9punkt - Die Debattenrundschau

Die Fähigkeit zur Bosheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2019. Während alle Welt noch rätselt, wie Putin-freundlich der neue ukrainische Präsident genau ist, antwortet Wolodimir Selenski mit einer ziemlich frechen Retourkutsche auf Putins Ankündigung, die Vergabe russischer Pässe an ukrainische Bürger zu erleichtern, berichtet die AFP. Woher kommt die Asymmetrie in den Reaktionen auf die Terrorattentate in Christchurch und Sri Lanka, fragt Brendan O'Neill in Medium. Und die FPÖ legt dem ORF-Anchorman Armin Wolf laut turi2 nahe, doch mal ein Sabbatical einzulegen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.04.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Brendan O'Neill liest in einem Blogbeitrag bei Medium noch einmal die Twitter- Reaktionen bekannter Politiker wie Hillary Clinton, Theresa May oder Barack Obama auf die Attentate von Christchurch und Sri Lanka. Bei Christchurch benannten sie den Terrorismus und die Opfer, nicht aber bei Sri Lanka, wo sie nur von "Gläubigen", aber nicht von "Christen" sprachen. "Die Gräueltat von Christchurch löste eine wütende und eindeutig politische Reaktion aus. Wir müssen als Menschheitsfamilie gegen diese abscheuliche Islamophobie kämpfen, betonten Weltführer und Kommentatoren. Die Grausamkeiten in Sri Lanka haben kein solches Gefühl der globalen Entschlossenheit hervorgerufen. Und dieses schockierende Ungleichgewicht muss erklärt werden." Für O'Neill liegt die Erklärung in einem Rassismus der Linken: "Die Linke scheint zu glauben, dass nur weiße Männer faschistisch sein können. Das ist an sich schon eine Art Rassismus. Als ob nicht-weiße Menschen zu kindisch wären, um wirklich böse zu sein. Als ob ihnen die Fähigkeit zur Bosheit fehlt, die weiße Menschen genießen."

In der SZ erklärt Michael Brenner, warum es in der Champions League mit Tottenham gegen Ajax Amsterdam quasi ein jüdisches Halbfinale gibt, in dem "Yids" gegen "Super Jews" antreten. Wie es dazu kam? Halten Sie Ihren Hut fest beim Lesen: "Als beide Mannschaften von den gegnerischen Fans in den Siebziger- und Achtzigerjahren zunehmend mit antisemitischen Sprechchören, Auschwitz-Rufen und vermeintlichem Gaszischen angegriffen wurden, erwiderten die zumeist nichtjüdischen Ajax- und Tottenham-Fans mit der Affirmation einer jüdischen Identität. Für den Historiker John Efron aus Berkeley stellt diese eine Befreiungsgeste dar, die sich von der Zurückhaltung der britischen und niederländischen Juden in Bezug auf antisemitische Angriffe deutlich unterscheidet. Er bedient sich zur Interpretation dieser 'fake Jewish identity' des von Umberto Eco eingeführten Begriffs des rhetorischen Code-Wechsels. Die Fans eignen sich affirmativ Begriffe an, die ursprünglich als Schimpfwörter gegen sie benutzt wurden." Genial, oder? Wer braucht Gott, wenn er ein menschliches Hirn hat. Und so feierten die Tottenham-Fans Jürgen Klinsmann, als er 1994 in ihren Club wechselte: "Chim chiminee, chim chiminee Chim Chim churoo Jürgen was a German But now he's a Jew!"

In der Welt versucht Martin Niewendick anlässlich der Debatte um Susanne Schröters Konferenz über die Frage: "Das islamische Kopftuch - Symbol der Würde oder der Unterdrückung?" gar nicht mehr, die heutige Linke zu verstehen: "Man demonstriert mit Allahu-Akbar-rufenden Islamisten gegen den Staat der Holocaust-Überlebenden und ihrer Nachkommen, sieht im apokalyptischen iranischen Halsabschneider-Regime den ideellen Gesamt-Antiimperialisten und skandiert: 'Hijab is Empowerment'. Gleichzeitig wird an Ikonen wie Alice Schwarzer der queer-feministisch Muttermord vollzogen und die liberale Imamin Seyran Ates mit dem 'haram'-Stempel belegt: nicht erlaubt."
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Ideen

Im Einzelfall soll laut Gesetz Sterbehilfe möglich sein, aber sie soll nicht zur Normalität werden. "Perfide" findet in der FAZ Bettina Schöne-Seifert, Professorin am Münsteraner Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, diese Unterscheidung: "Jeder schwerkranke Patient mit einem frei verantworteten, andauernden Suizidwunsch bleibt ein tragischer Einzelfall, auch wenn die Zahl dieser Fälle unter liberalisierten Randbedingungen zunehmen wird. Ihm gerecht zu werden erfordert unter anderem, dass Patienten überhaupt Ärzte finden können, die bereit und kompetent sind, ihnen Suizidhilfe im eigenen Krankenbett zu leisten. Wer das als 'Normalität' verteufelt, setzt sich ins Abseits einer ehrlichen Debatte."

