9punkt - Die Debattenrundschau

Die ach so teure Heimat

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.05.2019. Christi Himmelfahrt hat auch nichts gebracht. Die Debatten toben weiter. Ordnen Sie folgende Aussagen den Zeitungen taz und FAZ zu: Youtube ist eine Chance. Youtube gehört reguliert.  Unterdessen kollabiert die Demokratie, fürchtet der Biologe Jared Diamond im Tagesspiegel. Es könnte aber doch noch sein, dass der Messias kommt, hoffen laut Libération ultraorthodoxe Jüdinnen in Jerusalem, die sich immer dicker einpacken, um ihre "Sittsamkeit" zu beweisen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.05.2019 finden Sie hier

Internet

Aus dem Streit um den Youtuber Rezo, der, wie Michael Hanfeld in der FAZ ermittelte, ein bei der Werbefirma Ströer verdingbarer Influencer ist (ab 15.000 Euro), wird jetzt ein Streit um Youtube. Hier informiere sich die Jugend, Youtube sei nach Google selbst die zweitgrößte Suchmaschine, und der Journalismus solle daraus lernen, meint Alexander Graf in der taz: "Zwar mag es stimmen, dass professioneller Journalismus höhere Sorgfaltsstandards erfordert, als sie die meisten YouTube-Videos bisher erfüllen. Genauso wahr ist aber auch, dass nicht jeder redaktionelle Beitrag diesen Ansprüchen selbst gerecht wird. Zumal sich auf der Plattform mittlerweile viele Kanäle finden lassen, die bestimmte Themen facettenreicher und fundierter behandeln, als so manche Tageszeitung."

Michael Hanfeld beklagt dagegen heute eine "Regelungslücke" im Internet, und Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, stimmt ihm im FAZ-Interview selbstverständlich zu: "Die Einhaltung dieser Standards überwachen bei der Presse der Presserat und beim privaten Rundfunk die Landesmedienanstalten, die generell auch für die Überwachung der Medienangebote im Netz zuständig sind. Aber ausgerechnet bei der Gefährdung durch Desinformation in journalistischen Inhalten im Netz können wir nicht einschreiten, weil das Gesetz genau diesen Fall ausgenommen hat. Eine Regelung, die aus einer vergangenen Zeit stammt und bestenfalls historisch verständlich ist, bei der wir aber aufpassen müssen, dass das Absurde nicht zur Tragödie wird."

Wer Rezo "Meinungsmache" vorwirft, hat die "Zeichen der Zeit" nicht begriffen, schreibt indes Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, in einem flammenden Plädoyer im Tagesspiegel, in dem er am liebsten eine "Generation Rezo" ausrufen möchte: "Rezo ist eine Systemfolge der Schröderjahre. Weil 'die Gesellschaft' nach Lage der Fakten eben nicht gewährleistet, dass diese Spätgeborenen auf die Rettung ihrer Zukunft hoffen dürfen, bleibt nur die kleine YouTube-Ich-AG. Und die solidarisiert sich jetzt selbst. Arme SPD, das war mal euer Versprechen. Arme CDU, die jetzt versucht, grün zu werden, statt christlich. Niemand von den etablierten Parteien war bislang in der Lage, auf dieses Video adäquat Antwort zu geben. Und so werden sie, die sich auf der Überholspur drängeln, auf der Kriechspur überholt."

Ingo Dachwitz und Lorenz Mrohs analysieren in Netzpolitik der Werbeausgaben der Parteien vor der Europawahl bei Facebook: "Ganz vorne liegen die Grünen mit knapp einer halben Million Euro Werbeausgaben bei Facebook. Dicht folgen die alten Volksparteien CDU/CSU und SPD, während Linkspartei und AfD am wenigsten ausgegeben haben. Interessant ist auch: Besonders in der Woche vor der EU-Wahl wurde am meisten Geld ausgegeben. Sogar am Wahlsonntag investierten viele Parteien noch einmal in Werbung bei Facebook."

Mit Julian Assange wird in den USA die Idee der Hackerkultur vor Gericht gestellt, schreiben Jannis Brühl und Mirja Hauck in der SZ: "In den USA lautet der Vorwurf gegen ihn: Spionage als Komplize von Manning. Man kann es so sehen, dass diese Anklage die Pressefreiheit in Frage stellt. Verhandelt wird aber auch die Grundüberzeugung einer immer einflussreicher gewordenen Subkultur: dass alle Information aus dunklen Computerspeichern befreit und jegliches Herrschaftswissen beseitigt werden muss. Alles für alle. Assange ist der einzige Anarchist, der im 21. Jahrhundert Weltpolitik gemacht hat."

Außerdem porträtiert Kai Strittmatter für die Seite 3 der SZ Audrey Tang, als "postgender" lebende Ex-Hackerin und aktuelle Cyberministerin in Taiwan, die sich der "digitalen Neuerfindung der Demokratie" widmet und vom Magazin Foreign Policy unter die "100 wichtigsten Denker weltweit" gewählt wurde.

