9punkt - Die Debattenrundschau

Es gibt nur noch beschädigte Ideen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.06.2019. Im Guardian kritisiert Arundhati Roy das schematische Denken der Linken in Indien, die das Phänomen der Kasten nie habe verstehen können. Asli Erdogan spricht in Spiegel online über die Erfahrung der Isolationshaft. Die taz erklärt, warum Proteste wie die am Platz des Himmlischen Friedens in China nie mehr möglich sein werden. Die SZ erzählt, wie der Springer Verlag sich verkaufen will.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.06.2019 finden Sie hier

Europa

Blickt er in sein Heimatland Österreich, möchte Paul Jandl (NZZ) schier verzweifeln: Heinz-Christian Strache ist es offenbar wirklich gelungen, seine Landsleute davon zu überzeugen, dass das Ibizia-Video erstens ein gemeiner Trick war und er zweitens einfach zu besoffen war, sich anständig zu verhalten. "Bei der EU-Wahl am letzten Sonntag hat die Partei des Ibiza-Skandalisten kaum Stimmen verloren. Zehntausende persönliche Vorzugsstimmen könnten reichen, um den Ex-Vizekanzler direkt ins EU-Parlament zu befördern. Einen Mann, der die demokratischen Verhältnisse in Österreich an reiche Russen verscherbelt hätte. Unter seinen Wählern gilt er als Patriot. ... Es ist der altbekannte, sich aus Opfermythen speisende Wir-sind-wir-Patriotismus, der dem Land etwas Verkniffenes und Unfrohes gibt. Er segelt unter dem 'Vereinsbanner der Leute, die das Wimmerl im eigenen Gesicht erhabener dünkt als der Monte Rosa auf Schweizer Gebiet', wie Robert Musil sagt. Österreich wird noch kleiner, als es ohnehin schon ist. Das ist dann wieder ein Drama und kein Dramolett."

Asli Erdogan spricht mit Anne Backhaus von Spiegel online über ihre Gefängniserfahrung in der Türkei: "Es ist erschreckend, wie schnell man bereits nach wenigen Tagen allein in einer Zelle abbaut. Die Augen werden schlecht. Die Sprache ist stark eingeschränkt. Die Muskeln bilden sich zurück. Alles in dir vertrocknet. So wird deine Persönlichkeit nach und nach gebrochen. Ich habe acht Tage in Isolationshaft erlebt, die waren schlimmer als all die anderen Monate im Gefängnis."

im boshaften Aufmacher des FAZ-Feuilletons wundert sich Redakteur Edo Reents über den Beifall für Angela Merkels viel gefeierte "Commencement Speech" in Harvard: "Es hat keinen Sinn, sich auch nur mit einem einzigen Satz inhaltlich auseinanderzusetzen. Das meiste hat man wirklich schon tausendmal gehört und kann es längst nicht mehr. Nicht so die Leute in Harvard. Sie reagierten, gerade an den trivialen Stellen, ausgesprochen freundlich."
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Ideen

Im Gespräch mit Gary Younge vom Guardian kritisiert Arundhati Roy, die gerade in Amerika unterwegs war, die indische Linke: "Wenn man in Indien von 'links' spricht, meint man damit kommunistische Parteien. Und hier war das große Versagen der Linken, nicht mit dem Phänomen der Kasten umgehen zu können. Ich nehme an, in den USA ist es so, dass man mit Hautfarbe nicht umgehen konnte. Alle meine Bücher vom 'Gott der kleinen Dinge an' haben viel damit zu tun. Weil die Kaste der Motor ist, der das moderne Indien antreibt. Man kann in Indien nicht einfach mit den Worten 'Kaste ist Klasse, Kamerad' davonkommen. Es ist einfach nicht wahr."

Die berühmte, von Jean-Paul Sartre gegründete Zeitschrift Les Temps modernes, die lange von Claude Lanzmann geleitet worden war, wird eingestellt, berichtet Rudolf Balmer in der taz: "Im Editorial zur ersten Nummer fasste Sartre den Menschen als 'Zentrum nicht hintergehbarer Unbestimmtheit' und definierte als Ziel der Zeitschrift nicht etwa die, sondern bescheiden 'eine Befreiung des Menschen'. Maurice Merleau-Ponty, der 1953 wegen politischer Differenzen mit Sartre aus dem Herausgeberkreis ausschied, formulierte in der vierten Nummer (1946) das philosophisch wie politisch Modernität verbürgende Motiv in einem haltbaren Satz: 'Es gibt nur noch beschädigte Ideen.'" Mit einer Buchreihe gleichen Namens und Debatten, die zu diesen Büchern organisiert werden, will der Gallimard-Verlag die Tradition lebendig halten.
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Politik

