9punkt - Die Debattenrundschau

Alles richtig gemacht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2019. Spanien ist nicht so dunkel, wie Deutsche und die Vox-Partei es gerne hätten, ruft in der Welt der Schriftsteller Antonio Muñoz Molina. Die taz erkennt in der Frage der gendergerechten Sprache: Nicht korrekt setzt sich durch, sondern schön. Die SZ erklärt dennoch, wie der stimmlose glottale Plosiv gebildet wird. Die FAZ staunt, was es sich New Yorker kosten lassen, in ihrem schicken Shed mal neben einem echten Arbeiter zu sitzen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2019 finden Sie hier

Europa

Im Welt-Interview mit Jennifer Wilton wehrt sich der Schriftsteller Antonio Muñoz Molina gegen sämtliche besonders gern in Deutschland gepflegte Spanien-Klischees: Inquisition, Dunkelheit und ewiger Franquismo: "Das Erstaunliche, das Gute an Spanien ist doch, dass es sich so sehr verändert hat seit dem Ende der Diktatur 1975. Das Spanien meiner Kindheit und Jugend war ein intolerantes Land, in dem Frauen keine Rechte hatten und Homophobie selbstverständlich war. Heute ist es frei, mit einer der stärksten feministischen Bewegungen überhaupt. Aus einem Land von Emigranten - die Generation meiner Eltern wanderte in den 1950er-, 60er-Jahren millionenfach nach Deutschland oder Frankreich aus - wurde ein Land, in das Leute immigrieren. Spanien hat in den vergangenen Jahren Millionen Migranten aufgenommen und ist damit vergleichsweise gut klargekommen. Ich habe die Hoffnung, dass wir nicht nur in dem Punkt rational bleiben." Auf Politico gibt Guy Hedgecoe einen Überlick über die zersplitterte politische Landschaft am Tag vor den Wahlen.

Und naja, für Liebhaber: Slate.fr verrät das einzig wahre Rezept für eine Tarte au citron.

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Gesellschaft

Die Debatte um eine gendergerechte Sprache nimmt an Schärfe zu, in der taz wünscht sich Tina Hartmann, dass sich auch endlich die DichterInnen an ihr beteiligen: "Sie haben die Macht, und sie stehen in der Verantwortung, mit ihrer Literatur die Sprache umzugestalten. An zeitgenössischer Literatur kommt schließlich auch eine reaktionäre Sprach- und Literaturrezeption nicht vorbei. Bürokratisch genaue Sprache hat Vorzüge. Doch schön wie auch kulturell wirksam wird sie erst durch Dichtung, wie in der Genese einer deutschen Literatursprache aus dem Kanzleideutsch im sprachgeschichtlich atemberaubend kurzen Zeitraum zwischen 1670 und 1770 nachzulesen ist. Damals entstand die Sprache Wielands, Goethes und Schillers, die wir im Prinzip bis heute schreiben. Diese Sprache ist durch ihre Protagonisten eine der männlichen Stimme. An ihr verzweifelten jahrzehntelang Frauen in der Literatur - Autorinnen wie Irmgard Keun oder Ingeborg Bachmann, die in 'Malina' versuchte, für weibliche Wahrnehmung eine weibliche Stimme zu finden."

So ungewöhnliche Laute verlangt das Binnen-I der gendergerechten Sprache nicht, erfährt SZ-Kritiker Felix Stephan vom Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg: "Das Phonem, das beim Mitsprechen des Binnen-Is entsteht, erfährt man dort, kommt im Deutschen im Grunde unentwegt vor. Etwa wenn zwei Vokale aufeinandertreffen, die sich nicht in derselben Silbe befinden. Zwischen dem 'e' und dem 'a' in 'Theater' zum Beispiel oder in 'bearbeiten'. Aber auch 'verarbeiten', obwohl dort genau genommen nicht einmal zwei Vokale aufeinandertreffen, aber eben ein neudeutsches R, das nicht mehr in der Kehle geformt wird, sondern wie ein Vokal vorn im Mund. Der Laut kommt auch jedes Mal vor, wenn ein Wort mit einem Vokal beginnt: Wenn ein Deutscher 'Affe' sagt oder 'Autor', schließt er, bevor er den Vokal ausspricht, in der Kehle kurz die Stimmlippen und formt ebenjenen stimmlosen glottalen Plosiv, der im Deutschen allgegenwärtig ist, den aber die wenigsten kennen, weil es kein Schriftzeichen dafür gibt."

