9punkt - Die Debattenrundschau

Manierismen einer alten Elite

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2019. In Polen löst ein Film über sexuellen Missbrauch in der Kirche Aufsehen aus - wir betten ihn ein. In seinem Blog erinnert Hubertus Knabe an den Schriftsteller Jürgen Fuchs, der vor zwanzig Jahren gestorben ist und der von der Stasi mit schändlichsten Mitteln verfolgt worden war.  Im Observer erklärt Nick Cohen, wie man die Briten verführt, indem man sich als Charakterkopf gibt. Große Empörung löst in den sozialen Medien ein Artikel Rainer Hanks aus der FAS  aus, der Greta Thunbergs Interventionen mit den Kinderkreuzzügen des Mittelalters vergleicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.05.2019 finden Sie hier

Europa

Wenn in Frankreich ein Politiker was werden will, muss er sich zum Intellektuellen stilisieren. Briten verführt man als Politiker eher, wenn man sich als Exzentriker und Charakterkopf gibt, schreibt Nick Cohen in seiner Observer-Kolumne: "Sie kommen damit durch, weil sich die herrschende Klasse in Britannien nie komplett diskreditierte. Jedes andere europäische Land ist von Faschisten und Kommunisten regiert worden oder erlitt Besetzung und Kollaboration. In Britannien kann man die Manierismen einer alten Elite noch pflegen und muss doch nicht fürchten, mit dem Abscheu und Spott behandelt zu werden, die im heutigen Deutschland etwa der Karikatur eines preußischen Generals widerfahren würden."
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Geschichte

Hubertus Knabe erinnert in seinem Blog an den Tod des DDR-Dissidenten Jürgen Fuchs vor zwanzig Jahren, der von der Stasi mit schändlichsten Methoden gequält und verfolgt worden war - und möglicherweise an den Folgen einer Vergiftung starb. Eindrucksvoll schildert Knabe, wie sich Fuchs als 25-Jähriger wochenlanger Vernehmung im Stasi-Gefängnis widersetzte, indem er innerlich den Spieß umdrehte und seinen Vernehmern "mit geradezu wissenschaftlichem Interesse bei der 'Arbeit'" zuschaute: "Auf unsichtbare Weise verkehrte er damit die Rollen -  und entzog sich damit partiell dem Druck, der auf ihm lastete. Weil Jürgen Fuchs im Gefängnis weder Stift noch Papier bekam, konnte er sich nur unsichtbare Notizen machen - mit dem Finger oder einem 'Stift' aus Schokoladenpapier auf der Tischplatte und manchmal nur in der Luft. Mit Hilfe dieser Methode, die die Vernehmer nicht zu deuten wussten, entstand in seinem Kopf ein Tagebuch, das ihm auch bei den regelmäßigen Zellenkontrollen niemand nehmen konnte. Sechs Wochen nach seiner Freilassung erschien es als Serie im Spiegel und bald darauf auch als Buch."
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Gesellschaft

Große Empörung löst auf Twitter ein Artikel des FAS-Wirtschaftsredakteurs Rainer Hank aus, der Greta Thunbergs Interventionen mit den Kinderkreuzzügen des Mittelalters vergleicht: "Kindliche Armut schlägt kirchlichen Reichtum. Kindlichkeit, Unschuld und Armut sind Bilder und Metaphern, die offenbar bis heute stark wirken und die konkurrierende Einschätzung fanatischer, verführter, unreifer Apokalyptiker schlägt. Die Kinder haben es geschafft, dass ihre Umwelt sie als willenlose Instrumente Gottes darzustellen vermochte."
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Stichwörter: Thunberg, Greta, Mittelalter

Ideen

"Sofern wir die Algorithmen ermächtigen, die Dinge des Alltags untereinander abzuklären, spricht das KI-Orakel nicht nur, es handelt auch gleich für uns", schreibt in der NZZ der Kultur- und Medienwissenschafter Roberto Simanowski, der kürzlich in Sibirien ohne Geld dastand, weil die KI seiner Bank beschlossen hatte, er sei ein Krimineller, und sich von solchen einsamen Entscheidungen zunehmend entmündigt fühlt. "Das KI-Orakel kommt als Doppelparadox. Es ist das Ende der Willensfreiheit im Zeichen der Selbstoptimierung, und es ist die coole Wiederverzauberung der Welt auf der Grundlage ihrer absoluten Analysierbarkeit. Denn verzaubert ist die Welt, wenn aus der Black Box die zwar unmissverständlichen, aber kaum nachprüfbaren Anweisungen kommen, wie man leben soll. Das ist, als spräche Gott zu uns, durch seine neuen Priester, die Algorithmen."