Vor dreißig Jahren richteten die chinesischen Behörden ein Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens an - Tausende kamen ums Überleben, die genaue Zahl wurde bis heute nicht veröffentlicht. Die Proteste waren von Studenten der Pekinger Universität ausgegangen, schreibt Felix Lee in der taz. Heute undenkbar: "Wer heute die Universität besucht, sieht Sicherheitskameras an sämtlichen Laternenpfählen hängen. Sie erkennen Gesichter in der Menge und können sie mit den Informationen in zahllosen Datenbanken abgleichen, in denen der Staat die Daten der Bürger verwaltet. Einen Protest an der Peking-Universität zu organisieren wäre heute fast unmöglich. Der Wille dazu existiert ohnehin nicht: Statt politischer Aufbruchstimmung prägen jetzt Karriere- und Alltagssorgen das Denken der Studierenden. Das Leben auf dem Campus der Peking-Universität spiegelt damit das Wesen des Landes insgesamt wider: ein technologisch hochmoderner, zugleich aber streng kontrollierter Sicherheitsstaat."

Die New York Times bringt eine Strecke mit bislang unveröffentlichen und sehr eindrucksvollen Fotos des Fotografen Jian Liu von den Protesten und ihrer brutalen Niederschlagung.
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Medien

Deutsche Journalisten und Zeitungen müssten eigentlich lauthals protestieren, schreibt Patrick Beuth in Spiegel online, denn ein Gesetzentwurf des Innenministeriums weicht den Informantenschutz für Journalisten auf, die Behörden könnten Journalisten heimlich überwachen: "Würde der Entwurf umgesetzt, wäre es dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in seltenen Fällen erlaubt, die Server, Computer und Smartphones von Verlagen, Sendern, Redakteuren und freien Journalisten heimlich zu hacken und zu durchsuchen. Ein richterlicher Beschluss wäre dazu nicht nötig, das BfV müsste stattdessen abwägen, ob sein Interesse schwerer wiegt als das Redaktionsgeheimnis. Kontrolliert würde das einzig von der alle paar Wochen geheimtagenden G-10-Kommission." Veröffentlicht hatte den Entwurf zunächst Netzpolitik. Die Reporter ohne Grenzen haben zuerst auf das Problem aufmerksam gemacht.

Mit Marie Sophie Hingst haben wir einen Relotius in Gestalt eines Wilkomirski. Die Historikerin, Bloggerin und Journalistin hat sich eine jüdische Biografie erfunden. Martin Doerry hat die Geschichte für den Spiegel recherchiert (mehr bei Spiegel online), Jens Twiehaus resümiert bei turi2:"Demnach erfand Hingst mehrere Familienmitglieder, die in Auschwitz getötet worden seien oder das KZ überlebten. Tatsächlich stammt Hingst aus einer evangelischen Familie. Ihr Drang zum Geschichten-Erfinden sei so weit gegangen, dass sie Dokumente zu erfundenen Familienmitgliedern bei der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einreichte, berichtet der Spiegel." Hingst schreibt auch für Zeit online und Deutschlandfunk Nova, alle Links bei turi2. Ihr Blog Read on My Dear, Read on ist inzwischen abgeschaltet, über Google Cache kann man noch einen Eindruck gewinnen.

(Via golem.de) Lorenz Wolf, Vorsitzender des BR-Rundfunkrats, hat das Patent-Argument für Erhöhungen der Rundfunkgebühren gefunden. Entweder mehr Gebühren, oder mehr AfD, schreibt er in der Augsburger Allgemeinen: "Solange öffentlich-rechtlicher Rundfunk das erfüllen kann, wozu er geschaffen wurde, verfängt populistische Logik nur schwer. Wer den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus welchen Gründen auch immer schwächt, stärkt populistische Argumentationsmuster."

Mathias Döpfner hat den Finanzinvestor KKR gewonnen, der alle Aktien aufkaufen soll, die nicht den Großaktionären um die Springer-Familie gehören, berichtet unter anderem Caspar Busse in der SZ. Das Unternehmen soll dann von der Börse genommen werden. Alle journalistischen Absicherungen des Hauses sollen dabei bestehen bleiben, beteure man. Aber "KKR könnte den Druck auf eine Verbesserung der Rendite erhöhen. Weitere Sparmaßnahmen wären die Folge. Axel Springer kommt derzeit mit 16.350 Mitarbeitern auf einen Umsatz von 3,2 Milliarden Euro. Während dem Vorstand unter Döpfner die strategische Weiterentwicklung der Firma am Herzen liegen dürfte, hat KKR wohl eher den späteren gewinnträchtigen Ausstieg im Auge."
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