9punkt - Die Debattenrundschau

Estland ist nicht der Wilde Westen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2019. Was ist daran so schlimm, das Humboldt-Forum leer zu eröffnen, fragt Boris Pofalla in der Welt: "Das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss ist zuallererst als Hülle konzipiert worden." Auch andere Zeitungen antworten mit Spott auf die Meldung. Theresa May ist ab heute nur noch kommissarisch Premierministerin: Die Probleme mit dem Brexit könnten nun auch die EU spalten, fürchtet politico.eu. Die "Apokalyptik der Klimabewegung" verstellt den Blick auf andere Krisen, fürchten die Salonkolumnisten. In der SZ wirbt Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid für eine Digitalisierung der Politik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.06.2019 finden Sie hier

Europa

Heute tritt Theresa May offiziell zurück, auch wenn sie kommissarisch im Amt bleibt. In ihrer Mannschaft verbreite sich leise Schadenfreude, berichtet ein Reporterteam in politico.eu: "Im Vereinigten Königreich wird Mays Nachfolger vor den selben politischen Realitäten eines festhängenden Parlaments und einer unbeweglichen EU27 stehen. Aber die EU hängt jetzt selber genauso fest wie Britannien, sagen drei hohe UK-Beamte. Die Frage, ob Britannien am 31. Oktober en bloc herausgezwungen wird, fängt an, die EU27 zu spalten, könnte Rezessionen in einigen Ländern auslösen und gefährdet die irische Friedensregelung." Der Guardian meldet unterdessen, dass die für die britisch-irische Grenze zuständige Beamtin zurücktgetreten ist.

Die "Apokalyptik der Klimabewegung" und die Erfolge der Grünen rücken ökologische Themen derart in den Vordergrund, dass andere aktuelle politische Krisen in Vergessenheit zu geraten drohen, schreibt Richard Volkmann bei den Salonkolumnisten: "Dass in Syrien und der Ostukraine weiterhin brutal Krieg geführt wird, dass Russland sich hochgradig destruktiven Einfluss überall in Europa kauft, dass China im Begriff ist, die liberale Weltordnung insgesamt herauszufordern - all das wird bestenfalls registriert, muss aber hinter der drängenden Frage der zweiten Nachkommastelle eines zukünftigen Temperaturanstiegs zurückstehen. Wen kümmern noch Nationen, wenn es demnächst sowieso keine Zukunft mehr gibt?"

"Das autoritäre Denken ist in Deutschland nie verschwunden. Im Westen lebte es unter der Oberfläche weiter, in der DDR ganz ungebrochen", sagt der grüne Thinktanker Ralf Fücks im großen NZZ-Gespräch über die illiberalen Bewegungen in Europa: "Die Ursachen für den Aufschwung der illiberalen Kräfte unterscheiden sich von Land zu Land. In Frankreich ist schon der Begriff 'liberal' verpönt. Selbst in Ländern mit stolzen liberalen Traditionen wie den Niederlanden und England sind die Gegenbewegungen stark. Ein Schlüsselbegriff ist Kontrolle. Die Menschen erwarten vom Staat, dass er den gesellschaftlichen Wandel steuern kann. Wenn diese Erwartung enttäuscht wird, geraten die Dinge ins Rutschen. Dazu kommt die soziale Ungleichheit."

In der SZ kann Tobias Zipp zumindest ein leises demokratisches "Lüftchen" aus Tschechien melden: Dort nämlich werden die Proteste gegen den rechtspopulistischen Premier Andrej Babis immer lauter, nachdem bekannt wurde, dass der Regierungschef seinen EU-subventionierten Agrofert-Konzern nach wie vor selbst kontrolliert und den in diesem Fall ermittelnden Justizminister kurzerhand gegen eine Vertraute austauschte: "Am Dienstag waren es geschätzte 120 000: So viele zornige Tschechinnen und Tschechen drängten sich zu Füßen des Nationalheiligen Wenzel im Herzen von Prag, ließen Schlüssel klimpern wie 1989 bei der Samtenen Revolution und skandierten Rücktrittsrufe. Die Teilnehmerzahlen der Proteste haben sich zuletzt im Wochenrhythmus verdoppelt, und die Demonstranten kommen längst nicht mehr nur aus dem traditionell Babiš-skeptischen urbanen Milieu, sondern aus allen Teilen des Landes. Der wind of change, der vor 30 Jahren das kommunistische Regime wegfegte, faucht jetzt einem demokratisch gewählten Premier ins Gesicht."