Thomas Vašek braucht auf Zeit online viel Platz und Zeit, die Liebe der Deutschen zum Auto zu analysieren, um dann doch noch zu diesem überlegenswerten Absatz zu kommen: "Das deutsche Ideal von einer Bewegung um ihrer selbst willen hat keine Zukunft mehr. Es geht nicht darum, dass wir fahren, also in Bewegung bleiben, sondern darum, wohin wir fahren. Solange Freiheit für uns Deutsche in der Abhängigkeit vom Auto besteht, bewegen wir uns gleichsam im Rückwärtsgang auf eine automobile Vergangenheit zu, die sich nicht weiter fortsetzen darf. Das Auto ist vom Innovationstreiber zum Innovationshemmnis geworden. Vielleicht wäre Google heute deutsch, wenn man auch nur einen Bruchteil der finanziellen und kreativen Ressourcen in digitale Technologien investiert hätte, statt in eine alte Technologie, die ohnehin keine langfristige Perspektive hat."
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Stichwörter: Sterbehilfe, Normalität

Europa

Bei den Wahlen in Spanien hat die sozialistische Arbeiterpartei von Ministerpräsident Sánchez die meisten Stimmen eingefahren, für eine absolute Mehrheit reicht es aber nicht. Dafür wird die rechte Vox-Partei erstmals ins Parlament einziehen. Paul Ingendaay, langjähriger Spanienkorrespondent der FAZ, blickt traurig zurück auf den Wahlkampf, der von Linken und Konservativen geprägt war, die irgendwo zwischen den sechziger und nuller Jahren hängen geblieben sind, während die Rechte Kapital aus dem katalanischen Sezessionsversuch 2017 schlägt: "Die Unverletzlichkeit des spanischen Territoriums ist ein berechtigtes Anliegen vieler Demokraten. Für diese Menschen der linken oder rechten Mitte jedoch gibt es im allgemeinen Dröhnen kaum noch Stimme und Platz: [Vox-Parteichef Santiago] Abascal hat das Nationalgefühl gekapert, in rechtsautoritären Patriotismus verwandelt und zur Waffe geschmiedet, um gegen Linke, Schwule, Einwanderer und Multikulturalismus vom Leder zu ziehen. 'Insensatos!' (Unvernünftige) ruft er ihnen zu, und dann folgt die Litanei von Spaniens Größe, der verblüffend viele Menschen aus dem bürgerlichen Milieu zujubeln."

Während alle Welt noch rätselt, wie Putin-Freundlich der neue ukrainische Präsident genau ist, antwortet Wolodimir Selenski mit einer ziemlich frechen Retourkutsche auf Putins Ankündigung, die Vergabe russischer Pässe an ukrainische Bürger zu erleichtern, berichtet die AFP (hier im Guardian): "Selenski, der sein Amt im Juni übernehmen wird, antwortete auf Putins Angebot mit einem Facebook-Statement am Samstag, das vorschlägt, 'Personen aller Nationen, die an autoritären und korrputen Regimes leiden, Bürgerschaft zu geben, allen voran natürlich russischen Menschen, die am allermeisten leiden. Wir wissen sehr gut, was ein russischer Pass bringt', schreibt er weiter, 'nämlich das Recht für friedliche Proteste festgenommen zu werden und das Recht, keine freien Wahlen zu haben.'"
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Internet

Auch die Kommunistische Partei China hat eine App. Und die nutzt sie zur Gehirnwäsche ihrer 90 Millionen Mitglieder, erzählt Felx Lee in der taz. Mitglieder, die die App nicht nutzen und die Verlautbarungen nicht lesen und kommentieren, bekommen Punktabzug: "Auch die Uhrzeit spielt beim Punktesammeln eine Rolle. Wer morgens vor halb neun schon die App genutzt hat, erhält die doppelte Punktzahl, ebenso in der Mittagspause oder abends nach 20 Uhr. Die Nutzung der App soll schließlich nicht die Arbeitszeit beeinträchtigen. Alle paar Tage sollen die Nutzer Kommentare abgeben. Wer viele Punkte gesammelt hat, kann sie gegen Geschenke eintauschen."
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Medien

Öffentlich-Rechtliche Sender lassen sich offenbar ganz gut gleichschalten, wenn die Rechtspopulisten erstmal am Ruder sind. Der bekannte Anchorman Armin Wolf wehrt sich im ORF gegen die FPÖ. Nun hat der Chef des Stiftungsrat Norbert Steger, der der FPÖ nahesetehn soll, reagiert, berichtet turi2 mit Bezug auf mehrere Quellen: "Im Streit der FPÖ gegen den ORF legt der ORF-Stiftungsratschef Norbert Steger regierungskritischen ORF-Moderator Armin Wolf eine Auszeit nahe. 'Ich würde ein Sabbatical nehmen, auf Gebührenzahler-Kosten durch die Welt fahren und mich neu erfinden,' sagt Steger in der Tageszeitung 'Österreich' über Wolf."

(Via turi2) Die Medienwissenschaftler Christoph Bieber, Leonhard Dobusch und Jörg Müller-Lietzkow fordern in der Medienkorrespondenz eine "öffentlich-rechtliche Internetintendanz". Sie soll spezifische formen für das Internet entwickeln und Drittanbieter einbinden: "Die Internetintendanz entwickelt und realisiert Verfahren zur wettbewerblichen und transparenten Vergabe von mindestens 75 Prozent der für die Internetintendanz bereitgestellten Mittel."
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