Der Historiker Jan Plamper verficht in seinem Buch "Das neue Wir - Warum Migration dazugehört" ein "Salatschüsselmodell" für Integration. In der taz antwortet er auf eine Nebenbemerkung des taz-Kolumnisten Micha Brumlik, der ihm vorwirft, die "Volksgemeinschaft", statt eines Verfassungspatriotismus zu preisen. Mit Salatschlüsselmodell meint er die Behandlung der Vertriebenen nach dem Krieg: "Zugehörigkeit zur Staatsbürgernation der Deutschen unter Beibehaltung der schlesischen Partikularidentität - mit staatlicher Förderung: die 'Brauchtumspflege' mit ihren Folkloreabenden. So abwegig es klingen mag, dies war im Kern progressiv, es war das Salatschüsselmodell avant la lettre. Und warum braucht es eine symbolisch-emotionale Überhöhung der Kollektividentität (das neue Wir), die über Verfassungspatriotismus hinausgeht? Erstens weil sie von Zuwanderer*innen selbst gefordert wird. In vielen Herkunftskulturen ist die Nation eine wichtige Identitätsressource. Zweitens weil es attraktive, symbolisch-emotional angereicherte Gegenangebote gibt - von extrem rechts in Deutschland. Oder aus Herkunftsländern (Erdoğans Türkei, Putins Russland)".

Außerdem: Wer immer noch glaubt, der Sozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, bei der nur die Umsetzung bisher fürchterlich schief gelaufen sei, dem empfiehlt in der FAZ Jürgen Kaube die Lektüre von Anne Applebaums neuem Buch "Roter Hunger - Stalins Krieg gegen die Ukraine".
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Medien

Sven Hansen würdigt in der taz die afghanische TV-Moderatorin Mena Mangal, die in Kabul auf offener Straße erschossen wurde. Sie hatte vorher über Bedrohungen berichtet: "Sie war stark in den sozialen Netzwerken aktiv, wo sie für Bildung und Berufstätigkeit von Mädchen und Frauen argumentierte. Sie machte auch öffentlich, dass sie 2017 von ihren Eltern gegen ihren eigenen Willen verheiratet worden war. Erst kürzlich, Anfang Mai, war es ihr gelungen, endlich ihre Scheidung abzuschließen."

Die taz veröffentlicht außerdem den Text, in dem die jüngst erschossene nordirische Journalistin Lyra McKee über erstmals über ihr Coming Out schrieb.
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Religion

Die Dokumentation "Tylko nie mow nikomu" (Sag es niemandem) über sexuellen Missbrauch in der polnischen Kirche ist bei Youtube in Polen innerhalb von 32 Stunden fünf Millionen mal abgerufen worden, meldet AFP (hier in der Berliner Zeitung): "Der zweistündige Film des unabhängigen Journalisten Tomasz Sekielski trägt den Namen 'Sag es bloß niemandem' und wurde teilweise mit versteckter Kamera gedreht. Die Dokumentation zeigt Begegnungen von Opfern pädophiler Priester mit ihren einstigen Peinigern. Einige inzwischen sehr alte Priester gestehen den Missbrauch, bitten um Vergebung und bieten manchmal finanzielle Entschädigung an." Letztes Jahr hatte bereits ein Film von Wojciech Smarzowski Aufesehen erregt, mehr dazu damals in der FAZ.

Hier der Film mit englischen Untertiteln:



In Münster drohen Katholikinnen, eine Woche lang keine Kirche zu betreten! Sie fordern unter anderem die Priesterinnenweihe und protestieren gegen viele Missstände, schreibt Simone Schmollack in der taz: "Allein die Schwangerschaftskonfliktberatung. Auch Katholikinnen können ungewollt schwanger und verlassen werden oder auf andere Weise in größten Nöten sein. Suchen sie Rat bei einer katholischen Beratungsstelle, treffen sie allerdings auf Beraterinnen, die ihnen sagen müssen: Wir können leider nicht so offen beraten, wie wir das gern täten, selbst wenn wir von Frau zu Frau reden. Wir dürfen auch nicht den gesetzlich geforderten Beratungsschein ausstellen, mit dem eine straffreie Abtreibung möglich ist."
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