Mit Blick auf eine mögliche Koalition in Spanien mit der rechtsextremen Vox-Partei fordern der Historiker und Soziologe Jesus Casquete und der Essayist Ibon Zubidur Deutschland auf, Spanien im Kampf gegen die Rechtsextremen zu unterstützten: "Dank seiner längeren Erfahrung bei der Überwindung einer autoritären Vergangenheit gilt Deutschland vielen Spaniern als Modell. Es wäre für uns wünschenswert, wenn die Führungskräfte unserer rechten Parteien wenigstens diese Lehre aus Deutschland ziehen könnten. In der Bundesrepublik gilt es seit Jahrzehnten als indiskutabel, mit Parteien der extremen Rechten irgendwelche Pakte zu schließen oder anzustreben - auch auf das Risiko hin, die Macht zugunsten demokratischer Gegnerparteien zu verlieren."
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Internet

Die Meldung wird weder Google noch den großen Internetmedien gefallen: "Bürgerrechtsorganisationen setzen Datenschutzbehörden mit Massenbeschwerden unter Druck. So wollen sie den Kontrollverlust der Nutzer bei Echtzeit-Auktionen für verhaltensbasierte Internetwerbung beenden", berichtet Christiane Schulzki-Haddouti. Es geht um personalisierte Werbung, wie sie auch im Perlentaucher mit Einschränkungen ausgepielt wird: "Die Methode stößt auf Kritik, da mit ihr massenweise personenbezogene Daten übertragen werden. Dazu gehören Indikatoren über Sexualität, Ethnizität und politische Meinungen. Außerdem bezweifeln die NGOs, dass die Branche die Kontrolle über die Verbreitung personenbezogener Daten nach deren Übertragung überhaupt behalten kann. Sie sehen nach dem Profiling-Artikel der DSGVO 'keine rechtliche Grundlage für eine solche allgegenwärtige und invasive Profilerstellung und Verarbeitung personenbezogener Daten aus Profitgründen'." Die Branchenverbände beteuern, der DSGVO gerecht zu werden.

"Hat es Stalin davon abgehalten, die Estländer nach Sibirien zu verschleppen, weil er keinen digitalen Staat hatte?", winkt Estlands Präsidentin Kersti Kaljulaid im SZ-Interview mit Kai Strittmatter die Nachfrage ab, was passiere, wenn in einem Staat alle Daten digital sind und dann die Demokratie ins Autoritäre kippen. Sie wirbt für mehr Digitalisierung der Politik in Deutschland: "Estland ist nicht der Wilde Westen der digitalen Welt. Es ist alles streng reguliert. Wenn ein Beamter sich die Daten eines Bürgers anschaut, muss er sich persönlich einloggen. Ich weiß genau, welcher Polizist wann und wie lange meine Daten ansieht. Und wenn sie es tun, dann habe ich das Recht auf Nachfrage."
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Gesellschaft

Die Dreistigkeit der Marie Sophie Hingst, die sich eine Holocaust-Familiengeschichte andichtete (Unsere Resümees) ist das eine, meint Alex Rühle in der SZ, schlimmer noch sind aber die "verheerenden Wirkungen", denn: Lügengeschichten wie die von Marie Sophie Hingst gießen "Wasser auf die Mühlen der Holocaustleugner - jetzt stimmen nicht einmal mehr die Opfernamen in Yad Vashem. Die echten Opferberichte ('irgendwas bleibt immer kleben') werden durch solche erfundenen Texte kontaminiert. Am Ende via Anwaltsverlautbarung bei der 'Literatur' unterkriechen zu wollen, nachdem man die Authentizität des Geschriebenen zunächst als argumentative Waffe eingesetzt und damit biografische Opfermeriten eingefahren hat, ist besonders infam - aber unter Holocaustfabulierern recht beliebt."
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Kulturmarkt

