9punkt - Die Debattenrundschau

Notre Dame du Peuple

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.04.2019. Ein Funke, ein Feuerzeug, ein schon abgestellter, aber noch heißer Schneidbrenner können das Feuer in Notre Dame ausgelöst haben. 850 Jahre Geschichte sind in vier Stunden abgebrannt, klagt der Notre-Dame-Organist Olivier Latry in Le Monde - der immerhin froh sein kann, dass seine Orgel noch heil ist. In der NZZ fragt der Soziologe Rainer Schützeichel, ob alles so wiederaufgebaut werden soll, wie es war. Außerdem: Netzpolitik und Golem fragen nach den Folgen der EU-Urheberrechtsreform.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.04.2019 finden Sie hier

Europa

Die Titelseite von Libération, die wie immer die besten Fotos zum Thema bringt.
Brandstiftung scheint es nicht gewesen zu sein. Ein Funke, ein Feuerzeug, ein schon abgestellter, aber noch heißer Schneidbrenner können das Feuer in Notre Dame ausgelöst haben, sagt Richard Marlet ehemals Leiter der auf solche Untersuchungen spezialisierten Polizeistelle in Paris im Interview mit Nicolas Chapuis von Le Monde: Er ist relativ optimistisch, dass die Ursache für das Feuer gefunden werden kann. Die Experten "werden auch versuchen herauszufinden, ob das Feuer lange gebrütet hat oder nicht. Es ist wie in einem Kamin: Wenn Sie versuchen einen Scheit mit einem Streichholz anzuzünden, wird das nicht funktionieren. Man braucht einen Brennstoff wie Papier oder Kleinholz, der es erlaubt, die Temperatur so weit ansteigen zu lassen, dass der Flammpunkt des Scheits erreicht wird. Man wird also herausfinden müssen, was die Temperatur so weit hat ansteigen lassen, um das Eichenholz des Dachstuhls in Brand zu versetzen." Marlet will aber die Möglichkeit von Brandstiftung noch nicht völlig ausschließen und sagt eine sehr lange Untersuchung voraus.

Die berühmte Orgel von Notre Dame wurde zum Glück nicht beschädigt. Der Organist der Kirche, Olivier Latry, kann seinen Schmerz im Interview mit Marie-Aude Roux von Le Monde dennoch nicht verbergen: "Diese Kathedrale hat achteinhalb Jahrhunderte lang den Wechselspielen der Geschichte, den Revolutionen und Kriegen widerstanden. Und nun sind 850 Jahre innerhalb von vier Stunden in Flammen aufgegangen. Wegen einer Nachlässigkeit. Es hilft nicht, an vorherige Fälle zu denken, die Kathedrale von Nantes, die vor vierzig Jahren aus dem gleichen Grund brannte, La Fenice in In Venedig, das Hôtel Lambert. Das Feuer ist unter dem Spitzturm ausgebrochen, der gerade restauriert wurde: Es ist sicherlich menschliches Versagen."

Sollte das Zerstörte genauso aufgebaut werden, wie es war, fragt der Soziologe Rainer Schützeichel in der NZZ. Es geht nicht darum, Notre Dame als Mahnmal stehenzulassen, sondern "Wunden zu heilen", antwortet er selbst: "Dabei aber sollte man nicht auf ein Imitat des Verlorenen verfallen, wie dies etwa in Dresden bei der Frauenkirche - ohne Frage auch ein Kirchenbau von hohem Symbolwert - geschehen ist. Es wäre vielmehr angebracht zu fragen, wie die Geschichte von Zerstörung und Neuaufbau im Bauwerk selbst erzählt oder zumindest dokumentiert werden kann, ohne dabei in motivische Geschwätzigkeit zu verfallen."

Die SZ-Korrespondentin Laura Weißmüller zitiert die Bauhistorikerin und Architektin Elke Nagel zur Frage des Wiederaufbaus: "Natürlich habe man heute technisch die Möglichkeiten, Notre-Dame zu rekonstruieren. Das Gebäude ist bestens dokumentiert und erforscht, auch dürften industrielle Fertigungstechniken wie die 3-D-Modellierung von Steinquadern den Bauprozess beschleunigen. 'Doch das Gesamtkunstwerk Notre-Dame mit all seinen Bauschichten ist nicht wiederholbar. Es wird nie mehr so werden, wie es einmal war', so Nagel." Eine Rekonstruktion solle auch nicht verbergen, dass sie eine sei.

