9punkt - Die Debattenrundschau

Trotz mehrerer Lagen Funktionskleidung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.05.2019. Die Medien arbeiten die Europawahlen auf. In Frankreich zeigt das Wahlergebnis eine komplette Neustrukturierung der politischen Landschaft, konstatiert Le Monde. Der alleinstehende Nationalstaat, von dem die Brexiteers träumen, war in Europa noch nie die Lösung, sagt die Politologin Kathrin Bachleitner in der NZZ. In Deutschland fällt AKK unterdessen durch merkwürdige Äußerungen über Meinungsfreiheit in Wahlkampfzeiten auf. Außerdem: Die NZZ erzählt, wie der russische Youtuber Juri Dud die russische Öffentlichkeit aufstört.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.05.2019 finden Sie hier

Europa

Die CDU hatte schon im Wahlkampf äußerst ungeschickt auf die Attacke des Youtubers Rezo (unsere Resümees) reagiert. Nun forderte Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrer Wahlkampfbilanz Einschränkungen für Meinungsäußerungen im Wahlkampf: "Und die Frage stellt sich schon mit Blick auf das Thema Meinungsmache, was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich, ja oder nein." Stefan Kuzmany kommentiert bei Spiegel online: "Wenn Kramp-Karrenbauer in ihrer nachgeschobenen Erklärung nun einschränkt, es gehe ihr lediglich um 'Regeln, die im Wahlkampf gelten', dann sucht der Rest der Welt immer noch vergeblich nach einer entsprechenden gesetzlichen Einschränkung der Meinungsäußerung in Vorwahlzeiten 'für einflussreiche Journalisten und YouTuber'. Eine solche Regelung wäre im Übrigen vollkommen absurd: Wann, wenn nicht vor Wahlen, soll denn eine inhaltlich harte Auseinandersetzung stattfinden?"


Freidhelm Greis sieht es bei golem.de ähnlich: "Es wäre völlig absurd, ausgerechnet vor Wahlen das Recht auf freie Meinungsäußerung einzuschränken, um damit Kritik an den Parteien zu unterbinden. Da es vergleichbare Regeln in der 'analogen Welt' nicht gibt, ist zudem nicht verständlich, was davon auf Youtube übertragen werden könnte. Lediglich die öffentlich-rechtlichen Sender sind zu einer ausgewogenen und vielfältigen Berichterstattung verpflichtet."

Die schlechten Wahlergebnisse von CDU und SPD sind auch Folge der Urheberrechtsdebatte, die dazu führte, dass die Europawahl maßgeblich im Internet entschieden wurde, schreibt Markus Beckdahl in Netzpolitik. Bei der CDU liegt das auf der Hand. "Und auch das gewohnte Rumgeeier der SPD sorgte nicht für mehr Vertrauen: Erst gegen Uploadfilter sein, dann aber in der Regierung mitstimmen, obwohl der Koalitionsvertrag diese ausschloss, um dann doch irgendwie dafür und dagegen gleichzeitig zu sein. Also kam #niewiederspd dazu." (Allerdings waren die Grünen in dieser Frage keinen Millimeter fortschrittlicher.)

Der allein stehende Nationalstaat, in den so viele britische Wähler zurückkehren wollen, hat in seiner heute erträumten Form in Europa nie existiert, erinnert die Politologin Kathrin Bachleitner in der NZZ: Laut dem Historiker Timothy Snyder gab es historisch gesehen "zu keiner Zeit europäische Nationalstaaten, die vor der Gründung der Europäischen Gemeinschaft erfolgreich waren. Europa bestand aus Langzeit-imperialen Reichen und gescheiterten Kurzzeit-Nationalstaaten. ... Ein vereintes Europa war der Weg in den Wohlstand trotz Kriegsschäden und Verlust der Kolonien. Auch wenn wir das heute so nicht mehr hören wollen: Die EU wurde nicht aus Idealismus geboren, weil man aus den Schrecken des Krieges gelernt hat. Eine Europäische Gemeinschaft war strategisch rational die einzige Lösung nach dem Imperialismus. Die britischen Beitrittsverhandler in den frühen 1970er Jahren wussten das genau. Bloß heute will man das so nicht mehr hören. Daher wird es uns auch nicht gesagt von den Europäischen Politikern."