Dinah Riese berichtet in der taz über den Streit über das Symposion "Das islamische Kopftuch - Symbol der Würde oder der Unterdrückung?" der Frankfurter Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter (unsere Resümees). Riese spricht unter anderm mit dem Studenten Zuher Jazmati, von der Gruppe @schroeter_raus, die eine Zensur der Veranstaltung wegen "antimuslimischen Rassismus" und die Entlassung Schröters fordert, mit Schröter selbst und mit der selbst Kopftuch tragenden und aufs Podium eingeladen Khola Maryam Hübsch von der Ahmadiyya-Sekte, die sich trotz ihrer Einladung schon im Vorfeld scharf gegen die Veranstaltung wendet: "Khola Maryam Hübsch ..  kann die 'Frustration der Studierenden', wie sie sagt, gut nachvollziehen. 'Ich finde das Podium nicht ausgewogen. Die Redezeit derer, die extreme Positionen gegen das Kopftuch vertreten, überwiegt', sagt sie. Das habe sie auch den Veranstaltern mitgeteilt. 'Susanne Schröter lässt sich und ihre Position im akademischen Milieu benutzen, um Ängste zu schüren und plumpe Klischees zu verbreiten', sagt Hübsch." Die Uni-Leitung bekennt sich laut Daniel Tautz bei Zeit online zu Schröter.
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Kulturmarkt

Im neuen New Yorker Kulturzentrum The Shed kosten die Tickets nur zehn Dollar, Überkurator Hans Ulrich Obrist holt trotzdem die größten Namen und für Diversität ist auch gesorgt - mit einem "bathroom for all genders" und afroamerikanischen Konzerten, stöhnt Sarah Pines in der FAZ: "Alles richtig gemacht, so scheint es auf den ersten Blick. Man kann den Umbau verschmutzter Industriebrachen in hochprofitable Orte mit Restaurants, Galerien oder performance spaces aber auch zynisch finden; die Underground-Charme versprechenden Komplexe, die dann gern 'Warehouse' heißen oder 'Die Fabrik' oder eben 'Schuppen' spielen mit ihren Namen auf jene Arbeiterklasse an, die hier längst vertrieben wurde, und locken mit einer düster intellektuellen Verruchtheit und einer gewagte Kulturexperimente suggerierenden Aura jene Investoren an, deretwegen die Arbeiter keinen Wohnraum im ehemaligen Herzen der Stadt finden."
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Religion

Lea de Gregorio und Bernd Hartung porträtieren die Marburger Theologin Ulrike Wagner-Rau, die ihr Leben lang die Bibel feministisch interpretierte und nun emeritiert wird: "Ein großes Anliegen feministischer Theologie war es, die Gottesanrede zu variieren, nicht mehr nur von Vater zu sprechen oder vom Herrn. Gott sei 'nichts, was in ein bestimmtes Bild passt, sondern was alle Bilder und Vorstellungen sprengt'.
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Medien

Das Internet vergisst nicht? Von wegen, meint Felix Simon in der NZZ, nirgendwo sei die Archivierung so schwierig wie im Internet. Mit jedem neuen Dateiformat und jeder Umstellung im Trägermedium gingen Inhalte verloren: "Selbst Papier schlägt die Langlebigkeit einer Server-Festplatte um mehrere hundert Jahre... Nirgendwo wird die Gefahr des digitalen Gedächtnisschwundes allerdings deutlicher als im Journalismus. Auch wenn sich Print tapfer hält, findet der Journalismus des frühen 21. Jahrhunderts überwiegend online und digital statt. Doch angesichts der schillernden neuen Welt fragt kaum einer, ob die schönen Produkte der neuen Zeit auch in Zukunft noch zugänglich sein werden. Eine Zeitungsseite ist vergleichsweise leicht zu archivieren, eine Website mit aufwendigen multimedialen Inhalten ist es nicht."
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Stichwörter: Internet, Archivierung