Alexander Fanta porträtiert bei Netzpolitik den Internetforscher und Hacker Claudio Agosti, der ein Programm entwickelt hat, das es Nutzern erlaubt, den Facebook-Algorithmen auf die Spur zu kommen: "Das im Webbrowser versteckte Programm liest mit, wenn der oder die Teilnehmer:in Facebook durchscrollt. Es ignoriert private Einträge von Freundinnen und Freunden, sammelt aber alle öffentlichen Posts, die den Leuten angezeigt werden. Jedes Mal, wenn jemand seine Timeline aufruft, gewinnt Agostis Projekt mehr Daten. Ihren Nutzerinnen und Nutzern verrät die Software, wie oft ihnen Posts einer bestimmten Seite oder Gruppe angezeigt werden. Das helfe dabei, die eigene Filterbubble auszumessen, sagt Agosti."
Archiv: Internet

Medien

Youtube ist aber auch in der Türkei unbeliebt, besonders bei Präsident Erdogan. Bülent Mumay beschreibt in seiner FAZ-Kolumne, dass Türken sich immer mehr in externen Medien informieren, etwa bei Auslandssendern: "Der Tropfen, der das Fass für die Regierungsmedien zum Überlaufen brachte, war der unter Leitung der Deutschen Welle eingerichtete Youtube-Kanal +90. Die Zeitung Yeni Safak, von Erdogan seit 25 Jahren mit öffentlichen Ausschreibungen unterstützt, erschien vergangene Woche mit der Schlagzeile: 'Globale Medienbelagerung'... Die Zeitung nannte namentlich eine Reihe von Journalisten, die für ausländische Presse tätig sind, darunter auch mich, und machte sie zur Zielscheibe."

Das Bundesinnenministerium unter der Leitung von Horst Seehofer hat einen Gesetzesentwurf zur "Harmonisierung des Verfassungschutzrechts" vorgelegt, den netzpolitik.org bereits Ende März veröffentlichte und den sich die Reporter ohne Grenzen jetzt genauer angesehen haben: Bisher war neben der Kommunikation von Abgeordneten, Ärzten, Anwälten und Priestern auch das Redaktionsgeheimnis vor der Überwachung durch den Verfassungsschutz geschützt, nun soll es In- und Auslandsgeheimdiensten auch erlaubt sein, die Server, Computer und Smartphones von Journalisten zu hacken, meldet Zeit Online: "Mithilfe bestimmter Software könnten die Geheimdienste zum Beispiel verschlüsselte Kommunikation einsehen oder die Server verdeckt nach digitalen Daten durchsuchen; gespeicherte Dokumente, Browserverläufe, Gesprächsmitschnitte wären somit zugänglich. (...)Wenn die Geheimdienste ihr Interesse an den zu erlangenden Informationen als schwerwiegender einschätzten als den möglichen Schaden für die Pressefreiheit, werde die digitale Durchsuchung gestattet, schreibt Reporter ohne Grenzen."

In den letzten vier Jahren wurde die Zahl von EU-Korrespondenten in Brüssel von 955 auf 770 registrierte Journalisten reduziert, schreibt der Journalistikdozent Stephan Russ-Mohl in der NZZ und beklagt das Fehlen eines "seriösen" paneuropäischen Journalismus: "Statt eines europäischen Narrativs dominiert jeweils die nationale Perspektive: Die Medien berichten vornehmlich über Krisen, spitzen diese zu und schüren damit Misstrauen gegenüber den europäischen Institutionen. Der Politikberater Johannes Hillje meint warnend, es komme zu einem 'polit-medialen Teufelskreis aus Konflikt, News und Nationalismus', der letztlich den Populisten in die Hände spiele."
Archiv: Medien

Politik

Durch die Globalisierung gibt es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit eines weltweiten Kollapses, erklärt im Tagesspiegel-Gespräch der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond. Er befürchtet etwa ein Ende der Demokratie in den USA: "Wenn die Demokratie untergeht, ist es die Folge aktueller Entwicklungen. Zum Beispiel die Einschränkungen des Wahlrechts. (...) In den USA muss man sich zum Beispiel registrieren, um zu wählen. Die Hürden dafür sind unterschiedlich hoch. Im Staat Alabama etwa regieren die Republikaner, große Teile der Bevölkerung aber sind schwarz und würden eher demokratisch stimmen. Also verlangt Alabama einen Führerschein, damit man wählen kann. Viele Afroamerikaner jedoch haben keinen. Später wurden in primär schwarzen Bezirken auch noch die Zulassungsstellen geschlossen."
Archiv: Politik

Europa

Jürgen Gottschlich beschreibt in der taz eine neue Aufbruchsstimmung in Istanbul einige Wochen vor der von Erdogan erzwungenen Neuwahl für den Bürgermeisterposten, der in der ersten Wahl nicht an den Erdogan-genehmen Kandidaten ging. Tayyip Erdogan selbst wirke geschwächt und abgewirtschaftet: "Das Einzige, was Erdogans Anhänger derzeit noch mobilisiert, ist die Angst, den Besitz, den sie in den letzten Jahren zusammengerafft haben, wieder zu verlieren, sollte ihr Patron abtreten müssen. Sicher, diese Angst treibt Hunderttausende um, die ihren Job, ihre Zuwendungen, ihre Privilegien der AKP verdanken, die mit beispielloser Rücksichtslosigkeit 'ihre Leute' in alle lukrativen Positionen des Staates gehievt hat, die Staatsaufträge bedingungslos an ihre Leute verteilt hat, die nun alle etwas zu verlieren haben."