Notre Dame ist in Frankreich nicht nur ein religiöses Symbol, schreibt Joseph Hanimann in der SZ: "Auch geografisch ist Notre-Dame aber so etwas wie das Herzstück ganz Frankreichs. Auf dem Platz davor ist eine Rosette in den Boden eingelassen, von deren Mittelpunkt aus in alle Himmelsrichtungen die Distanzen der Städte und Dörfer bis an die Ränder des Landes gemessen werden. Der französische Zentralismus hat darin seine materielle Ausprägung gefunden."

Der Wiederaufbau sollte ein europäisches Projekt werden und nicht allein von spendenfreundlichen Milliardärsfamilien finanziert werden, berichtet Zeit online mit Agenturen: "Eine internationale Geberkonferenz soll nun Geld für den angestrebten Wiederaufbau sammeln. Einen entsprechenden Vorschlag verkündete die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo per Twitter. Sie wolle die Spenderkonferenz im Rathaus von Paris veranstalten, um die notwendigen Mittel für den Wiederaufbau der Kathedrale zusammenzubekommen."

Dankwart Guratzsch von der Welt scheint bei Ereignissen wie diesem tatsächlich noch etwas von den öffentlich-rechtlichen Sendern zu erwarten, statt gleich zu BBC und CNN zu zappen. Natürlich liefen auf ZDF nur und ARD nur die üblichen Tierdokus und Talkshows: "In Paris stand eines der Symbolbauwerke des Abendlandes in Flammen - den öffentlichen Sendern war es keine Sondersendung wert. Sie handelten es in ihren Nachrichten wie den Brand in einem Reifenlager oder einer Textilfabrik ab. Das also ist die Europa-Idee, die in diesen Anstalten transportiert wird."

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Am Ostersonntag tritt in der Ukraine der Komiker und Präsidentendarsteller einer Fernsehserie Wolodymyr Selenskyj gegen den amtierenden Präsident Petro Poroschenko zur Stichwahl um das Präsidentenamt an. In der FAZ findet Oksana Sabuschko das nicht lustig. "Wolodymyr Selenskyjs Karriere ist nichts als das Produkt des russischen Showbusiness, das bis zur Einführung der Quoten für russische Sendungen 2015 die ukrainischen Fernsehkanäle vollkommen dominierte. Natürlich sind die fünfeinhalb Millionen Menschen, die im ersten Wahlgang für Selenskyj gestimmt haben, nicht so naiv, dass sie eine Fernsehfigur nicht von einem Menschen unterscheiden können. Allerdings wird während des gesamten offiziellen, als separate Fernsehshow gestalteten Wahlkampfs kontinuierlich daran gearbeitet, die Grenzen zwischen Rolle und Person zu verwischen."
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Kulturpolitik

Könnten wir mal damit aufhören, die Frage der Restitution afrikanischer Kulturschätze über die Köpfe afrikanischer Museumsleute hinweg zu führen, bittet der Ethnologe Raphael Schwere in der NZZ. Es gebe nämlich durchaus gut funktionierende Museen in Afrika und sachkundiges Personal: "Afrikanische Museen verdienen die längst überfällige Anerkennung als Teile einer zeitgenössischen, eigenständigen und erfolgreichen Museumslandschaft - und dies unabhängig von der Restitution von Raubgut, die am Ende wahrscheinlich eine juristische Angelegenheit sein wird. Afrikanische Museen bieten reale, lokal kalibrierte Zukunftsvisionen. Sie sind Inspirationsquellen und könnten so manchen europäischen Museen, auf hiesige Gesellschaften übersetzt, zum Vorbild gereichen. Durch die derzeitige, in herkömmlich paternalistischer Manier oft über die Köpfe dieser Schlüsselakteure hinweg geführte Debatte und durch die Verengung des Restitutionsbegriffs auf das Retournieren vergibt man entscheidende Chancen für eine Korrektur früheren Verhaltens gegenüber Afrika und für einen Dialog ebenbürtiger Partner auf Augenhöhe."
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Ideen

Ilija Trojanow fordert in seiner taz-Kolumne eine Rückkehr der Utopien - wegen einer Umkehrung der Verhältnisse: "'Keine Generation darf künftigen Generationen zuliebe geopfert werden.' Die Lage hat sich völlig umgedreht. Durch den ökologischen Kahlschlag opfern wir zukünftige Generationen dem parasitären Wohlergehen der heute Gedeihenden. Wenn Popper der Utopie misstraute, weil sie im Interesse der Zukunft handele, so ist heute der herrschenden Alternativlosigkeit zu misstrauen, weil sie die Gegenwart auf Kosten der Zukunft privilegiert."

