9punkt - Die Debattenrundschau

Pirouetten auf sehr dünnem Eis

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.06.2019. "Non merci!", ruft die Chefredaktion von Le Monde in ihrem Editorial zur Perspektive eines britischen Premiers namens Boris Johnson. Und die Financial Times klingt fast noch zorniger. In der NZZ sinniert die ungarische Schriftstellerin Ágnes Czingulszki über ein Jugendbild von Viktor Orban. Man kann nicht Kinderrechte fordern und das Kopftuch für kleine Mädchen befürworten, schreibt Ahmad Mansour in der Welt. Heise.de fordert öffentlich-rechtliche soziale Medien. Und Karikaturisten protestieren gegen die Selbstzensur der New York Times, die sich keine Karikaturen mehr traut.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.06.2019 finden Sie hier

Europa

"Non merci!", ruft die Chefredaktion von Le Monde in ihrem Editorial zur Perspektive eines britischen Premiers namens Boris Johnson, der sogar schon damit drohte, dass Britannien seine vertraglich geschuldeten Milliarden einbehält: "Für die EU käme der Regierungsantritt Boris Johnsons der Installation einer kleineren Ausgabe Donald Trumps jenseits des Kanals gleich, der sich vor allem der Sabotage der EU widmen würde. Das Vereinigte Königreich würde sich nicht mehr damit begnügen, sein europäisches Unbehagen zu pflegen oder die europäische Entwicklung zu behindern. Es würde zu einem feindlichen Fürstentum, das auf der sozialen, fiskalen und ökologischen Deregulierung beruht."

Fast noch härter klingt, was Martin Wolf in der Financial Times zu der von Boris Johnson riskierten Option eines No-Deal-Brexit schreibt (Link hier): "Die EU zu verlassen ist allein schon schädigend: die Chancen im  Handel und der Einfluss des Königreichs auf dem Kontinent und in der Welt werden sinken. Dass dies in dem Moment geschieht, da die westliche Ordnung zusammenbricht und sich ein kalter Krieg zwischen den USA und China anbahnt, macht Britannien noch verletzlicher. Aber eine No-Deal-Option wäre sogar noch schädigender als ein geordneter Austritt. Dass Politiker darüber auch nur nachdenken, lässt sie allesamt als unfähig für das Amt erscheinen."

Im Interview mit Standard-Kritiker Helmut Ploebst spricht der Theatermacher Tim Etchells von Forced Entertainment über die vergiftete Atmosphäre in Großbritannien: "Der Brexit ist nicht nur eine Frage von Austritt oder Verbleib in der EU. Er bildet eine größere politische Bewegung. Als solche transportiert er Xenophobie, Rassismus und negative nationalistische Gefühlen. Er ist gewissermaßen unser Faschismus!"

In der NZZ denkt Slavoj Zizek über die Europawahlen nach. Das Ergebnis zeigt ihm, dass die Leute keine Revolution wollen. Deshalb hätten die von ihm präferierten Linken so verloren und die Grünen so gewonnen, meint er: "Die Grünen waren - und sind - die perfekte Option für Leute, die das Gefühl haben wollen, etwas ändern zu wollen, ohne doch wirklich etwas zu verändern."

In der FR kann Klaus Staeck das Gerede von "Altparteien" und siechenden Volksparteien nicht mehr hören. Dass die AfD so redet, geschenkt. Aber müssen auch Medien wie FAZ und SZ gern den Tod der großen Parteien prophezeien, fragt er. "Die Demokratie ist kein Trampolin, auf dem nach Belieben herumgesprungen werden kann, um auszuprobieren, wann die Matte reißt. Wir ziehen unsere Pirouetten inzwischen auf sehr dünnem Eis. Die Medien 'wirken an der Willensbildung mit' und werden gerne als vierte Gewalt bezeichnet. Gewalt ohne Verantwortung wird jedoch zur Willkür. Die Grenzen sind fließend und ohne eine freie Presse in Verantwortung ist Demokratie nicht zu haben. Wer also die verbliebenen Volksparteien bereits abschreibt und nur noch als Altparteien denunziert, sollte auch nach dem eigenen Alter fragen - oder selbst für ein Mandat kandidieren, um die Mühsal des Politikerdaseins am eigenen Leib zu erfahren."

