen die Raumzeit. Bei extrem kompakten Massen kann die Krümmung so groß werden, dass eine Region entsteht, aus der nichts, nicht einmal Licht, entkommen kann. Unsere Erde würde so zu einem Schwarzen Loch, wenn man sie auf eine Kugel zusammenpresste, deren Radius dem einer Zwei-Cent-Münze entspricht." Hier der Link zum Event Horizon Telescope.
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Stichwörter: Schwarze Löcher

Gesellschaft

Alles nur "Theaterdonner" entgegnet in einem wütenden Welt-Essay der ostdeutsche Philosoph und evangelische Theologe Richard Schröder der These der Migrationsforscherin Naika Foroutan, Ostdeutsche und muslimische Migranten seien demselben Rassismus der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. (Unsere Resümees). "Die ehemalige DDR, heute Ostdeutschland genannt, hat unter allen ehemals sozialistischen Ländern das große Los gezogen", schreibt er und hält den Vergleich für "abwegig": "Ostdeutsche und Westdeutsche verbindet dieselbe Sprache, dieselbe Geschichte, die lediglich 40 Jahre getrennt verlief, aber auch dieselbe Kultur einschließlich der Trivialkultur von Songs und Schlagern oder etwa der Mode. Uns trennen auch keine Speisevorschriften. Nur hinsichtlich der Christlichkeit gibt es markante, aber wohl doch eher quantitative Unterschiede, wenn wir Hamburg mit Leipzig vergleichen. Muslime dagegen haben nicht 40, sondern 1500 Jahre eine andere Kultur entwickelt und auch sich selbst als das andere gegenüber dem christlich geprägten Europa verstanden, das zu unterwerfen unbedenklich erschien. Zweimal standen die Osmanen vor Wien, und Erdogan preist die Eroberung des christlichen Konstantinopel."

So schnell wendet sich das Blatt: Nachdem die Ermittlungen gegen das "Zentrum für politische Schönheit" eingestellt wurden, erhärtet sich die Kritik gegen den mutmaßlich AfD-nahen Staatsanwalt Martin Zschächner, wie Matthias Meissner im Tagesspiegel resümiert: Der nordrhein-westfälische Linken-Bundestagsabgeordnete Niema Movassat hat wegen des Verfahrens gegen das ZPS nun Strafanzeige wegen Rechtsbeugung erstattet und Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht, so Meissner. Und: "Kommilitonen von Zschächner aus Heidelberg erinnern sich an ihn als jemand, bei denen allen 'sonnenklar gewesen' sei, dass er schon in der Studienzeit 'rechtsaußen' gestanden habe. Der Rechtsanwalt Kim Manuel Künstner aus Frankfurt am Main twitterte: 'Ach Du Sch... Der hat mit mir in Heidelberg studiert. Wir nannten ihn nur den 'Jura-Nazi'. Wer hat denn den zum Staatsdienst zugelassen? Jemanden, der nur 50 Prozent so links ist wie der rechts, würde man nie einstellen.'"

Im Interview mit Ijoma Mangold in der Zeit erklärt Philipp Ruch sein "Zentrum für politische Schönheit" zur Konkurrenz von Amnesty International: "Die Politik hat die Menschenrechte vor Jahrzehnten an den zivilgesellschaftlichen Sektor wegdelegiert. Dort sind sie in der zittrigen Hand von Amnesty International. Meine Oma spendet dort immer fleißig Geld hin und glaubt: Die tun was! Wenn ich ihr dann erkläre, dass Amnesty in keinem Land, das im Diktaturen-Ranking ganz oben auftaucht, auch nur ein Büro betreibt, ist sie etwas überrascht."

Impfpflicht und Organspende sind keineswegs Privatsache, entgegnet Johan Schloemann im Aufmacher des SZ-Feuilletons jenen, die kritisieren, der Staat greife zu sehr in die Autonomie der Bürger ein: "Der demokratische Staat, in dem formell alle die gleichen Rechte haben, ist ein Zwangssystem zur Ermöglichung von Freiheit. Über die Mittel, mit denen man die Rahmenbedingungen zur Entfaltung dieser Freiheit schafft, ja, worin diese überhaupt besteht, wird heiß gestritten, sonst wäre es ja keine Demokratie. Aber ohne Eingriffe des demokratischen Staates in die persönliche Freiheit, die zur Verbesserung allgemeiner Zustände beitragen, und damit auch wieder zu mehr Freiheit, kommt auch die liberale Ordnung nicht aus." Schloemann wünscht sich außerdem "Tempolimit, Plastikverbot, Begrenzung von Flugstunden, Fahrverbote, weniger Düngung, teurere Lebensmittel" etc.