Der Buchmarkt ist stabil mit positiver Tendenz, informierte Alexander Skipis vom Börsenverein laut Börsenblatt bei der alljährlichen Wirtschaftspressekonferenz zur Lage am Buchmarkt. Man freut sich auch sehr, dass durch die EU-Urheberrechtsreform auch die Verlegerbeteiligung an den Ausschüttungen der VG Wort wiederhergestellt wurde, die von deutschen und europäische  Gerichten zuvor als rechtswidrig annulliert worden war: "Auf politischer Ebene sei es für die Branche maßgeblich, die Beteiligung der Verlage an den Ausschüttungen der Verwertungsgesellschaft wiederherzustellen, sagte Skipis. 'Nach der positiven Entscheidung des EU-Parlaments für die EU-Urheberrechtsreform benötigen wir schnellstmöglich eine nationale Umsetzung, damit Verlage endlich wieder sicher kalkulieren können.'"

Außerdem: Im Guardian berichtet Stephen Moss, dass sich auch der britische Buchmarkt positiv entwickle, und zwar besonders für physische Bücher und für unabhängige Buchhändler. In der NZZ erörtert Manuel Müller, was die KNV-Pleite für Schweizer Verlage bedeutet.
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Kulturpolitik

Schönreden auf Berliner Art: Was wäre so schlimm, das Humboldt Forum leer zu eröffnen, fragt Boris Pofalla in der Welt und meint: "Für das Humboldt-Forum hätte die innere Leere sogar eine gewisse Konsequenz: das wiedererrichtete Berliner Stadtschloss ist zuallererst als Hülle konzipiert worden."

In der taz meint auch Thomas Mauch: "Da werden sich schon auch ohne Elfenbein genug Schaulustige einfinden, wenn das Humboldt Forum Ende des Jahres wirklich die Pforten öffnet. Und die sich dahinter auftuende Leere könnte man dann gut als Denkraum nutzen. Als Erinnerung, dass lange vor dem Humboldt Forum doch erst die Idee stand, dass man an Stelle des Palasts der Republik mit seiner DDR-Vergangenheit lieber wieder das im Realsozialismus geschleifte historische Stadtschloss hätte - ohne dabei recht zu bedenken, dass es in Deutschland gar keine Könige und Königinnen mehr gibt, die das auch bewohnen könnten."

Ähm, und was genau soll gezeigt werden, fragt Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung - die Innenräume wohl kaum, an denen wurde ja ebenso wie an den Ausstellungsbedingungen gespart: "Die Säle, die ursprünglich für Bibliotheken gedacht waren und nun sinnvollerweise für Ausstellungen genutzt werden sollen, erhielten nicht die daraus ausgerichteten Klimaanlagen. Vitrinen wurden mit billigen, aber stark spiegelnden Gläsern bestellt. Überhaupt entspricht die technische Ausstattung des Humboldt-Forums nach Angaben von Kuratoren und Restauratoren überwiegend eher den Stand der mittleren 90er-Jahre, also kaum den heute geltenden Standards."

Die Liste der verschobenen Ausstellungen, Eröffnungen und Pläne der Berliner Kulturprojekte ist lang und allen gemein ist das Schweigen im Walde der Berliner Kulturpolitik, erinnert Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Warum diese Angst vor offenen Ansagen? Warum nicht klar vermitteln: Die Idee mit dem Humboldt-Jubiläumsjahr war schön, aber wir eröffnen lieber mit Aplomb im Sommer 2020?"
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Medien

Die Ministerpräsidenten der Länder verhandeln über die Zukunft des Runfunkbeitrags. Noch haben sie sich nicht geeinigt, aber es scheint auf ein Indexmodell hinauslaufen, das es erlaubt, die Sender, der Inflationsrate folgend automatisch immer gleich zu bezahlen, unabhängig von der Frage, wie sich ihre Akzeptanz entwickelt, berichtet Michael Hanfeld in der FAZ: "Vorbehalte gegen ein Indexmodell hatte die FDP angemeldet, die in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen an den Landesregierungen beteiligt ist und in ihrem Programm zur letzten Bundestagswahl eine 'Neudefinition des Auftrages des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, verbunden mit einer Verschlankung', gefordert hatte. Über eine Strukturreform der Öffentlich-Rechtlichen wird seit Jahren ohne erkennbaren Fortschritt debattiert."
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