"Er erinnert an einen jugendlichen Che Guevara, der sich aus dem Kleiderschrank eines Zirkuswagens bedient hat", schreibt Czingulszki  zu diesem Schulfoto von Viktor Orbán. (Bild: Public Domain)
In der NZZ erinnert sich die ungarische Schriftstellerin Ágnes Czingulszki noch sehr gut an den jungen Politiker Viktor Orban, der 1989 in Budapest in einer schwungvollen Rede die Russen aufforderte, sich mit ihren Truppen endlich zu verziehen. Die meisten Ungarn erinnern sich heute daran, wo sie diese Rede hörten, so wie man sich daran erinnert, wo man 9/11 war. Die Zukunft sah brillant aus und war es eine Zeitlang auch, bis aus dem feurigen jungen Politiker ein populistischer "gieriger und fülliger Politiker mittleren Alters" wurde, so Czingulszki, die einige Jahre für die linke Zeitschrift Népszabadság arbeitete, bevor sie nach Innsbruck ging. Und dann kam der Zeitpunkt, als sie nicht mehr nach Ungarn zurück wollte: "Es ist das Datum, an dem zum letzten Mal Népszabadság erschien. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde die Belegschaft per Post über ihre Kündigung in Kenntnis gesetzt. Gerade erst hatte die Redaktion einen neuen Standort bezogen - keiner ahnte, dass da etwas im Busch war. Am Samstag standen die Kollegen und Kolleginnen vor geschlossenen Türen. ... Ich konnte es nicht fassen. Mir schien alle Hoffnung verflogen. Es gab einen kurzen Aufschrei in westlichen Medien, doch nach ein, zwei Monaten erinnerte sich keiner mehr daran, was geschehen war. Fast die ganze ungarische Medienlandschaft ist seither im Besitz von Orbans Kumpanen."
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Gesellschaft

Man kann nicht auf der einen Seite die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz fordern und auf der anderen das Kopftuch für kleine Mädchen rechtfertigen, "denen unter anderem erzählt wird, sie seien unrein 'wie ein angelutschtes Bonbon', wenn ihr Haar nicht bedeckt ist", kritisiert der Psychologe Ahmad Mansour in der Welt. "Kinder lernen durch Exploration, Beobachtung, durch Fragen. Sie testen Umgangsweisen und Grenzen aus, und sie haben ein Recht darauf, ihren Weg in der Gesellschaft zu finden, ein Recht auf Erfahrungen ohne beängstigende, irregeleitete Einschränkungen. Das Kopftuch, bei Kindern niemals freiwillig ausgesucht, schränkt die weibliche Persönlichkeitsentwicklung ein und behindert die spätere Identitätsfindung. Es sendet aber ebenso Signale an die Jungen, die ihre Schwestern oder Schulkameradinnen als 'unrein' dargestellt bekommen, wenn sie kein Tuch tragen. Somit erhöht das Kopftuch das Risiko emotionaler und sozialer Entwicklungsverzögerung und Anpassungsstörung. Kopftücher sind alles andere als dekorative Textilien."

Die Frauenärztinnen Bettina Gaber und Verena Weyer sind in Berlin wegen Verstoßes gegen Paragrafen 219a, wonach für Schwangerschaftsabbrüche nicht geworben werden darf, angeklagt. Dabei haben sie einfach nur über die Möglichkeiten informiert. Im Interview mit Zeit online erklärt Gaber, was genau ihnen vorgeworfen wird: "Meine Kollegin und ich stehen vor Gericht, weil auf unserer Website steht, dass auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch zu meinen Leistungen gehört. ... Es geht nur um die beiden Worte medikamentös und narkosefrei. Ich dürfte nach dem neuen Gesetz schreiben, 'ein Schwangerschaftsabbruch gehört zu meinen Leistungen', und dann einen Link zur Bundesärztekammer setzen, wo die Methoden beschrieben werden und die Ärzte verzeichnet sind, die Abbrüche anbieten. Aber ich darf selbst nichts über die Methode schreiben."
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Politik

Die Proteste in Hongkong gegen das neue Auslieferungsgesetz unterscheiden sich deutlich von den Protesten 2014, als die Bürger von Hongkong auf die Straße gingen, um eine Verfassungsreform anzustoßen, meint in der SZ der britisch-chinesische Publizist Evan Fowler: "Viele glauben nicht mehr daran, dass ihre Identität als Hongkonger existieren kann neben der Identität als patriotischer Chinese, wie die KP Chinas sie definiert und einfordert. Die aktuellen Proteste drehen sich deshalb um den Schutz des eigenständigen Rechtssystems der Stadt. Sie speisen sich aus einer Furcht, die in den Eingeweiden sitzt, einer Furcht vor einem Leben mit dem Strick um den Hals, einem Regime ausgeliefert, dessen Justizapparat keine Skrupel hat, auch Folter, erzwungene Geständnisse und erfundene Vergehen einzusetzen."