Heteros sind so was von out. Statt dessen sollte die deutsche Linke am queeren Wesen genesen, fordert die Journalistin Eva-Maria Tepest in der taz: "Das Einverständnis mit traditionellen Genderrollen zerbröckelt immer mehr, während das Versprechen der Heterosexualität immer weniger überzeugt. Denn mit Donald Trump, Jair Bolsonaro und Viktor Orbán verwirklichen alte weiße Männer ihre wahnhaften Vorstellungen von autoritärer Männlichkeit zum Leidwesen von Frauen, Queers, Armen und Schwarzen Personen."
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Gesellschaft

Auf Zeit online hat Ramona Raabe kein Problem mit der Frage, woher kommst du. Schon richtig: "Den meisten, die munter drauflosfragen, scheint nicht bewusst zu sein, dass ein sichtbarer Migrationshintergrund sich nicht verstecken lässt ... Aber wieso sollte unser eigenes kulturelles oder nationales Selbstverständnis durch eine einfache Frage so leicht angreifbar sein? Wir ethnisch pluralen, bunten, auch deutschen Menschen mit Migrationshintergrund können mit allem Recht unsere Zugehörigkeit unumstößlich voraussetzen - weil wir es sind, die das Beispiel leben und zwar schon seit Jahrzehnten."
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Stichwörter: Migrationshintergrund

Urheberrecht

Die EU-Urheberrechtsreform ist durch. Nun geht es um die nationale Umsetzung, schreibt Leonhard Dobusch bei Netzpolitik, der auf ein liberaleres Zitatrecht in Deutschland hofft. "In Deutschland sind die Grenzen des Zitatrechts äußerst eng gezogen. Erforderlich für ein rechtmäßiges Zitat ist, dass es als 'Erörterungsgrundlage' für eigene Ausführungen dient ('Belegfunktion') sowie der Umfang eines Zitats im Vergleich zur Länge des zitierenden Werks gering sein muss. Hinzu kommt, dass das Zitatrecht je nach Werksform - Bild-, Musik- oder Textzitat - unterschiedliche Maßstäbe anlegt."

Friedhelm Greis versucht bei Golem Bilanz zu ziehen über die Niederlage der Netzkaktivisten gegen die "Internetgegner". Der Geschmack ist bitter: "Die fehlende Evaluierung des Leistungsschutzrechts ist leider ein Beispiel dafür, dass die Debatte über die Urheberrechtsreform möglichst faktenfrei geführt werden sollte. Die 'postfaktische Politik' gibt es leider nicht nur unter US-Präsident Donald Trump. Resultate, die den Reformbefürwortern nicht ins Konzept passten, wurden systematisch unterdrückt. Mahnungen und Kritik von Wissenschaftlern wurden komplett ignoriert. Das galt leider auch für die EU-Kommission."
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Internet

Vor dreißig Jahren hat Tim Berners-Lee das World Wide Web erfunden, das er jetzt gerne neu justieren würde. Evgeny Morozov - man ahnt es - glaubt nicht daran, verkündet er in der NZZ. Bevor Berners-Lee neue Tools entwickelt, möchte Morozov in der NZZ nämlich erst mal festlegen, wer künftig noch was darf: "Es gibt keine digitale Ermächtigung ohne politische Ermächtigung - und die ist nur zu haben, wenn wir uns das World Wide Web nicht mehr als Medium oder Tool denken, sondern als Träger von Infrastrukturen, dank denen wir besser leben, arbeiten und kooperieren können. Zunächst brauchen wir eine Politik für diese Infrastrukturen, die auch Aspekte wie deren politische Ökonomie, die Besitzverhältnisse und die Verteilung der Risiken zwischen diversen öffentlichen und privaten Akteuren einbegreift. Erst dann können wir uns der profaneren Aufgabe zuwenden, die richtigen Mechanismen und Plattformen zu finden, um alle Bestandteile in eine gemeinsame Struktur einzubinden."
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