"Das Duell Macron-Le Pen, das von den beiden Finalisten von 2017 bewusst betrieben wurde, hat die beiden politischen Kräfte, deren Wechsel die Fünfte Republik geprägt hatte, vollends erledigt", heißt es im Leitartikel von Le Monde. "Zusammen erreichen die Sozialistische Partei und die Republikaner kaum 15 Prozent der Stimmen. Mit anderen Worten: Sie zählen nicht mehr. Seit der Präsidentschaftwahl wusste man, dass es um die Partei François Mitterrands nicht gut steht. Diesmal ist es die Rechte, die dran glauben muss. Für die Republikaner war der Sonntag eine Höllenfahrt." Ein anderer Aspekt: Marine Le Pen konnte vom Protest der Gilets jaunes letztlich profitieren, während Jean-Luc Mélenchon marginalisiert wurde.

Die Wiener Publizistin Isolde Charim hat in der taz noch ein paar Fragen zum FPÖ-Video und seinen Folgen: "Warum ruft die Bestätigung, dass es wirklich so übel ist, wie man es immer gedacht hat, solch einen kollektiven Ekel hervor? " und ihre Antwort:  "Es ist wie beim Sex: Jeder weiß, dass Politiker Sex haben, aber ein Video eines Politikers bei einer Sexparty ist unerträglich. Denn es verunmöglicht, noch an die Fassade zu glauben. Das Ibiza-Video verunmöglicht, dass wir weiterhin an das Werte-Schauspiel glauben, das wir uns gegenseitig vorführen." Was das Video selbst angeht, so verbreitet Michael Hanfeld heute in der FAZ die Theorie, dass das Video nun doch vom "Zentrum für politische Schönheit" gekauft woprden sei - für 600.000 Euro in Form von Krügerrand-Goldmünzen.

Wenig Sympathie hat Inga Barthels im Tagesspiegel für die Wähler von Martin Sonneborns "Die Partei", die in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg bei den Europawahlen fast 9 Prozent der Stimmen holte: "Es ist ein Armutszeugnis für die GroKo- Parteien, die offenbar jeglichen Kontakt zu jungen Wählerinnen und Wählern verloren haben. ... Das Wahlergebnis zeugt aber auch von einer Politikverdrossenheit, die man sich erst mal leisten können muss. Denn wer in Deutschland von rassistischer Gewalt, Armut oder homofeindlicher Diskriminierung betroffen ist, wählt wohl kaum zum Spaß. 'Die Partei' ist die Protestpartei der Privilegierten."
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Politik



Dem russischen Youtuber Juri Dud, sonst eher auf Gags und Zoten abonniert, ist mit seiner aufwändigen, schon 14 Millionen mal aufgerufenen Reportage "Kolyma" etwas Bemerkenswertes geglückt, schreibt Inna Hartwich in der NZZ: Über zwei Stunden spricht er über die sowjetischen Gulags und konfrontiert sein Land mit der Schuldfrage - ein Land, das Stalin heute wieder nostalgisch verklärt. Dud steche "geradezu ins Nichtwissen seiner Generation hinein. Er spricht mit den Nachkommen der damals Betroffenen, spricht mit jungen Menschen, die in der Kolyma groß geworden sind und gegen den heutigen Zerfall ankämpfen, spricht mit Museumsfrauen, Fahrern, Sammlern dessen, was vom Lagersystem heute noch übrig ist. Er erzählt, wie er trotz mehreren Lagen Funktionskleidung fürchterlich friert, zeigt wunderbarste Landschaftsaufnahmen einer Gegend, die lebensfeindlich ist. Er lässt sich Fotoalben bringen und stampft durch aufgegebene Verwaltungsgebäude. Er hört Sätze von Stalin als Idol und Sätze von Stalin als Bestie. Er streitet nicht, er verurteilt nicht, er reißt lediglich die Augen weit und ungläubig auf, wenn die, deren Vorfahren durch das Regime des 'roten Zaren' gebrochen und vernichtet worden waren, nun das vermeintlich Gute in diesem Regime zu finden bereit sind."