Während vergangene Woche Robert Menasse den Austrofaschismus seiner Landsleute beklagte (Unser Resümee), ärgert sich Karl-Markus Gauß heute in der SZ darüber, dass Österreich seine Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus nie ausreichend würdigte: "Und doch erweist sich gerade heute wieder, wie fatal es ist, dass Österreich sich nur so halbherzig zu all jenen bekennt, die über die Jahrhunderte gegen die Obrigkeit ankämpften und von dieser lächerlich gemacht, zum Schweigen gebracht, ermordet wurden. Das erleichtert es Lumpen, sich als die wahren Patrioten aufzuspielen, auch wenn sie gerade dabei ertappt wurden, die ach so teure Heimat an den Bestbietenden zu verscherbeln; und sich als Opfer zu präsentieren, die gutgläubig, wie sie nun mal sind, von ausländischen Medien und inländischen Verrätern in die Falle gelockt wurden. Es hat bis zur Wahl zum Europäischen Parlament nur eine Woche gebraucht, dass die Anhänger der FPÖ fast vollzählig wieder darauf eingeschworen waren, die Schuld nicht bei ihren Parteiführern und deren Wählern, also bei sich, zu suchen, sondern bei dubiosen Dunkelmännern, die Österreichs Helden der Heimatpartei wieder einmal bösartig verleumden."

Und auch Sebastian Kurz hat gute Chancen wiedergewählt zu werden, sagt im Tagesspiegel-Interview der österreichische Politologe Reinhard Heinisch: "Kurz sieht sich in einer Opferrolle. Diese Botschaft wird er bis zum Ende benutzen und damit erfolgreich sein. Kurz ist ein bisschen Jesus Christus."

Die Umweltpolitik ist für die Bürgerlich-Liberalen zur neuen "Hauptfeindin der Freiheit" geworden, schreibt Jan Grossarth im Feuilleton-Aufmacher der SZ: "Das haben sie mit der AfD gemeinsam. Dabei ist es ja naheliegend, kritisch gegenüber dem 'grünen Zeitgeist' zu sein. Die Umwelt- und Ökobewegung und ihre Vor- und Seitenausläufer sind überaus geeignete Objekte ideologiekritischer Betrachtung. Das ergibt sich allein schon aus ihrer mittlerweile erreichten institutionellen und finanziellen Macht. Seit dem vermeintlichen 'Ende der Ideologien' 1989 wurde die Ökologie in Deutschland und den westlichen Ländern zur politischen Leitperspektive, wie auch der Historiker Joachim Radkau sagt. Die Ökologie hat dabei eine Fülle merkwürdiger Geister hervorgebracht, die mit weltfremden Heilsideen und sogar antijüdischen Anspielungen hausieren. Das der Umweltpolitik insgesamt anzuhängen, wäre aber töricht."
Archiv: Europa

Religion

In Israel gibt es eine Art Konkurrenz der "Sittsamkeit" zwischen muslimischen Frauen, ultraorthodoxen Jüdinnen und christlich orthodoxen Nonnen, die sich allesamt immer radikaler verschleiern, sagt Noam Bar'am Ben Yossef, Kuratorin der Ausstellung "Veiled Women of the Holy Land - New Trends in Modest Dress" in Jerusalem im Gespräch mit  Guillaume Gendron von Libération. Besonders einige ultraorthodoxe Jüdinnen haben nach den Terrorattentaten vor Jahren begonnen, sich immer dichter einzupacken - mit bis zu acht Lagen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass der Messias ob ihrer Züchtigkeit doch noch mal kommt. Seltsamer Weise ziehen die Frauen damit aber den Zorn ihrer Hierarchien auf sich: In dem ultraorthodoxen Viertel Mea Sharim "sprucken die Kinder sie an, man behandelt sie als Araberinnen, als Hexen. Und sogar als Nonnen, was für sie die schlimmste Beleidigung ist, eine Unterstellung, dass sie sich von ihrer Religion abgewandt haben. Jüdische Frauen, die solche Kleidung wählen, tun das oft gegen das Establishment ihrer Gemeinde, sogar gegen ihre Ehemänner. Die ultraorthodoxe Gesellschaft sieht darin eine Art weiblicher Meuterei. Auch andere Frauen sind misstrauisch und haben den Verdacht, dass hier eine neue Norm installiert werden soll. Und für die Haredi-Männer ist so etwas völlig unerträglich. Für sie ist es nicht Sache der Frau, ihre Sittsamkeit zu definieren."
Archiv: Religion
Stichwörter: Muslimische Frauen, Kleidung