9punkt - Die Debattenrundschau

Nullsummenspiel in der Endlosschleife

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.05.2019. Die NZZ erzählt, wie Ägyptens Staatschef Abdelfatah al-Sisi  gesellschaftliche Harmonie erreichen will. Die taz erzählt, wie die SZ Harmonie zwischen Print und Online erreichen will. In der Welt erklärt Roberto Saviano, dass Europa nicht ein Problem mit Flüchtlingen, sondern mit sich selbst hat.   Die Welt beleuchtet auch den aktuellen Zustand der Debatte, der alles andere als harmonisch ist. Und in Polen ist laut politico.eu die Harmonie mit der Kirche gefährdet.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.05.2019 finden Sie hier

Europa

Der Riesenerfolg des Films "Tylko nie mow nikomu" (Sag es niemandem) über sexuellen Missbrauch in der polnischen Kirche (unser Resümee) löst in Polen im Vorfeld der Europawahlen auch politische Unruhe aus, berichtet Jan Cienski bei politico.eu - er bringt Jaroslaw Kaczynskis PiS, deren Macht auf einem starken Bündnis mit der Kirche beruht, in echte Verlegenheit: "Kaczynski prescht voran, um das Thema in den Griff zu bekommen. Am Sonntag betonte er, dass keine Partei sexuellen Missbrauch entschiedener bekämpfe. Er versprach, die Strafe für solche Akte auf dreißig Jahre und das Schutzalter für Einwilligung in Sex von 15 auf 18 anzuheben. Dennoch verteidigte er die Kirche mit Nachdruck und sagte: 'Wer die polnische Nation attackieren und zerstören will, attackiert als erstes die Kirche.'"

Auch Dlf Kultur berichtet: "'Die Regierungspartei PiS sieht sich als Hüter eines katholischen Polens. Deshalb betont sie, dass Kindesmissbrauch ja nicht nur bei Geistlichen vorkomme. Einige Politiker und Anhänger der Partei interpretierten den Film sogar als Angriff auf die Kirche und damit auf Polen. Ein PiS-Abgeordneter verglich 'Sag es niemandem' mit dem Buch 'Mein Kampf' von Adolf Hitler."

Flüchtlinge sind nicht das Problem Europas, erklärt Roberto Saviano in der Welt. Um das zu erkennen, müsse man nur einen Blick in die Studie "Tod durch Rettung: Die Folgen des Nicht-Eingreifens der EU auf dem Meer" werfen, schreibt er und zitiert aus dem Vorwort der Europaabgeordneten Barbara Spinelli: "'Von den 60 Millionen Flüchtlingen in der Welt hat eine Million bisher die Länder der Europäischen Union erreicht. Das sind nur 1,2 Prozent der EU-Bevölkerung. Die meisten syrischen Flüchtlinge leben heute im Libanon, in Jordanien und in der Türkei.' Es gab keine Invasion, wir sind nicht umzingelt, wir sprechen von Flüchtlingskrise, um nicht sagen zu müssen, dass wir es mit einer humanitären Krise von epochalen Dimensionen zu tun haben. Und um nicht zu sagen, dass Europa an der größten Herausforderung seit seiner Gründung kläglich scheitert."
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Politik

In Ägypten arbeitet Staatschef Abdelfatah al-Sisi - wie vor ihm schon Nasser und Mubarak - am "Aufbau des neuen ägyptischen Menschen", berichtet Joseph Croitoru in der NZZ. Betont wird die Zugehörigkeit der Ägypter zum arabischen, zum mediterranen und zum afrikanischen Raum mit all seinen Kulturen und Religionen, also auch der christlichen und jüdischen. "Dass dafür manch problematisches Geschichtskapitel wie die gewaltsame islamische Eroberung Ägyptens durch Mohammeds Gefährten Amr ibn al-As beschönigt wird, scheint niemanden zu stören. Denn Erziehung zu gesellschaftlicher Harmonie, Konsensfähigkeit und Unterordnung in das Kollektiv, das sich dem Diktat der Staatsführung zu unterwerfen hat, ist das eigentliche Ziel der staatlichen Identitätskampagne, was öffentlich allerdings nicht ausgesprochen werden darf. So versucht Präsident al-Sisi dem Volk in seinen Ansprachen den 'Aufbau des neuen Menschen' als Projekt der gesamten ägyptischen Gesellschaft - und nicht nur des Staates - zu verkaufen."
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Stichwörter: Ägypten, Sisi, Abdelfatah al

Ideen

Saskia Hödl porträtiert in der taz die in Berlin tätige Juristin Kimberlé Crenshaw, die den Begriff der "Intersektionalität" erfunden hat. Abgeleitet ist er von "Intersection", dem amerikanischen Begriff für Straßenkreuzung, erläutert sie. Erfunden hat den Begriff Crenshaw, um einen Fall von vier schwarzen General-Motors-Arbeiterinnen zu beschreiben, die bei Kürzungsmaßnahmen 1968 als erste entlassen wurden: "Sie beklagten, dass es bei General Motors lange Praxis gewesen sei, für gewisse Jobs nur Männer einzustellen, etwa in der Fabrik, und für andere Jobs nur Frauen, etwa im Sekretariat. Darüber hinaus machten die Klägerinnen aber die Beobachtung, dass für die 'Männerjobs' zwar auch schwarze Männer eingestellt wurden, für die 'Frauenjobs' aber nur weiße Frauen. Schwarze Frauen kamen also lange für keine der Jobkategorien in Frage. Bis 1970 habe es in der ganzen Niederlassung in St. Louis deshalb nur eine Afroamerikanerin gegeben." Ob in dem Begriff auch Diskriminierungen innerhalb von Gruppen oder nur solche durch den "weißen Mann" gemeint sind, lässt Hödl offen. Hier Crenshaws urspünglicher Essay von 1989 als pdf-Dokument.