Google und Apple bieten in ihren App-Stores die Überwachungs-App "Absher" an, die besonders gern (aber nicht nur) in islamischen Ländern benutzt wird, um Frauen zu überwachen. Der in Deutschland lebende saudische Psychiater Taleb Al Abdulmohsen, ein bekennender Apostat, erklärt im Interview mit der FAZ, warum und wie er Frauen hilft, ihren Überwachern zu entkommen: "Bis vor wenigen Jahren wusste kaum jemand in der saudi-arabischen Zivilbevölkerung, dass es einen Weg zur Freiheit gibt: Asyl. Ich bin der Erste, der den saudi-arabischen Asylinteressierten Informationen zur Verfügung gestellt hat, erst auf Twitter, dann per Telegram und auf 'We are Saudis'. Das Visum für Australien ist besonders einfach und schnell zu beantragen. Ich habe es selbst für einige Frauen online ausgefüllt. Deswegen sind vor drei Jahren die meisten Frauen nach Australien geflüchtet, mittlerweile beantragen sie in fast allen sicheren Ländern Asyl, in Deutschland, Kanada, Irland, Frankreich, Schweden, Norwegen, Holland oder der Schweiz."
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Internet

Hartmut Gieselmann plädiert bei heise.de unter Bezug auf den Medienwissenschaftler Leonhard Dobusch für öffentlich-rechtliche soziale Medien. Und sie sollten mit "Rundfunkräten" aus Kirche, Gewerkschaften et cetera operieren: "Die Gremien sollten jedoch nicht direkt über Inhalte entscheiden, sondern darüber, wie Algorithmen Beiträge künftig einstufen und verbreiten. In Zusammenarbeit mit Soziologen müsste an Stelle der Likes und Follower ein neues Bewertungssystem entstehen, das nicht auf Aufmerksamkeits- und Profitmaximierung ausgerichtet ist, sondern konstruktive Beiträge nach oben spült und Teilnehmer belohnt, die respektvoll mit ihrem Gegenüber umgehen." Gieselmann erläutert nicht, ob Youtube und Facebook nach dieser Pasteurisierung des Diskurses eingestellt werden sollen oder wie genau sonst der Erfolg dieser Hart-aber-fair-Plattformen gewährleistet werden soll.

Nun sind die größten Zampanos in den sozialen Medien häufig gar keine authentischen Internettrolle, sondern Journalisten traditioneller Medien, die durch deren Reichweite als Person zur Marke werden, wie Jan Fleischhauer in seiner Abschiedskolumne für Spiegel online klarmacht: "Bevor sich allerdings alle, die auf diesen Tag hingefiebert haben, zu sehr freuen, vielleicht ein Wort der Ernüchterung. Ich werde weiter schreiben, ab August nur an einem anderen Ort, nämlich beim Focus. Wer in den sozialen Netzen unterwegs ist, bleibt also auch in Zukunft nicht verschont. So leicht entkommt man einem Kolumnisten nicht, jedenfalls nicht, wenn er über eine ausreichende Zahl an Followern verfügt. Das Internet kann in dieser Hinsicht brutal sein."

"Die Algorithmen werden immer smarter." Einen selten gewordenen fröhlichen Optimismus verbreitet der 22-jährige amerikanische KI-Forscher und -Unternehmer Sam Ginn im Interview mit der NZZ. "Es gibt diese These - dass Maschinen nur im Zusammenspiel mit Menschen gut funktionieren. Das ist letztlich eine metaphysische Frage. Ich persönlich sehe darin eher eine Schutzbehauptung, die die Menschen angesichts der unglaublichen technischen Fortschritte beruhigen soll. In absehbarer Zeit werden Maschinen viele Aufgaben erledigen, die heute Menschen wahrnehmen: Auto fahren, Texte schreiben, Alltagsprobleme lösen."
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Medien

"Twitter ist ein Ort für Furor, nicht für die Debatte", schrieb der Karikaturist Patrick Chappatte in seinem Blog, nachdem er erfuhr, dass die New York Times entschieden hat, keine Karikaturen mehr zu drucken und auch seinen Vertrag zu kündigen. Auslöser war wohl eine als antisemitisch kritisierte Zeichnung seines Kollegen António Moreira Antunes. Aber nun fühlt sich Chappatte als einer, der "seinen Job wegen der Zeichnung eines anderen verloren hat", wie er im Gespräch mit Peter Weißenburger von der taz sagt. Er wirft der New York Times vor, einem Shitstorm in den sozialen Medien nachgegeben zu haben.

Im Gespräch mit Weißenburger nuanciert Chappatte seine Meinung: "Dieselben sozialen Medien, die ich eben angeprangert habe, sind ein Empowerment für politische Zeichner. Es ist paradox. Cartoons waren noch nie so sichtbar. Sie sind dort die ideale Darstellungsform. Das Netz ist gleichermaßen ein Fluch und eine Chance für uns. Nur: Letztes Jahr hat die Süddeutsche Zeitung die Zusammenarbeit mit dem Zeichner Dieter Hanitzsch beendet, sehr plötzlich und rasch, wegen einer Netanjahu-Karikatur, die ich persönlich nicht für antisemitisch halte. Ich kritisiere die Haltung der Redaktionen, die nicht bereit sind, sich dem Mob entgegenzustellen."

Im Guardian erinnert der Karikaturist Martin Rowson an den Fall Jayson Blair, dessen Reportagen für die New York Times sich im Jahr 2003 als Fälschungen herausstellten: "Es ist immerhin festzustellen, dass die Zeitungen nicht ihre Zusammenarbeit mit Reportern einstellte, um ihren Ruf wiederherzustellen."
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