Sven Hansen interviewt in der taz den früheren chinesischen Studentenführer Wang Dan zum Jahrestag des Tienanmen-Massakers. Auf die Frage, warum die Entstehung einer Mittelschicht nicht auch eine Demokratisierung herbeigeführt, antwortet er: "Das ist der größte Irrtum im Westen über China. China hat aber keine große Mittelschicht. Laut westlicher Theorie sind deren Angehörige etwa Besitzer kleiner Läden oder Rechtsanwälte. In China ist die Mittelschicht eine Klasse der Reichen. Sie macht Geld durch ihre guten Beziehungen zur Regierung. Sie ist politisch nicht neutral und unterstützt keine Demokratisierung." Die Loyalität dieser Klasse hat allerdings auch Grenzen, so Wang: "Viele Reiche wie auch Angehörige der Mittelschicht haben sich schon ausländische Pässe besorgt oder zogen ins Ausland. Das zeigt, sie fühlen sich in China nicht sicher und trauen der Kommunistischen Partei nicht."
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Kulturmarkt

In den Verlagen gibt es eine Bewegung, auf die Plastikfolien zu verzichten, in die neue Bücher eingewickelt sind. C.H. Beck-Verleger Jonathan Beck hält das im Gespräch mit Michael Roesler-Graichen im Börsenblatt für ein Doktorn an Symptomen, eher gehe es darum die CO2-Produktion bei der Herstellung von Papier und Büchern zu reduzieren. Die Bücher des Verlags entsprächen 13.000 Tonnen CO2 pro Jahr: "Das Äquivalent dazu sind zehn voll besetzte Boeing 747, die von München nach New York und zurückfliegen. Die Produktion eines der größten Verlage in Deutschland ist also minimal im Vergleich zu einer großen Fluglinie, die wahrscheinlich in einer Stunde so viel CO2 emittiert wie wir in einem Jahr. Aber nichts ist bequemer, um nicht zu sagen fauler, als bei diesem Thema auf andere zu zeigen. Jeder muss vor seiner eigenen Haustür kehren."
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Stichwörter: Buchmarkt, Co2, Beck, Jonathan

Gesellschaft

In Sachsen war die AfD bei den Kommunalwahlen stärkste Partei. Auch bei der Europawahl wurde sie - für Sachsen - stärkste Partei. Selbst in Dresden hat sie mit 17,1 Prozent gut abgeschnitten. Das hat Folgen auch für die Kulturpolitik der Stadt, berichtet Swantje Karich in der Welt: "Ein Dorn im Auge des AfD-Stadtrats Gordon Engler ist zum Beispiel das Europäische Zentrum der Künste Hellerau, dessen Arbeit überregional geschätzt wird, für seine Projekte mit zeitgenössischer Kunst; dort ist auch die berühmte Dresden Frankfurt Dance Company von William Forsythe angesiedelt. Das Zentrum wird mit 3,4 Millionen Euro durch die Stadt Dresden finanziert. Ginge es nach Engler würde man die Finanzierung sofort stoppen. Der Lokalpolitiker arbeitet seit Monaten gegen Hellerau." Noch geht des allerdings nicht nach Engler.
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Ideen

"Wir erleben ein Comeback ideologisierter Begrifflichkeit, in dem sich ein Bedarf nach politischen Ideen zeigt", diagnostiziert der Politologe Jens Hacke auf Zeit online und macht sich daran, den Begriff Liberalismus neu zu definieren: "Wenn Regulierung für selbst erklärte Liberale das Unwort Nummer eins bleibt, dann versagen sie sich neue Gestaltungsräume, um über die gesellschaftliche und ökonomische Bedingtheit von Freiheit nachzudenken. Dass es in der Politik auch immer um die Freiheit der kommenden Generationen geht, betonen Liberale in Fragen verantwortlicher Haushaltspolitik beharrlich. Es fehlen aber überzeugende Ansätze, ein gehaltvolles Freiheitsverständnis in nichtmaterieller Hinsicht zu entwickeln. Die Bereitschaft, den eigenen Lebensstil nach ökologischen Maßstäben zu verändern und hier neues Bewusstsein zu schaffen, hat die FDP als Vertreterin des politischen Liberalismus in Deutschland bislang nicht erkennen lassen. Hier entsteht eine Leerstelle, die die Grünen - siehe Habeck - tatsächlich besetzen können."

Liberalismus ist nicht nur Neoliberalismus? Da gabs schon gewagtere Ideen: In der FR erinnert Arno Widmann an Isaac La Peyrère, der dem Kardinal Richelieu 1642 mitteilen ließ, dass es schon Menschen vor Adam und Eva gegeben habe.
Archiv: Ideen