Im Interview mit Harry Nutt (Berliner Zeitung) unterstützt auch der Schriftsteller David Wagner, selbst Empfänger einer gespendeten Leber und für seinen Organspende-Roman "Leben" 2013 mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet, die von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vorgeschlagene Widerspruchsregelung.
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Internet

Wikipedia verzeichnet einen "Mitarbeiter"-Schwund von einst 13000 auf knapp 6000, immer mehr Artikel sind veraltet, konstatieren in der NZZ die Philosophin Anna-Verena Nosthoff und der Wirtschaftswissenschaftler Felix Maschewski: "Die Wikipedia-Gemeinde scheint sich nach einer starken, etwas anarchischen Wachstumsphase um das Jahr 2007 und den darauffolgenden regulatorischen Anpassungen zu einem recht hermetischen, fast hierarchischen Zirkel entwickelt zu haben. Aufgrund höherer Qualitätsstandards und verschärfter Regeln gelingt es neuen Autoren nur schwer einzusteigen, geschweige denn sich für administrative Aufgaben zu empfehlen. Nicht selten werden neu erstellte Artikel - mit Blick auf Verschwörungstheorien oder PR-Content durchaus begründet - abgelehnt, Änderungen recht willkürlich widerrufen oder editorische Arbeiten in end- und fruchtlose Debatten gewendet. "
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Religion

Zum gleichen Schluss wie der Vatikanjournalist Bernd Hagenkord, der nach Martin Mosebachs Interview mit der Herder Korrespondenz schrieb, Mosebach rücke Franziskus Auftritte ganz absichtlich in eine Linie mit Hitler und Stalin (Unser Resümee), kommt heute in der Welt der Germanist Karl-Heinz Göttert: "Hat Mosebach Papst Franziskus mit Hitler und Stalin verglichen? Direkt nicht, er spricht ja nur von Stilmitteln, die sich gleichen. Nur muss man bedenken: Wenn man es allein so versteht, läuft die Aussage auf eine bloße Banalität hinaus - die man dem Träger des Büchnerpreises kaum abnimmt." In der FAZ wendet sich Patrick Bahners gegen die "Schäbigkeit von Mosebachs Kritikern". Was Mosebach sage, sei auf dem Stand der Forschung.

Glücklicherweise hat der emeritierte Papst Benedikt XVI. jetzt wenigstens die Ursache für den sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche gefunden, meldet der Deutschlandfunk: "Ursache sei die Gottlosigkeit und die Abkehr von der katholischen Sexualmoral im Zuge der 68er Revolution." Benedikt äußert sich in einem Schreiben, das mit Franziskus abgesprochen sei.
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Ideen

Der Philosoph Rudolf Burger, ein Kritiker der Flüchtlingspolitik von 2015 in Deutschland und Österreich, hält im Gespräch mit Ronald Pohl vom Standard daran fest, dass Multikulturalität "ein Spiel mit dem Feuer ist. Dass der moderne, säkulare Flächenstaat als Neutralisierungsinstanz entstanden ist: in einer Periode, in der ununterbrochen konfessionelle Kriege getobt haben, in ganz Europa. Die Berufung auf irgendwelche transzendenten Wahrheiten hat die Sache nicht befriedet, im Gegenteil. Und deshalb halte ich die Botschaft von Lessings Ringparabel im Grunde für gefährlich. Der Muslim, der Christ und der Jude, und jeder der drei glaubt, sein Ring sei der richtige. Das ist genau das Problem, nicht die Lösung!"
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Medien

Viktor Orban schafft sich seine eigene Presseagentur, berichtet Blaise Gauquelin in Le Monde. Die Agentur namens V4 Agency solle den "konservativen" Standpunkt der Länder der Visegrad-Gruppe widerspiegen und Agenturen wie Reuters und AFP Konkurrenz machen. Sie "publiziert ihre Informationen zur Zeit auf Englisch und Ungarisch und will ihre Berichterstattung ausdehnen. Mit Basis in London verfügt sie über eine Redaktion von fünfzig Journalisten mit Korrespondenten in Paris, Brüssel, Berlin und im Balkan."

Während überregionale Zeitungen wie die New York Times oder die Washington Post in den USA von ihrer Trump-kritischen Berichterstattung profitieren, kämpfen die regionalen Zeitungen in den USA ums Überleben, schreibt Karl Doemens in der FR: "In kleineren Gemeinden ist die Lage längst dramatischer. In einer Untersuchung hat die Universität von North Carolina festgestellt, dass inzwischen 171 Landkreise in den USA ganz ohne Lokalzeitung auskommen müssen - mit negativen Folgen für die Berichterstattung über die örtliche Politik, das Kulturleben und die Probleme von Minderheiten. In der Hälfte aller Bezirke gibt es nur noch ein Blatt und damit keine Konkurrenz. 'Die Nachrichtenwüste wächst', stellen die Wissenschaftler nüchtern fest. Ihre Arbeit haben sie im Netz mit einer interaktiven Karte illustriert, auf der markiert ist, wo in den vergangenen 15 Jahren eine Lokalzeitung eingestellt wurde. Die 1800 gelben Punkte wirken wie Kerzen auf einem Friedhof."
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