Kevin Kühnerts Verstaatlichungsideen sind doch prima, und liberal sind sie auch, behauptet der Philosoph und Schriftsteller Hannes Bajohr auf Zeit online und argumentiert mit der amerikanischen Philosophin Judith N. Shklar. Für sie war Liberalismus nicht das freie Spiel als frei gedachter Marktteilnehmer, sondern ein Spiel zwischen Mächtigen und Schwachen, das immmer wieder ausgeglichen werden muss, weil die Schwachen sonst eben nicht frei sind: "Gerade große Konzerne, schreibt Shklar, haben einen Status, der eher öffentlich als privat ist und staatlicher Machtausübung in wenig nachsteht. 'Eigentümerschaft darf aber nicht unbegrenzt sein', mahnt sie, denn sobald Eigentum selbst Furcht erzeugt, erfüllt es seine Abwehrfunktion nicht mehr. Wenn also die Macht, die ein Immobilienunternehmen auf sich vereint, zur plausiblen Quelle von Furcht für diejenigen wird, die von ihm abhängen, ist es nach Shklar für den Staat möglich, einzugreifen. Neben Zerschlagung kann das auch Vergemeinschaftung bedeuten - vorausgesetzt, sie ist kein Endzweck, sondern ein Instrument, mit dem die Bedingungen gewährleistet werden, unter denen die Ausübung von Freiheit möglich ist."
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Gesellschaft

In einem Leitartikel über neumodisch altlinke Töne, wie sie etwa jüngst von Kevin Kühnert kamen, beschreibt Welt-Autor Richard Herzinger en poassant den aktuellen Zustand der Debatte: "Empören sich Linke einmal mehr über 'provokativ' in die Welt gesetzte Aussagen aus dem rechten Spektrum, freut sich dieses höhnisch darüber, die 'politisch Korrekten' erneut in die 'Schnappatmung' getrieben zu haben. Von genau der wird dann aber seinerseits das rechte Meinungssegment befallen, sobald ein Linker eine stramm sozialistische These raushaut. So zeigt man mit Fingern aufeinander und erfreut sich in Wahrheit am gemeinsam aufgeführten argumentativen Nullsummenspiel in der Endlosschleife."
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Geschichte

Es ist eines der gut gehüteten Geheimnisse der deutschen Wirtschaftsgeschichte, dass die viel beschworenen Erfolge des Wiederaufbaus oft auf Grundlagen beruhten, die während des Kriegs durch Zwangsarbeit gelegt wurden. Die Keksfirma Bahlsen habe sich nichts zuschulden kommen lassen, sagte die 25-jährige Erbin Verena Bahlsen in einem Bild-Interview, obwohl auch Bahlsen Zwangsarbeiter beschäftigte. Felix Bohr resümiert bei Spiegel online: "Während Opfer des Nationalsozialismus nach 1945 um gesellschaftliche Anerkennung und vielfach um Entschädigung kämpfen mussten, konnte die Unternehmerfamilie im Wirtschaftswunder schnell an ihre alten Erfolge anknüpfen: 1959 beschäftigte sie wieder 1.500 Mitarbeiter."
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Medien

Ein ziemlich frecher Text der SZ-Onlinechefin Julia Bönisch im Branchenmagazin Journalist hat ziemlich viel Aufsehen erregt (unser Resümee). Sie fordert darin eine Aufhebung der Trennung von Redaktion und Verlag und Managerqualitäten bei Redakteuren - inzwischen hat sie sich nach Aufruhr in der SZ für einige Passagen entschuldigt. Anne Fromm schildert in der taz Hintergründe, zu denen vor allem die jetzt auch in der SZ betriebene Fusion von Print und Online gehört: "Die Fusion ist nicht nur publizistisch, sondern auch arbeitsrechtlich schwierig: Print und Online-Redaktion der SZ sind, wie in vielen Medien, zwei verschiedene Gesellschaften. Die Printler haben bessere Arbeitsbedingungen als die Onliner, sind tarifgebunden, müssen vertraglich weniger arbeiten und werden im Schnitt besser bezahlt. Wenn beide künftig nebeneinander an den selben Produkten arbeiten, wirft das Gerechtigkeitsfragen auf."

Große Aufregung löst in den sozialen Medien der Hashtag #twittersperre aus. Twitter hat etwa das Konto der Jüdischen Allgemeinen gesperrt, weil diese völlig unverfänglich auf einen Artikel hinweis, der erklärte "warum Israels Botschafter Jeremy Issacharoff auf Gespräche und Treffen mit der AfD verzichtet". Hier der Bericht der JA und der Kommentar des Online-Chefs der Zeitung, Philipp Peyman Engel: "Dass Twitter antisemitische Hasstweets duldet, aber Nachrichten der einzigen jüdischen Wochenzeitung Deutschlands sperrt, ist für uns absolut unverständlich."
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